Reden straffen statt Zuhörer strafen

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Wer es allen recht machen will, macht was falsch

Stellen Sie sich vor, ein Mann in einem schicken, teuren Anzug geht in einen hippen Snowboardladen – und regt sich dann darüber auf, dass die Ansprache dort nicht so ist, wie er sie von seinem Jaguarhändler gewohnt ist. Wer hat jetzt recht? Oder um es mit Platon zu sagen: „Ich kenne keinen sicheren Weg zum Erfolg, aber einen sicheren Weg zum Misserfolg: Es allen recht machen zu wollen.“ Sie können nicht von allen geliebt werden. Wenn Sie glauben, es immer allen recht machen zu müssen, werden Sie ein unglückliches Leben führen – denn Sie werden versagen.


Versuchen Sie gar nicht erst, es allen recht zu machen.

Wer straffe Reden halten will, stellt sich höchstens die Frage: I Wem würde ich es am liebsten recht machen?

Normal kann ja jeder

Leider tappen viele Menschen gerne in die klassische Falle, in die uns übrigens auch wieder unser Unterbewusstsein schickt: Wir wollen normal sein. Bloß nicht auffallen oder aus der Rolle fallen.5 Die Folge sind dann eben auch „normale“ Reden – im wahrsten Sinne, weil sie nicht von der Norm abweichen. Solche Reden versetzen aber niemanden in Begeisterungsstürme. Im Gegenteil: Sie sind langweilig, weil sie eben nicht gegen die Norm verstoßen! Also trauen vielleicht auch Sie sich nicht, ungewöhnliche Reden zu halten, weil sie damit gegen eine (gedachte) Norm verstoßen. Doch im Gedächtnis bleibt das Ungewöhnliche, Überraschende, Schräge. Daher seien Sie mutig – Ihre Zuhörer werden Ihnen bewusst und auch unbewusst danken!


„Schön, wenn andere tolle Reden halten – aber wenn ich vor ein Publikum gehe, verkrampfe ich total. Ich weiß irgendwie nicht, was man von mir erwartet. Und wie ich in meine Rolle als Redner komme.“

Diese Reaktion hat viel mit der Angst zu tun, es allen recht machen zu wollen, der Norm zu entsprechen. Doch wie sollen die Zuhörer wissen, wer Sie wirklich sind, wenn Sie es nicht zeigen? Und nur das ist für die Zuhörer wirklich entscheidend: Sie wollen Sie näher kennenlernen! Reden straffen ist echte Emotion und damit das Gegenteil von Fassung bewahren: Wer seine wahren Gefühle während seiner Rede zeigt, zeigt sich selbst. Und nur den wollen die Zuhörer sehen!

Beispiel

Die Teilnehmerinnen in meinem Rhetorikseminar für Frauen bereiteten ihre Abschlussrede vor. Eine jammerte leise vor sich hin: „Ich weiß ja gar nicht, ob Sie das überhaupt interessiert, was ich da gleich erzähle …“ Als sie an der Reihe war, begann sie mit den Worten: „Ich habe 15 Kilogramm abgenommen!“ Und dann berichtete sie mit dem Krimitrick von einem Sport, der es ihr ganz einfach gemacht hatte, dieses Ziel zu erreichen, der ihr viele neue Freunde eingebracht hatte, der ihr bis heute Spaß macht. Am Ende verriet sie: „Dieser Sport ist Aquajogging – und ich empfehle Ihnen: Probieren Sie es auch aus!“ Anschließend sehen wir uns alle gemeinsam die Videoaufnahme an. Wieder jammert sie: „Ich weiß immer noch nicht, ob Sie das überhaupt interessiert hat, das ist ja nur mein Hobby.“ Sie erntet Empörung: „Das war total interessant!“ „Ich wollte unbedingt wissen, was Sie für einen Sport machen!“, kurz: Das Feedback ist großartig. Sie hatte ihre Begeisterung für ihr Hobby so anschaulich rübergebracht, weil sie ganz bei sich selbst war: Ihre Augen leuchteten, sie sprühte vor echter Begeisterung. Damit machte sie neugierig und überzeugte. Es kam weniger darauf an, was sie erzählte – es kam darauf an, wie sie es erzählte! Die Teilnehmerin ging mit neuem Selbstbewusstsein nach Hause: Wir hatten ihr erlaubt, sie selbst zu sein!


Straffe Reden erlauben es dem Redner, er selbst sein zu dürfen.

Raus aus der Rolle!

Ein straffer Redner spielt niemals eine Rolle. Wer vor Publikum eine Rolle spielt, spielt Theater. Wer aber eine Rede hält, sollte bei sich selbst bleiben, denn diese „Rolle“ kennt er am besten. Und je echter jemand wirkt, umso lieber gehen die Zuhörer innerlich mit, ja, vertrauen ihm sogar unbewusst: „Wer so viel von sich zeigt, scheint auch sonst ein ehrlicher Mensch zu sein!“


Ein straffer Redner gibt etwas von sich selbst preis, berührt Menschen und schafft Vertrauen. Wer eine Rolle spielt, schottet sich ab.

Wenn Sie einfach nur Sie selbst sind, verbrauchen Sie am wenigsten Energie und sind kaum abgelenkt von Ihrer Aufgabe, Ihre Rede zu halten. Wenn Sie aber eine Rolle spielen, sollten Sie ein gutes Gedächtnis haben: Wann und wo waren Sie genau wer …? Ihre Gesten wirken einstudiert, Ihre Worte vielleicht sogar gestelzt. Fänden Sie selbst einen solchen Redner sympathisch?

Wenn Sie sich nicht verstellen, haben Sie natürlich ein Problem: Es könnte jemanden geben, der Sie nicht so akzeptiert, wie Sie eben sind. Also verstellen Sie sich vielleicht doch wieder, um auch dem letzten zu gefallen?


Reden straffen heißt: Sie können nie alle überzeugen. Was Sie brauchen, sind Mehrheiten.

Schwächen sind erwünscht

Ein Redner, der ganz bei sich selbst ist und keine Rolle spielt, ist ein Unikum und unverwechselbar. Alles andere ist Theater. Das heißt auch, dass Sie zeigen sollten, dass Sie über sich selbst lachen können. Zeigen Sie, dass Sie ein Mensch sind. Stehen Sie zu Ihren Schwächen oder Fehlern.

Beispiel

Fast zweihundert Zuhörerinnen lauschten in dem großen Saal meinem Vortrag. Ich war gut in Fahrt, sprach wie immer frei. Plötzlich erinnern mich meine eigenen Worte an eine Geschichte. Und ich sage auch noch: „Ach, dazu fällt mir gerade eine sehr passende Geschichte ein …“ Und dann – nichts mehr. Sendepause. Blackout. Die Geschichte ist in dem Moment, in dem sie mir in den Kopf gekommen war, auch schon wieder verschwunden. Keine Chance, ich komme einfach nicht mehr drauf, was ich gerade erzählen wollte. Ich schaue mit verblüfftem Gesichtsausdruck in den Saal – und schweige. Da fängt eine Dame in den ersten Reihen schallend an zu lachen, ich erkenne sie: Sie war Teilnehmerin in einem meiner Seminare gewesen. Ich schaue sie an, frage sie: „Was habe ich Ihnen gesagt, was Sie machen sollen, wenn Ihnen bei einer Rede der Faden reißt?“ Sie ruft lachend zurück: „Ich soll sagen, dass mir der Faden gerissen ist!“ Ich sage: „Danke! Das tue ich jetzt auch: Mir ist der Faden gerissen!“ Es folgt fröhliches Gelächter im Saal und Szenenapplaus. Ich orientiere mich neu anhand meiner Redekarten und setze meine Rede kurzerhand an anderer Stelle fort. Noch beim Verabschieden am Ende der Veranstaltung fragten mich einige Zuhörerinnen, ob mir meine Geschichte denn wieder eingefallen sei. Aber sie war immer noch weg, und wir lachten herzlich darüber. Lange Zeit später traf ich einige der Damen wieder, die diesen Vortrag erlebt hatten. Sie lachten wieder fröhlich. „Ach, das fanden wir ganz toll, dass Sie da einen Aussetzer hatten“, sagten sie, „das war so menschlich. Es war beruhigend zu sehen, dass das auch einem Profi passieren kann!“

„Habe keine Angst vor der Perfektion. Du wirst sie nie erreichen“, hat Salvador Dali gesagt. Ein wahrer Satz. Denn Perfektion erzeugt Aggression. Fehler machen uns zu Menschen. Und an Menschen erinnern wir uns am liebsten.

Meistens kommt es anders …

Gehen Sie niemals davon aus, dass Sie Ihre Rede so halten werden, wie Sie sie vorab geplant haben. Es wird immer ein bisschen anders kommen, Sie werden Sätze anders formulieren, Aussagen vergessen oder anders sprechen als vorher ausgedacht.

Das macht nichts. Denn die einzige Person, die das weiß, sind Sie selbst. Ihre Zuhörer wissen nicht, was Sie eigentlich sagen wollten. Wenn Sie also nach Ihrer Rede unzufrieden sind, dann liegt das ausschließlich an der Perfektionsfalle in Ihrem eigenen Kopf. Die Zuhörer hören nur das, was sie hören. Und das sind für sie hundert Prozent. Ihre gewünschten hundert Prozent sind ein Traum. Und wie das mit Träumen immer so ist: Sie lassen sich schwer einfangen. Also setzen Sie sich nicht unnötig unter Druck: Perfektion ist nicht das Ziel. Menschlichkeit sollte Ihr Ziel als straffer Redner sein!


Reden straffen ist das Gegenteil von Perfektion:

Improvisation und Fehler wirken menschlich und werden vom Zuhörer begrüßt.

Durchbrechen Sie Denkmuster!

Wer etwas anders macht als andere, der lehnt sich weit aus dem Fenster. Sie wollen sich lieber nicht aus dem Fenster lehnen? Das ist nachvollziehbar, denn wer das tut, gibt vielen die Chance, zu einem vernichtenden Schlag auszuholen. Wer laut sagt, was er denkt, riskiert Kritik. Aber wer es lässt, riskiert Profillosigkeit. Umso mehr ist der Mut des Redners zu bewundern, der ausspricht, was er denkt. Denn Redner, die auch mal polarisieren, regen ihre Zuhörer zum Denken an.

 

Nur wer sich weit aus dem Fenster lehnt, überblickt den ganzen Horizont: Straffe Reden entwickeln Visionen.

George Orwell hat das einst wunderbar formuliert: „Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann das Recht, anderen Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen.“ Wie wahr. Doch viele Menschen wollen sich in ihrem Denken nicht gestört fühlen. Und gerade alte Denkmuster und falsche Vorstellungen verleiten Menschen dann dazu, unstraffe Reden zu halten. Doch gerade starke Statements und klare Meinungen bringen den Zuhörer dazu, plötzlich aufmerksam hinzuhören. Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie halten eine Rede, und alle hören zu! Klingt witzig, ist aber nicht witzig gemeint. Bei vielen Reden geschieht genau das nämlich nicht. Aber versetzen Sie sich jetzt in die Rolle des Redners: Fühlt sich das gut an, wenn die Zuhörer anfangen, ins Leere zu starren, zu gähnen oder auf die Uhr zu schauen, weil sie wieder nur „Normales“ vorgesetzt bekommen?


Straffe Reden halten ist mehr als nur ein Flirt mit dem Publikum: Es ist ein Heiratsantrag.

Das Geheimnis bei straffen Reden ist, dass ein Redner spürt, wenn seine Zuhörer ihm ihr Ja zuwerfen: Sie hängen an seinen Lippen. Und Lippenhänger im Publikum sind Gänsehautmacher beim Redner. Da fängt es dann auch an, dem Redner Spaß zu machen. Ach ja, noch so ein Satz: Stellen Sie sich vor, Sie halten eine Rede, und es macht Ihnen Spaß!

Beispiel

Mein Kunde wollte einen Vortrag straffen, mit dem er üblicherweise seine Firma vor neuen Kunden präsentierte. Zwei Ansagen prägten die Vorgespräche des Einzelcoachings: „Ich will bei PowerPoint bleiben, das ist so üblich in meiner Branche. Und ich habe überhaupt keinen Spaß am Reden halten!“ Zu Beginn des Coachings ließ ich den Geschäftsführer seinen Vortrag so halten wie immer. Ich nahm alles mit der Kamera auf. Anschließend lasse ich ihn seinen gesamten Vortrag ansehen – eine halbe Stunde lang. Er windet sich auf seinem Stuhl, schüttelt immer wieder den Kopf. Wir halten die Aufnahme alle paar Minuten an, besprechen einzelne Punkte. Am Ende der Aufnahme geht er zu seinem Laptop. Er klappt ihn zu. Er sagt zu mir: „Frau Kerschgens, ich habe verstanden. Und was machen wir jetzt?“ Wir nutzten den gesamten restlichen Tag, um seinen Vortrag mit seinen persönlichen Geschichten zu bereichern. Er lernte, Kopfkino zu erzeugen. Jetzt konnte er nur mit einem Flipchart die Kernaussagen seines Vortrags anschaulich machen. Drei Wochen nach unserem gemeinsamen Termin rief er mich an: „Ich habe zum ersten Mal diesen Vortrag gehalten – und anschließend sagte der potenzielle Kunde zu mir: ‚Das war ein toller Vortrag!‘ Und wissen Sie was, Frau Kerschgens? Es hat mir auch noch Spaß gemacht!“

Lernen Sie aus Ihrem Erfolg!

Ein Redner sollte sich selbst als Zuhörer erlebt haben, um ganz schnell von alten, falschen Vorsätzen abzukommen und die wahren Bedürfnisse seiner Zuhörer zu erkennen – Zuhörer, der er ja selbst auch immer wieder bei anderen ist. Ein Redner, der den Mut hat, Neues auszuprobieren, wird Erfolg und Spaß daran haben. Ja, er wird schon während seines Vortrags Spaß empfinden, denn er weiß um die Wirkung beim Zuhörer und spürt den Effekt straffer Reden. Doch Neuland betreten ist ja bekanntlich das Gegenteil von Sicherheit, die auf den ersten Blick viel verlockender wirkt. Viele Redner suchen die vermeintliche Sicherheit daher auf dem Papier:


„Ich schreibe meine Reden auf, das kann ich schön in Ruhe vorbereiten – und dann mache ich auch keine Fehler bei meinem Vortrag, weil ja alles schon ausformuliert ist.“

Nur die freie Rede ist eine Rede

Wer eine Rede ausformuliert und aufgeschrieben hat, hält keine Rede, sondern eine Lese. Das wirkt nicht nur unpersönlich und unspontan, es klingt meistens gestelzt und ist bespickt mit schwer verdaulichen Worthülsen, Schachtelsätzen und Fachbegriffen. Spontanes Eingehen auf vorherige Redner oder aktuelle Zusammenhänge sind nachträglich nur schwer einzubauen. Oder wie es bereits Henry Kissinger ausdrückte: „Eine abgelesene Rede garantiert, dass Ihnen das Publikum nicht zuhört.”


Reden straffen heißt, frei zu sprechen:

Halten Sie Reden, keine Lesen!

Straffe Redner sprechen frei – und zwar so, wie es ihnen über die Lippen kommt. Das wirkt authentisch und spontan. Wer bei straffen Rednern mal mitschreiben sollte, wird sehen, dass sie entgegen jeder Grammatikregeln sprechen. Das liegt daran, dass frei gesprochener Text gänzlich anderen Regeln gehorcht als geschriebener Text. Ein frei gesprochener Text lebt und bewegt sich mit dem Redner mit. Und nur ein bewegter Redner bewegt auch seine Zuhörer. Das spricht für Stichworte auf einer Redekarte, aber niemals für ausformulierte Sätze.

So weit, so gut. Doch bevor Sie mit den passenden Inhalten wirken, mit Spannung begeistern und Ihre Zuhörer überzeugen, sollten Sie wissen, wie das Gehirn Ihrer Zuhörer funktioniert. Denn da wollen Sie schließlich hinein, oder?

Gehirn: ein Organ, mit dem wir denken,

dass wir denken.

Ambrose Bierce

Köpfe brauchen Bilder!

Bilder sind schneller als Worte

Das menschliche Gehirn ist ein Wunderwerk der Natur. Aber es hat sich nie neu erfunden, sondern nach und nach weiterentwickelt, dabei neue Entwicklungen auf alte aufgesetzt. Das heißt, dass es nach vielen Millionen Jahren noch Eigenschaften mit sich herumträgt, die unter heutigen Bedingungen etwas umständlich wirken. Dazu gehört auch, dass die Nervenbahnen, die Bilder verarbeiten können, seit etwa 500 Millionen Jahren ihre Arbeit verrichten. Der Teil des Gehirns aber, der Sprache verarbeiten kann, ist vielleicht seit 100.000 oder 150.000 Jahren in dieser Form aktiv.6 Oder anders gesagt: Jede Kaulquappe kann gucken, aber nicht quatschen. Das wirkt sich aus:

Das Gehirn kann Bilder schneller verarbeiten als Sprache, denn darin hat es die meiste Übung.

Im Umkehrschluss heißt das vereinfacht dargestellt: Ein Mensch versteht Sprache erst, wenn er ein Bild dazu im Kopf hat. Das passiert natürlich meistens unbewusst, wie überhaupt der Großteil des Denkens unbewusst stattfindet.

Es gibt einen genial einfachen Test, der beweist, wie bildlastig unser Gehirn arbeitet. Stellen Sie sich vor, jemand gibt Ihnen die folgende Anweisung:

„Bitte strecken Sie Ihren Arm senkrecht aus!“


Und? Wie lange haben Sie gebraucht, um den Widerspruch zwischen der schriftlichen Anweisung und dem Bild zu erkennen? Dieser Test funktioniert noch viel besser mit gesprochener Sprache. Ich kann ihn mit Hunderten von Zuhörern in einem Saal durchführen – und alle stehen im ersten Moment genauso da wie ich: mit waagerecht ausgestrecktem Arm. Nach einiger Zeit gehen die ersten Arme in die Höhe, oft erst nachdem ich wiederhole: „Ich habe senkrecht gesagt!“ Oder wenn die Zuhörer sehen, dass andere im Publikum plötzlich den Arm nach oben strecken. Na gut, nicht immer alle … Aber die, die auf Anhieb den Arm nach oben strecken, brauchen eine gefühlte Sekunde länger, bis sie sich bewegen. Der Widerspruch braucht ein Bild im Kopf – erst dann wird er bewusst. Und das dauert einen Moment.

Das Gehirn versteht schrittweise

Gerne zeige ich Ihnen, was bei einer solchen widersprüchlichen Anweisung in Ihrem Gehirn passiert (natürlich sehr vereinfacht dargestellt):

1. Sie erhalten die Anweisung: „Bitte strecken Sie den Arm senkrecht aus!“ Aber die Person, die die Anweisung gibt, streckt mit einer selbstsicheren Geste ihren Arm waagerecht aus.

2. Ihr Gehirn will nun der Anweisung folgen. Dabei kommen der gesprochene Text und das Bild gleichzeitig an. Aber der Teil Ihres Gehirns, der Bilder verarbeiten kann, macht das schon seit Jahrmillionen. Also reagiert dieser Teil sofort: Das Bild ist ruckzuck verstanden, Sie machen es sofort nach. Maximal überlegen Sie vielleicht noch, ob der rechte oder linke Arm gemeint war.

3. Parallel wird der Text verarbeitet, der gesprochen wurde. Dazu wird jetzt im bildverarbeitenden Teil des Gehirns gesucht: „Wie sieht ‚senkrecht’ eigentlich aus?“ Senkrecht ist ein sehr abstrakter Begriff, denn was heißt denn senkrecht zum Beispiel in Bezug auf was eigentlich? Irgendwann taucht das Bild vom senkrecht ausgestreckten Arm auf – und jetzt erst (!) wird Ihrem Gehirn der Widerspruch bewusst! Oder eben, wenn jemand anders plötzlich den Arm senkrecht ausstreckt und dieses Bild zum gesuchten passt.

Sie merken: Das dauert erstaunlich lange. Denn bei der Übersetzung von Sprache findet immer dieser Vorgang statt:

▪ Erst sucht das Gehirn zum gehörten oder gelesenen Wort ein Bild / Gefühl / Farbe / Form …,

▪ damit setzt erst das Verstehen dieses Wortes ein

▪ und dann erst kann das Gehirn von den Worten überzeugt werden!

Die Evolution hat so gesehen eben auch Nachteile: Unser Gehirn schleppt ältere Verfahrensweisen mit, die von neuen Funktionen nur grob überblendet wurden. Daher hängt eben der Vorgang zum Verstehen von Sprache nahe am Bilderzentrum, das nun mal – rein evolutionär betrachtet – zuerst da war. Natürlich finden all diese Vorgänge in rasanter Geschwindigkeit statt und kosten daher viel Energie.

Abstrakte Sprache = aussteigende Zuhörer

Das allermeiste bekommen die Gehirnbesitzer bewusst überhaupt nicht mit. Dafür aber sind die Auswirkungen umso deutlicher zu erkennen. Und daraus lassen sich ein paar einfache Regeln herleiten:

Je abstrakter die verwendeten Wörter sind, umso länger braucht das Gehirn, um ein Bild dafür zu finden, das dann verstanden werden kann.

Dieser Effekt ist für Redner wichtig zu wissen. Denn umgekehrt heißt das:


Straffe Reden beachten die Zuhörergehirne: Sie nutzen Bilder! Umso schneller verstehen Ihre Zuhörer Sie und umso lieber folgen sie Ihnen.

Wenn das „Übersetzen“ der gesprochenen Sprache zu lange dauert, da zu viele abstrakte Begriffe darin Vorkommen, schalten Ihre Zuhörer einfach ab. Das ist kein böser Wille, sondern das reflexartige Ausweichen vor unnötiger Denkarbeit. Unbewusst, versteht sich. Bewusst merken Sie es daran, dass Ihnen Ihr Publikum „wegkippt“: Es wird unruhig im Raum, die Zuhörer schauen auf die Uhr oder es wird getuschelt. Das fühlt sich weder für die Zuhörer, noch für den Redner gut an.

Bilder heißt: Beispiele!

Viele Redner bringen häufig sehr pauschale Aussagen:


▪ „Unser Produkt ist sehr innovativ.“

▪ „Unsere Firma ist marktführend.“

▪ „Das Gerät arbeitet höchst effektiv.“

▪ „In unserem Verein geht es sehr menschlich zu.“

▪ „Unsere Firma steht für soziale Verantwortung.“

Springen Sie bei solchen Sätzen auf und rufen „Hurra!“? Ich bin mir sicher, dass derartig pauschale Formulierungen niemanden hinter dem Ofen hervorlocken. Zu oft haben auch Sie das schon gehört, zu viele behaupten all das von sich selbst. Aber Rednern rutschen gerade solche pauschalen Wörter wie innovativ, kompetent, gerecht, erfolgreich oder effektiv immer wieder heraus. Mehr noch: Sie glauben, damit überzeugend zu wirken.

 

Das Bildergehirn Ihrer Zuhörer schläft bei solchen Wörtern schlicht ein. Der Grund ist einfach: Diese Wörter sind nur schwer zu verstehen. Verstehen entsteht ja dadurch, dass unser Gehirn sozusagen sieht, um was es geht. Sie erinnern sich an den Trick mit dem Wort „senkrecht“? Dieses Wort sitzt – bildlich gesprochen – ganz weit vorne im Sprachzentrum. Es ist sehr abstrakt. Es braucht eine Weile, bis Sie das passende Bild dazu in Ihrem Kopf entwickeln können. Genauso ist es mit Wörtern wie preiswert, Kundenorientierung, flexibel, bedienerfreundlich, hohe Sicherheitsstandards … Sie erzeugen keine Bilder, denn sie sind viel zu abstrakt.

Bilder für pauschale Begriffe finden

Damit Ihre Zuhörer Ihnen leicht und gerne folgen, sollten Sie Ihre pauschalen Aussagen gegen bildstarke Beispiele austauschen.


Aus „Unser Produkt ist sehr innovativ“ wird: „Unser Produkt hat gleich im ersten Jahr seiner Einführung zwei europäische Preise gewonnen – das hat noch kein Mitbewerber geschafft.“

Jetzt haben Ihre Zuhörer ein Bild davon, was „innovativ“ heißen kann. Sie haben ein konkretes Beispiel gehört, das den Begriff sozusagen umschreibt. Sie beweisen als Redner anhand von Fakten, dass Ihr Produkt innovativ ist – ohne diesen Begriff auch nur erwähnt zu haben.


Aus „Unsere Firma ist marktführend“ wird: „Es gibt drei Firmen weltweit, die dieses Produkt herstellen. Von diesen dreien haben zwei Firmen einen Umsatz von knapp drei Millionen Euro. Wir haben einen Umsatz von – fünf Millionen Euro.“

Zahlen sind immer sehr konkret und machen Beispiele griffig. Jetzt haben die Zuhörer ein Gefühl dafür, was es heißt, Marktführer zu sein. Stellen Sie Zahlen in einen Vergleich, erhöht das die Wirkung.

Nutzen Sie Beispiele aus dem Alltag

Aus „Das Gerät arbeitet höchst effektiv“ wird: „Die meisten Geräte Nutzen Sie verbrauchen so viel Strom wie ein Staubsauger. Wie ein Industrie-Staubsauger. Unser Gerät verbraucht ebenfalls so viel Strom wie ein aus dem Alltag Staubsauger. Wie ein Hand-Staubsauger.“

Um einen pauschalen Begriff in ein anschauliches Beispiel umzuwandeln, eignen sich häufig Vergleiche aus der Alltagswelt. Damit holen Sie Ihre Zuhörer sozusagen aus deren vertrauten Umgebung ab und bringen Ihre eigene Welt damit in Verbindung. Das funktioniert beispielsweise auch sehr gut bei komplexeren technischen Vorgängen.

Beispiel

Die MP3-Technik, die Musik so komprimiert, dass sie in kleinsten iPods transportiert werden kann, wurde von Karlheinz Brandenburg, Leiter des Frauenhofer-Instituts für Digitale Medientechnologie, erfunden. Und dieser Mann hat auch noch eine wunderbare, aus dem Alltag übernommene bildhafte Erklärung gefunden, wie dieses Verfahren funktioniert. Alle wesentlichen Bestandteile der Harmonien, Melodien und Rhythmen werden technisch so erhalten wie Gemüseund Fleischbröckchen in einer Tütensuppe. Ein solches Konzentrat braucht wenig Platz und ist leicht zu transportieren. Wenn die digitalisierten Daten wieder zu Musik werden sollen, rekonstruiert die Software sie, so wie das heiße Wasser das Tütensuppenkonzentrat in eine Suppe zurückverwandelt. Das MP3-Verfahren ist also „eine Art kulinarisches Gefriertrocknen“.7 Das erklärt meines Erachtens auch noch etwas anderes: So wie keine Tütensuppe der Welt eine Suppe aus frischen Zutaten aus dem eigenen Garten ersetzen kann, so ersetzen auch MP3-Musikdateien niemals das Hörerlebnis in einem Konzertsaal und eines live spielenden Orchesters.

Werden Sie konkret


Aus „In unserem Verein geht es sehr menschlich zu“ wird: „Wenn ein Mitglied unseres Vereins umzieht, dann packen alle mit an – natürlich immer vorausgesetzt, dass es danach auch eine Party gibt!“

Ein Beispiel steht stellvertretend für die gesamte pauschale Aussage. Dieses eine Beispiel erzeugt ein Bild in den Köpfen Ihrer Zuhörer, das wesentlich besser hängen bleibt als jede allgemeine Aussage. Zählen Sie also nicht viele Argumente auf, um dem pauschalen Begriff gerecht zu werden, sondern konzentrieren Sie sich auf einen Aspekt, den Sie mit einem Beispiel untermauern. Und das machen Sie so konkret wie möglich. Das obige Beispiel könnte noch konkreter werden, indem Sie eine Geschichte erzählen, die Ihre Aussage unterstützt:


„Als der Paul umgezogen ist, hat Michael den Laster bereitgestellt. Klaus hat Umzugskisten besorgt. Martina hat die Putzkolonne angeführt. Ursula hat anhand eines Plans genau angeleitet, wo welche Möbel hinkommen. Alle zweiundzwanzig Mitglieder des Vereins haben einen ganzen Tag lang tatkräftig geholfen. Wir alle wussten aber auch, warum wir das taten. Denn Paul hatte schließlich das Bier besorgt und die Schnittchen gemacht – für die anschließende Party!“

Zeigen Sie Menschen

Bringen Sie Namen ein, erzählen Sie von Menschen, zeigen Sie diese in Aktion. Dadurch werden die Bilder in den Köpfen Ihrer Zuhörer noch deutlicher, Ihre Botschaft noch einfacher nachvollziehbar.


Aus „Unsere Firma steht für soziale Verantwortung“ wird: „Als unsere Kollegin ihren schweren Verkehrsunfall hatte, waren wir völlig geschockt. Vom einen auf den anderen Tag saß sie im Rollstuhl. Während ihres Krankenhausaufenthalts haben wir eine Rollstuhlrampe am Eingang bauen lassen und ihr Büro in die Nähe des Aufzugs verlegt. Außerdem haben wir einen speziellen Schreibtisch besorgt, an dem sie mit ihrem Rollstuhl besser zurechtkommt. Als sie wieder zur Arbeit kam, konnte sie nahtlos weiterarbeiten wie bisher – es war alles vorbereitet. Seitdem haben wir zwei weitere körperbehinderte Mitarbeiter. Denn die Freude unserer Kollegin über die einfache Rückintegration trotz ihrer Behinderung hat uns dazu bewogen, auch weitere behinderte Fachleute einzustellen, von denen es genug gibt.“

All diese Beispiele zeigen erneut, dass Reden straffen nicht unbedingt Reden kürzen heißt. Viel wichtiger ist, Bilder in den Köpfen der Zuhörer entstehen zu lassen. Und dazu braucht es manchmal sogar eher ein paar Worte mehr. Doch die Wirkung ist um ein Vielfaches verstärkt und strafft damit das Erlebnis beim Zuhörer.


Das Leben schreibt die stärksten Geschichten – straffe Reden sind voll davon!

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