Die Rose lebt weiter

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Nach diesen Worten war alles auf einmal wieder so vertraut und harmonisch, als ob es nie Streit gegeben hätte und wir mussten los, damit wir nicht zu spät kamen.

Vor Lehrgangsbeginn wurden uns die Zimmer zugewiesen. Beide waren wir auf einer Etage, aber jeder an einer anderen Ecke. In der Mittagspause wurden wir gefragt, ob wir Lust hätten, abends gemeinsam etwas zu unternehmen. Ich antwortete gar nicht und überließ es Jens. Er lehnte dankend ab. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich wollte Jens für mich alleine haben, ganz alleine, ohne Angst, dass jemand kommt oder uns die Zeit wegläuft. Wir standen auf dem Hof und schauten uns an. Ich sagte: „Dann werde ich mal meine Tasche in mein Zimmer bringen, und mit Holger muss ich auch noch telefonieren.“

Aber wir kamen nur bis in Jens’ Zimmer. Dies war der Moment des unkontrollierten Alleinseins, auf den wir so sehnsüchtig gewartet hatten. Wir mussten uns nicht verstecken oder auf die Uhr schauen. Aber es war alles so neu und anders. Dennoch war es vertraut, als ob jeder den anderen schon jahrelang vom Kopf bis in die Zehenspitze kannte. Wir überlegten, ob wir essen fahren oder es ausfallen ließen und entschieden uns, auch dieses gemeinsame Erlebnis genießen zu wollen. Es würde das erste und letzte Mal sein. Doch ich bekam wieder keinen Bissen runter. Mir ging die Zukunft durch den Kopf, dieser Abschied kam mir vor wie zu sterben. Uns liefen die Tränen, vor den anderen Gästen, mitten in diesem Raum.

Dann gingen wir in mein Zimmer. Kaum fiel die Tür hinter uns ins Schloss, klebten wir aneinander. So verbrachten wir die nächsten Stunden. Wir waren so vertraut, keiner wollte den anderen loslassen. Die ganze Aufregung und Erschöpfung der letzten Tage machte sich nun bemerkbar und wir schliefen schnell ein. – Gegen Mitternacht sah ich, dass mein Handy leuchtete. Ich hatte es lautlos gestellt und vergessen zu aktivieren. Mit Holger hatte ich gesprochen und mich bis zum nächsten Tag verabschiedet, also hätte er nicht anrufen müssen. Aber er war es. Mein Herz schlug bis in den Hals, ich wollte nicht rangehen. Er versuchte es immer wieder und ich wurde immer aufgeregter. „Er steht bestimmt vor der Tür, er weiß alles, er sucht mich“, jammerte ich. Jens forderte mich auf: „Geh ran, er ist zu Hause, wo soll er dich denn suchen?“

Da nahm ich das Gespräch an. Er war so wütend, fragte, wo ich sei. Ich sagte, ich hätte schon geschlafen und vergessen das Handy laut zu stellen. Er glaubte mir nicht, billigte es aber schließlich. Ich fragte, was denn los wäre. Meine Eltern würden später aus dem Urlaub kommen, weil das Flugzeug defekt sei. Er sagte noch, dass er Angst um mich gehabt habe und ich ihm das nie mehr antun sollte, er wäre zu mir gekommen, wenn er gewusst hätte, wo ich wäre. Aber er kenne ja die Adresse nicht. Warum eigentlich nicht? Ich konnte ihm nichts darauf erwidern und wünschte ihm gute Nacht. Er polterte: „Soll das ein Hohn sein? Ich konnte bisher nicht schlafen und werde auch jetzt vor Aufregung kein Auge zumachen. Danke, was du mir angetan hast.“

Ich war so niedergeschlagen und hatte große Schuldgefühle. Dann piepte Jens’ Handy. Es war eine SMS von Sonja:

„Hallo Jens! Warum meldest du dich nicht wie versprochen?“

Jens meinte, er hätte für diesen, unseren Tag ihr nichts versprochen. Wahrscheinlich machte sie ähnliche Qualen durch wie Holger, nur mit dem Unterschied, dass Holger ahnungslos war. Da es unser Abschied war, nahm ich mir vor, mit Holger ins Reine zu kommen. Ich würde es schaffen, nur wie, wusste ich nicht.

Die Lehrgangsstunden quälten sich dahin, ich konnte und wollte nicht zuhören. Als das Seminar endlich zu Ende war, fuhren wir gedrückt nach Hause. Ohne viel zu reden verkroch ich mich gleich hinter der Hausarbeit. Holger machte mir keine Vorwürfe mehr und es war gut, dass die Kinder da waren und ich unangenehmen Gesprächen entging. Beim Abendessen zwang ich mich, ein paar Bissen runterzukriegen und kämpfte gegen die Tränen. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Den Abend verkürzte ich mit der Begründung, dass ich müde sei. Es war ja auch so, Schlaf hatte es so gut wie keinen gegeben, die Ereignisse hatten sich überschlagen, ich fühlte mich wie ausgelaugt. Ich war froh, allein im Bett zu liegen und weinte mich in den Schlaf.

Am Montag war die Nacht wie immer um vier zu Ende, ich fühlte mich immer noch zerschlagen und abgespannt. Ich wusste, dass Jens später als sonst kommen würde, weil Sonja ihn zu einer Aussprache aufgefordert hatte. Es hätte mir egal sein sollen, ich hatte schließlich vorige Woche den „Abschied“ angekündigt. Aber es tat doch weh, dass er auf zwei Hochzeiten tanzte. Obwohl ich dies ja mittlerweile selbst tat. Als er endlich zum Guten-Morgen-Wunsch erschien, sah er gequält aus. Er sagte, dass Sonja ihm sehr böse sei, weil er trotzdem den Lehrgang besucht hatte. Er habe ihr versprechen müssen, die Finger von mir zu lassen. „Warum steht er hier wie ein kleiner Junge? Warum lässt er mich nicht in Ruhe? Warum greife ich nach jedem Strohhalm? Warum ertrage ich diese Demütigungen? Ich kann doch sonst so gut in meinem Leben alles ordnen und einen Rundumschlag machen, damit es weitergeht! Warum nicht jetzt und hier?“

Am nächsten Tag rief Jens mich an, ob ich nicht mal zu ihm kommen könne, also zwei Türen weiter. Sonja wolle mit mir reden wegen der Arbeitsstelle. Widerwillig betrat ich das Büro. Bei dem Gespräch war Sonja aufgeregt, wie ich sie noch nie erlebt hatte, ihr Hals war rot angelaufen. Jens saß hilflos da wie ein begossener Pudel. Er ließ sie reden. Sie gab mir zu verstehen, dass aufgrund der Beziehung zwischen ihr und Jens es nicht gut wäre, wenn ich ihre Chefin würde. Zu meiner Beruhigung ließ sie mich wissen, dass sie die Stelle ablehnen würde. Selbstverständlich mit einer anderen Begründung. Sie erklärte mir, dass sie zu Jens gehöre und er ließ es geschehen. Ich hätte ihm am liebsten ins Gesicht geschrien, für wen er welche Gefühle hege? Aber ich hörte nur zu und wollte aus diesem verdammten Zimmer wieder raus. Dieser feige Kerl, lässt sich einlullen und ich gehe daran kaputt. Ich verließ deprimiert und wütend sein Zimmer. Danach gingen wir uns mehrere Tage aus dem Weg.

Nun beschäftigte mich unsere neue Struktur. Wir mussten uns entscheiden, ob wir die Arbeitsstelle wechseln wollten und in welchen Ort. Von den Arbeitsaufgaben her war es klar, dass Jens und ich die gleiche Stelle angeben mussten. Darüber hatten wir schon oft gesprochen. Aber es war uns auch klar, dass es, wenn wir weiter Büro an Büro sitzen würden und verstritten wären, nicht gut gehen konnte. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich für den näheren Arbeitsort zu entscheiden. Meine Familie wusste das schon lange, ich hätte keine Begründung gefunden, es auf einmal nicht mehr zu tun. Aber Jens’ Arbeitsweg würde länger werden. Er fragte mich um Rat. Wir diskutierten lange und auch sehr vernünftig. Unsere jetzige Arbeit machte uns beiden Spaß. Wenn wir den Antrag nicht abgaben, müssten wir vielleicht Arbeiten erledigen, die uns nicht lagen. Sonja würde sicherlich nicht zwangsversetzt werden. Wir redeten über alle Eventualitäten, bis wir letztendlich für die fachliche Entscheidungsfindung unseren früheren Chef fragten, der die Strukturänderung betreute. Er gab uns den Rat: „Das Personal geht mit seinen Aufgaben. Was gibt es groß zu überlegen, folgen Sie Ihren Aufgaben, wenn Ihnen Ihre Arbeit Spaß macht.“

Daraufhin gaben wir beide unseren Wunschort ab und würden wahrscheinlich weiterhin eng zusammensitzen. In diesem Moment fühlte ich mich mit Jens wieder verbunden, freute mich, ihn vielleicht doch nicht verlieren zu müssen, obwohl noch nicht die letzte Entscheidung gefallen war. Es ging vorerst nur um Anträge, die konkreten Personalentscheidungen dauerten noch mindesten ein halbes Jahr.

So wie wir zum Lehrgang unseren Abschied und Abstand besiegelt hatten, kam es natürlich nicht. Wir redeten und gingen sehr einfühlsam miteinander um. Körperliche Nähe gab es allerdings nicht mehr, wie vereinbart. Aber jeder versuchte, mit dem belanglosesten Grund den anderen in ein Gespräch zu verwickeln, um in seiner Nähe sein zu können. Es war trotzdem zermürbend und ich fühlte mich immer noch wie auf dem Pulverfass.

Zu Hause zog ich mich noch mehr zurück, aber Holger merkte es immer noch nicht. Ich konnte nicht mehr schlafen und mein Herz raste ständig. Als Holger an einer Konstruktion für das neue Küchenradio bastelte, krochen wieder Schuldgefühle in mir hoch. Er bemühte sich mit allem so sehr und ich war mit Geist und Seele völlig woanders. Er tat mir leid. Aber Stunden später konnte ich das Mitleid schon wieder abschütteln. Holger lag auf der Couch und hatte in der Zeit, in der ich Kuchen gebacken und die Bügelwäsche erledigt hatte, eine ganze Flasche Kräuterlikör geleert. Er hielt sich nicht für einen Trinker, hatte strenge Prinzipien: Null-Promille beim Autofahren und auch an den Wochentagen keinen Tropfen Alkohol. Aber wenn die Zeit es zuließ, war eine Flasche Schnaps ziemlich schnell leer. Das hasste ich wie die Pest. Es war ihm nicht möglich, gemeinsam mal ein Glas Wein zu trinken. Aber mittlerweile war ich froh, dass es so lief. Ich konnte zu ihm Abstand halten und fand für mich eine Entschuldigung, dass ich Jens nicht aus meinem Herzen bekam.

Es standen viele Termine an, zu denen ich „Friede, Freude, Eierkuchen“ spielen musste. So fuhren wir mit Roberto und Karin zum ABBA-Konzert. Es fand in einer Mehrzweckhalle statt, 40 Kilometer entfernt. Obwohl ich die Musik mochte und die Sänger es gut nachahmten, empfand ich diese Stunden als Qual. Viele Titel brachte ich mit früheren Zeiten in Erinnerung und die Tränen kullerten. Ich war todmüde, hatte schlecht geschlafen, dazu die harten Stühle, die vielen Menschen und die Musik, die ich als viel zu laut empfand, das alles vermieste mir den Abend. Diese Nacht war nun noch kürzer als sonst, ich versuchte, das Erlebnis aus meinem Gedächtnis schnell zu streichen.

 

Zu Hause spielte sich immer mehr Routine ein. Die Woche über gingen wir uns aus dem Weg und versteckten uns hinter Erschöpftheit von der Arbeit und an den Wochenenden hatten wir „Besuch“, denn regelmäßig kam mein Großer dann mit seiner Freundin zu uns. Ich „bediente“ und versorgte die Familie und für alle war es selbstverständlich, dass es so ablief. Einerseits freute ich mich für ihn, dass er nicht mehr alleine war. Andererseits fiel es mir schwer, jedes Wochenende zu „funktionieren“. Jana hatte ihre Eltern zwar ganz in unserer Nähe, aber dort war es angeblich nicht möglich, länger zu bleiben. Also konzentrierten sich die Mahlzeiten, die Übernachtung, die Wäsche und so was auf uns. Sicher war ich nicht ganz unschuldig daran, dass meinen Kindern das „Hotel Mama“ so gut gefiel, aber diese Verpflichtungen wurden mir allmählich zur Last, weil sie eben so regelmäßig und selbstverständlich geworden waren. Ich lebte ihnen eine perfekte Familie vor und alle waren glücklich, aber es gab keine Freiräume mehr, alles musste jedes Wochenende durchorganisiert sein, weil man ja die Woche über auch keine Zeit hatte, sich um Haus und Hof zu kümmern. Die Wochenenden bestanden aus kochen, waschen, sauber machen, Gartenarbeit und dann schnell noch irgendeine Fete oder ein Tanzabend mit Freunden, obwohl man eigentlich total fertig war. Nach außen sah es ganz wunderbar aus, wie wir das alles so auf die Reihe bekamen, aber ich fühlte mich ausgebrannt. Holger gab es selten zu, obwohl er seine Kinder noch mehr bediente als ich. Ich rutschte immer mehr in die Zwickmühle. Wenn meine Ehe tatsächlich nicht mehr zu retten war, wie sollte ich das meinen Kindern erklären? Sie sahen doch gar keine Schattenseiten! Im Moment kam mir das zwar zugute, ich versteckte mich hinter der Arbeit, aber andererseits wurde der Abstand zu Holger immer größer. Doch ich war viel zu sehr mit meiner verzweifelten Lage beschäftigt, als darüber nachdenken zu können. Ich ließ es einfach geschehen.

Sonja war nun krankgeschrieben und Jens wirkte irgendwie lockerer und offener. Ich wusste, dass er fast täglich mit ihr telefonierte und auch, wann er das tat. Jedes Mal schnürte es mir die Kehle zu, bis es vorbei war. Wir nutzten aber natürlich ihre Abwesenheit, um uns wieder zu nähern. Wir organisierten ein paar Überstunden, um für uns allein sein zu können. Wir genossen die Zweisamkeit und jeder offenbarte dem anderen, dass seine über Wochen unerfüllte Sehnsucht nun endlich gestillt würde. Das waren die Augenblicke, in denen ich Schuldgefühle, Eifersucht, Angst vor der Zukunft einfach vergessen konnte. Es war wie ein „Auftanken“ für die nächsten Katastrophen, die ja vorhersehbar waren. Ich nahm das Risiko in Kauf erwischt zu werden und erhielt dafür Augenblicke der Zweisamkeit und das Gefühl, dass jemand mich auffängt aus einem scheinbar unlösbaren Zustand.

Wir freuten uns auf die bevorstehende Weihnachtsfeier, nicht wegen der Kollegen, sondern weil wir uns entfernen wollten, um eine Stunde zusammen zu sein. Wir wussten, dass wir in dieser Zeit nur im Auto sitzen konnten, denn draußen war es bitterkalt. Die Feier begann mit Bowling und ich versuchte lustig zu sein, wie man mich halt kannte, hatte aber ständig Jens im Blick. Beide warteten wir nur darauf, dass es endlich vorbei war. Beim Abendessen saßen wir uns schräg gegenüber, die Zeit verging einfach nicht. Einige Kollegen tranken, weil sie nicht mit dem Auto da waren, und es wurde lustiger und lauter. Jens war der erste, der bezahlte. Nun musste ich eine viertel Stunde warten, so war es vereinbart. Ob jemand was ahnte und wir uns nur einbildeten, unentdeckt ein „Verhältnis“ zu haben, überlegte ich nicht, es war mir derzeit alles egal. Als ich draußen war, rief ich ihn an, damit er mir den Weg beschrieb, wo ich hinkommen sollte.

Dann saßen wir endlich in seinem Auto. Er musste den Motor laufen lassen, denn es war bitterkalt. Im Radio liefen die herrlichsten Liebeslieder, traurig und schön. Uns kamen automatisch Tränen. Diese Stunde, die wir für uns allein hatten, verging viel zu schnell. Wir benahmen uns wie unerfahrene Teenager und jeder hatte Angst, etwas falsch zu machen. Wir wussten nicht, wie es mit uns weiter gehen würde, waren aber so froh darüber, den anderen bei sich zu haben. Dieses Mal lag nicht nur ein einsames Wochenende vor uns, wir würden uns auch am Montag nicht sehen können, denn ich musste zu einer Schulung. Wir besprachen, wie und wann wir miteinander telefonieren könnten. Es fiel mir dann so schwer, nach Hause zu fahren und ich weinte bis fast vor die Haustür. Holger lag schon im Bett und ich war froh, dass er mich nur im Dunkeln zu sehen bekam. Er fragte, ob alle solange wie ich da gewesen wären, denn es wäre schon mächtig spät. Ich war so selten alleine weg und immer machte er mir Vorwürfe, wenn es später wurde, obwohl ich weit vor Mitternacht zu Hause war. Für mich begann eine weitere Nacht voller Grübeleien.

Im Dezember standen auch Familienfeiern an. Erst war mein Kleiner dran, er wurde 17, dann kam der runde Geburtstag meines Vaters, der 70. Ich hatte dafür eine kleine Show organisiert. Ein Ehepaar, das auf lustige Art die Sängerin Andrea Berg nachstellte. Da Holger bei diesen Titeln besonders gern tanzte, tat ich ihm immer öfter den Gefallen und tanzte mit ihm. Holger hatte schon seit längerer Zeit den Hang zur Volksmusik entdeckt. Er drehte dann immer die Lautstärke auf und freute sich, wenn mir das auf den Wecker fiel. Aber dann hörte ich Andrea Berg und später auch Helene Fischer und fand, dass sie besser sangen. Sogar mein Kleiner tanzte gern dazu. Aber auch „Schwarze Rose“, den Sänger kannte ich nicht einmal, fand mein Kind ganz toll und ich konnte mit ihm zu diesem Titel besonders gut tanzen. Holger war froh, dass ich auch mal einen deutschen Titel gut fand. Deshalb wurde „Schwarze Rose“ fast zum Familien-Klassiker. Zum Geburtstag war nun das „Andrea-Berg-Double“ bestellt als Geburtstagsgeschenk, weil mir absolut nichts Besseres eingefallen war. Ich hatte bei der Musik mit den Tränen zu kämpfen, weil mich mittlerweile die Textinhalte immer mehr berührten und ich das raushörte, was für mich zutraf. Alle meine Gedanken waren nur bei Jens und ich sorgte mich, wie das alles einmal enden würde.

Am Vorabend des Heiligabends wollte ich Jens anrufen. Ich grübelte, wie ich es wohl hinkriegen könnte. Dann erledigte es sich fast von ganz allein. Wider Erwarten war Holger müde und ging schon um acht zu Bett. Die Kinder schauten Fernsehen und ich verzog mich in den Keller an den Computer mit der Begründung, Bilder zu sortieren. Gegen neun Uhr kam der heiß ersehnte Anruf zustande. Es war laut im Hintergrund, Jens feierte in einer Kneipe. Die Situation war angespannt, wir wussten uns nicht viel zu sagen. Nach einer Weile erklärte Jens, dass sein Essen kalt werden würde. Damit fand das Gespräch ein jähes Ende. Ich war enttäuscht und fühlte mich ausgebrannt. Nun hieß es, die nächsten Tage zu überstehen.

Heiligabend feiern wir gewöhnlich mit den Eltern und Schwiegereltern. So auch dieses Jahr. Meine Schwiegermutter war nun das zweite Mal nicht mehr dabei, aber sonst verlief alles genauso wie bisher. Erst gab es Abendessen, dann kam der Weihnachtsmann. Die Kinder bekamen dieses Mal „Kultur“ geschenkt, genau zu meinem Geburtstag fand ein Musical statt. Mein Geburtstag fiel mit Ostern zusammen und Bettina und Mario wollten kommen und mit uns auch zu der Show fahren. Also hatte ich insgesamt sieben Karten besorgt. Damit stand auch schon der nächste Termin des trauten Familienglücks fest, mein Drang, für „das Wohl der Familie zu funktionieren“, zwang mich, still zu sein und mir nichts anmerken zu lassen.

Am ersten Feiertag war es mittlerweile zum Ritus geworden, mittags in gleicher Runde in immer derselben asiatischen Gaststätte zu essen. Wenn der Gaststättenbesuch beendet war, fanden auch die Weihnachtsverpflichtungen meist ein Ende. Die Kinder beschäftigten sich mit sich selbst oder mit Freunden und wir gingen zum Weihnachtstanz mit unserem Freunden oder sie kamen auf Besuch. So war es auch dieses Jahr. Weil immer Trubel um uns rum herrschte, vermisste keiner die Zweisamkeit, das kam mir dieses Jahr zugute.

Auf unserer Tanzveranstaltung war auch deutsche Musik zu hören. Als „Schwarze Rose“ kam, wollte Holger mit mir tanzen. Er wusste, dass es mir gefiel. Anfänglich konzentrierte ich mich auf den Rhythmus, erst später wurde mir der Text bewusst. Den Interpreten kannte ich sowieso nicht und es war schwierig den Text zu verstehen. Es klang so ähnlich wie:

Schwarze Rose,

der Wunsch, dich zu berühren,

an dich mich zu verlieren,

das wär’ für mich nicht gut.

Schwarze Rose,

dein Duft ist so begehrlich,

doch Dornen sind gefährlich

und trotzdem tun sie gut.

Früher interessierten mich die Texte kaum, seit es Jens gab, war alles anders. Ich interpretierte es so, wie es für mich zum jeweiligen Zeitpunkt am besten zutraf. Bei diesem Lied war ich hin und her gerissen. Holger tanzte es zwar gern, aber der Inhalt traf auf Jens und mich so zu, dass man es besser nicht hätte sagen können. Gerade dieser Titel war das perfekteste Tanzlied, das ich jemals vermochte zu tanzen. Ich musste mich beim Tanzen so zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen.

Nach den Feiertagen kehrte zu Hause wieder der Alltag ein. Ich verkroch mich und versteckte mich in der Arbeit. Außerdem ging ich jetzt regelmäßig zum Schwimmen, jeden Sonntagnachmittag, da waren die wenigsten Leute im Bad. Ich spornte mich an und schwamm immer mehr Bahnen, bis ich bei 50 angelangt war. Mehr war in einer Stunde nicht zu schaffen. Ich setzte mir verbissen dieses Ziel und strengte mich an. Es machte mich zufrieden, wenn ich es schaffte, als würde ich einem innerlichen Erfolgswahn unterliegen.

Holger kam zwar mit, klemmte aber meistens am Beckenrand und wenn Roland mit war, quatschen sie miteinander. Aber Roland verlor bald die Lust, da kam Marion ohne ihn mit, später gingen wir nur noch alleine schwimmen.

Jens’ Urlaub war vorbei, wir gingen wieder sehr vorsichtig und liebevoll miteinander um. Nach der Arbeit hatte ich einen Frisörtermin und auf dem Nachhauseweg hielt ich auf einem Parkplatz an, um mit ihm zu telefonieren. Dieses Mal würde es nicht auffallen, wenn ich etwas später zu Hause war, denn Wartezeiten beim Frisör kann man nicht vorhersagen. Jens saß in seinem Wohnzimmer, Petra war zum Sport. Er erklärte mir, dass er gerade seine Versicherungsunterlagen bereinige. Ich verstand nicht. „Martina, begreifst du nicht? Ich schließe mein bisheriges Leben ab. Ich werde übermorgen zu Sonja fahren und ihr sagen, dass Schluss ist. Morgen habe ich leider keine Zeit dafür. Ich kann so nicht weitermachen. Ich sehe, wie du daran kaputt gehst, das ertrage ich nicht länger. Ich liebe dich, das muss ich mir endlich eingestehen. Du hast von mir eine Entscheidung verlangt und ich habe mich jetzt entschieden. Wir kommen nicht mehr voneinander los. Wie es hier zu Hause weitergeht, weiß ich noch nicht. Jetzt muss ich erst mal die eine Sache bereinigen, dann kommt der nächste Schritt.“

Ich war sprachlos. Mit solch einer Entscheidung hatte ich nie gerechnet und schon gar nicht so aus heiterem Himmel. Jens sprach das erste Mal die Worte „ICH LIEBE DICH“ aus, niemand hatte das vorher gewagt. Alles war mit einem Schlag anders. Ich konnte es noch nicht richtig glauben, es war ja ein ewiges Auf und Ab mit unseren Entscheidungen. Ich konnte mich auch nicht freuen, es würden ja nun neue Probleme auf uns zukommen. Ich rechnete ihm allerdings hoch an, dass er den Mut gefasst hatte, sich zu entscheiden. Alles was ich ihm bisher an den Kopf geknallt hatte, seine Feigheit, sein Umworben-sein-wollen, war nun hinfällig. Ob er es wirklich durchziehen würde? Skeptisch sagte ich: „Jens, du wirst wieder umkippen. Sonja wird deine Entscheidung nicht akzeptieren und du wirst nachgeben.“ Jens seine Enttäuschung war nicht zu überhören: „Nein, Martina, ich dachte, du kennst mich mittlerweile. Ich brauche sehr lange für eine Entscheidung, das ist richtig. Aber wenn ich sie getroffen habe, gibt es kein Zurück mehr. Schade, dass du mir so wenig zutraust. Seit Monaten beschäftige ich mich mit unserer Zukunft. Ich wollte deine Ehe nicht zerstören, habe gehofft, du kriegst das wieder hin, indem ich mich von dir abwende. Aber wir haben es beide nicht geschafft, einander loszulassen.“

Ich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Aber es gelang mir nicht. Zu Hause wurde ich noch nicht vermisst und so ließ ich mir Zeit. Ich zweifelte immer noch an Jens’ Worten. Ich sehnte mich nach dem nächsten Tag und hatte noch tausend Fragen im Kopf, die ich ihm stellen wollte.

 

Dann war es so weit, Jens und ich sprachen das erste Mal über unsere Zukunft. Was würde morgen bei Sonja passieren? Kratzte sie ihm die Augen aus? Würde sie es Petra petzen? Wahrscheinlich nicht, dann könnte ihre eigene Ehe auch Schaden nehmen. Und wenn Sonja wieder Arbeiten kommt? Wie ging es mit uns weiter? Jeder hatte eine Nacht Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Folgende Vereinbarung kam nun zustande: Wir würden es langsam angehen. Auf Arbeit gaben wir uns nicht zu erkennen und auch zu Hause noch nicht. Jens führte als Grund dafür seine Tochter an. Sie beendete im Sommer ihre Lehre, er wolle sie bis dahin nicht belasten. Bei mir gab es gleich mehrere Gründe, die Trennung von Holger hinauszuzögern. Auch mein Kleiner sollte das Schuljahr erst beenden. Holger wurde dieses Jahr 50. Die Feierlichkeiten waren schon organisiert, er sollte noch einen schönen Geburtstag haben. Auch war eine Mallorca-Reise mit unseren Freunden schon lange gebucht. Genau zu seinem Geburtstag würden wir kurz vor Mitternacht wieder landen.

Ein weiterer Termin stand bereits fest: Anett und Bernd wollten ihre Silberhochzeit feiern. Sie hatten mich gebeten, mich um alles kümmern. Ich wollte sie nicht hängenlassen. Bis dahin waren es reichlich vier Monate und bis zum Ende der Schuljahre unserer Kinder noch sechs. Das bedeutete, wir gaben unserer Beziehung noch ein halbes Jahr Zeit bis zum nächsten Schritt!

Über diesen Zeitaufschub war ich froh. Obwohl es auch noch andere Termine gab, die ich aber ignorierte. Roberto wollte mit uns im Juni verreisen, auch das war schon gebucht. Den Sommerurlaub im September hatte Bettina festgemacht, nach Griechenland, das erste Mal ohne Kinder. Alle diese Planungen hatte ich einfach über mich ergehen lassen. Ob und wie diese Termine durchgeführt wurden, war mir nun egal. Für mich zählten der Geburtstag, die Silberhochzeit und das Ende der elften Klasse. Alles andere würde sich ergeben. So verdrängte ich erst einmal das Ganze.

Aber die Grübelei wurde stärker, jetzt wurde es ernst, was meine Ehe anging. Nun war ich am Zuge. Aber wie? Ich sah Holger vor mir und wusste, dass er ohne mich nicht zurechtkommen würde, ich hatte keinen Überblick über die finanziellen Auswirkungen und was mit meinen Kindern wird. Aber ich wusste eins: Wenn ich ihn verlasse, soll es ihm wenigstens wirtschaftlich gut gehen. Für mich würde es einfacher sein, bei Null wieder anzufangen, der Verzicht auf Wohlstand wäre das Mindeste, was ich für ihn tun konnte.

Dann stand das Treffen von Jens und Sonja auf der Tagesordnung. Ob danach wieder alles anders kam …? Als er zurück war, schien er erleichtert, aber auch erschöpft. Er sagte, dass es ihr den Boden unter den Füßen weggezogen hätte, aber sie habe ihm nicht die Augen ausgekratzt. Sie tat mir wieder etwas leid, aber ich war stolz auf Jens, dass er es durchgezogen hatte. Er hatte es für uns getan. Er liebte mich anscheinend wirklich. Mittlerweile wurde mir immer mehr bewusst, dass Jens nicht mehr umkippen würde. Ich konnte es noch gar nicht glauben.

Jetzt hatte ich Jens für mich. Nachdem ich die vergangenen Monate um ihn gekämpft hatte, war ich nun Sieger. War es das, was ich gewollt hatte? Hatte ich jetzt mein Ziel erreicht und würde feststellen, dass es gar keine Liebe gewesen war, sondern es nur ein Besitzdrang? Ich fürchtete mich vor der Antwort, die ich in diesem Moment noch nicht kannte. Doch in den nächsten Wochen würde ich spüren, ob die Sehnsucht und die Glücksgefühle blieben oder ob auf einmal alles anders wurde. Es war alles noch zu frisch und überwältigend, um darüber nachdenken zu können.

Es begann eine neue Phase meiner Untreue. Jens besorgte mir ein zusätzliches Handy, welches ich im Haus versteckte. Ich wurde unvorsichtiger, fühlte mich mit dieser Art der Verbindung sicherer. Auf einmal gab es Pläne, es war noch unfairer, dem Partner gegenüber so scheinheilig zu tun. Aber ich wusste keine andere Möglichkeit. Bevor ich mir nicht sicher war, welche Vorschläge ich Holger unterbreiten konnte, wollte ich weiter schauspielern. Das fiel mir ungeheuer schwer, weil es für mich so untypisch war und gegen meine Prinzipien verstieß. So begann also mein „professionelles Fremdgehen“. Plötzlich gingen Jens und ich ganz anders miteinander um. Wir fühlten uns freier, wurden auch unvorsichtiger und nutzten jede Möglichkeit, uns zu treffen.

Jens wollte am kommenden Wochenende zum Geburtstag seiner Tante fahren, zur Familienfeier. Sie wohnte im gleichen Ort und sogar im selben Viertel wie meine Freundin Martina. Als ich es ihr erzählte, fragte sie, ob Jens nicht bei ihr vorbeikommen könne, denn sie habe noch ein Buch für mich. Sie war also neugierig auf Jens? Martina war die einzige Eingeweihte, sie wusste alles von mir. Jens erzählte ich von diesem Gespräch und er war von dieser Idee sofort begeistert. Natürlich wollte er Martina kennenlernen, es wäre kein Problem, sich bei der Feier kurz abzumelden. Ich merkte, dass er schon eine Bindung zu Martina aufgebaut hatte, obwohl er sie noch gar nicht kannte, dass sie sich zu unserer gemeinsamen Bezugsperson entwickelte in diesem Drama. Also vermittelte ich beiden diesen Samstagnachmittagtermin und war glücklich über das bevorstehende Ereignis. Jens fieberte dem Samstag entgegen und ich wartete zu Hause auf eine SMS von ihm. Er schrieb mir, dass es ein angenehmes Gespräch gewesen sei. Ich war überglücklich. Auch Martina erzählte mir beim nächsten Telefonat, dass sie einen guten Eindruck von Jens erhalten hätte und dass ich ihm sehr wichtig sei. Nun war sie noch mehr involviert und es fiel ihr auch nicht leicht damit, weil sie Holger ebenfalls mochte.

Zu Hause wurde es kühler. Holger ahnte wohl, dass etwas nicht stimmte. Am Wochenende, als alle im Wohnzimmer saßen, verkroch ich mich abends ins Schlafzimmer und sortierte die Sachen im Schrank. Holger suchte mich auf und fragte mich, was mit mir los wäre. Ich wich ihm aus, er wurde wütend, schmiss mich aufs Bett und schrie mich an, dass ich mich gefälligst ändern solle, da sonst etwas passiere. Er wollte wissen: „Oder hast du einen anderen? Sag es mir!“

Das war doch die Chance, endlich die Lügerei zu beenden. Mein Herz raste. In meinem Gehirn war alles durcheinander. Was würde geschehen, wenn ich es jetzt zugab? Seine Wut würde ihn unberechenbar machen. Die Kinder waren zu Hause, nein, ich konnte es nicht eskalieren lassen. In dem Zustand, in dem Holger sich jetzt befand, würde er womöglich alles zusammenschlagen. Ich hörte die Warnung meines Vaters, dass Holger das Haus zusammenschieben würde, wenn ich einen anderen hätte. Also versuchte ich zu schlichten und verneinte seine Vermutung, ich versprach, mein Verhalten zu ändern. Er ließ mich los und ging die Treppe runter. An diesem Wochenende bemühte ich mich sehr um Harmonie, damit er sich beruhigte. Die Kinder hatten Gott sei Dank nichts mitbekommen.

Meine Gefühle zu Jens veränderten sich trotz der neuen Situation nicht. Es war wohl doch Liebe und nicht nur Besitzdrang. Mir wurde immer mehr bewusst, dass ich ohne ihn nicht sein konnte. Am Sonntag hatte Jens Geburtstag, Montag wollten wir „nachfeiern“. Mit einem Überstundenschwindel vertuschte ich zu Hause mein Zusammensein mit Jens. Meine Aktivitäten wurden immer gewagter und gefährlicher und ich wurde Holger gegenüber immer gleichgültiger. Ich kam mir zwar schäbig vor, konnte es aber noch nicht lassen.