Mailys' Entscheidung

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»Du hast wohl nicht mehr alle beisammen?« Auf eine Erwiderung wartend tippte sie mit einem Fuß auf den Boden und schürzte die Lippen.

Doch was sollte er konkret erwidern? Ja? Nein? Vielleicht?

Er sah sie nur mit großen Augen an.

»Hast du dich schon mal umgeschaut?« Sie schaute sich um, als wolle sie ihm zeigen, wie man das richtig tat. »Ich weiß nicht, ob es dir schon aufgefallen ist, aber das ist der private Raum jener Person, die du sonst partout meidest.«

Flüchtig schielte Vincent über ihre Schulter hinweg zu mir. Offensichtlich überkam ihn ein schlechtes Gewissen (oder auch einfach nur das Bewusstsein, dass er mich nicht leiden konnte) und schnappte sich Mailys. Als er an mir vorbeihuschte, stammelte er eine Entschuldigung mehr vor sich hin als zu mir.

Natürlich waren die Jungs baff. Doch nach einer Weile klatschte Yannik in die Hände, um zur Arbeit aufzurufen. Schließlich warteten im Transporter noch einige Teile auf ihr neues zu Hause.

Und das Essen kochte sich auch nicht von allein.

***

»Was habt ihr für ein Problem mit Vincent?«, hakte Yannik nach, jetzt da Ruhe eingekehrt war.

Wir fünf saßen am Esstisch und verleibten uns endlich die Nudeln mit der Tomaten-Sahne-Sauce ein. Hanna war gerade mit einem vollen Mund behindert und gab mir damit ungewollt die Möglichkeit, die Angelegenheit selbst zu erläutern.

»Nicht wir haben ein Problem mit ihm, sondern er mit mir. Er kann mich irgendwie nicht leiden, ignoriert mich, wo es nur geht, und behandelt mich von oben herab.« Ich stutzte. »Eigentlich weiß ich gar nicht, welches negative Bedürfnis ich in ihm mehr auslöse: Brechreiz, Hass, Desinteresse, Ekel, Mitleid ... Na ja, irgendeines davon wird es wohl sein.«

Die Jungs schauten mich ungläubig an. »Reden wir noch vom selben Typ?«, wunderte sich Philipp, der noch vor einer Dreiviertelstunde ein völlig angenehmes Gespräch mit ihm geführt und ein völlig positiven Eindruck von ihm gewonnen hatte.

»Zugegeben, er hat schon etwas seltsam auf euch Mädels reagiert, aber negativ wirkte er ganz bestimmt nicht«, fügte Yannik hinzu.

»Kann es sein, dass Männer eine ganz andere Sprache sprechen als Frauen?«, beschwerte sich Hanna, nachdem sie den Bissen auf schnellstem Wege heruntergewürgt hatte, um an dem spannenden Gespräch teilnehmen zu können. Sie fand, dass die Jungs Vincents Verhalten schönredeten.

»Ich habe auch keine Abneigung dir gegenüber gesehen«, beteiligte sich jetzt auch der geruhsame Levi.

Am liebsten mochte ich gar nicht darüber diskutieren, wer recht und wer unrecht hatte, mochte nur meine Nudeln genießen und verdrängen, dass Vincent existierte. Ich meine, er war doch sowieso irrelevant für mein Leben. »Was hast du dann gesehen?« Das interessierte mich trotzdem, denn scheinbar brauchten Hanna und ich ja neuerdings eine Brille.

Er grübelte. »Auf mich machte er einen eingeschüchterten Eindruck.«

Synchron prusteten Hanna und ich los und versuchten, diverse Essensreste im Mund zu behalten. Keine Ahnung, seit wann ich plötzlich bedrohlich auf andere wirkte. Die ganze Geschichte begann immer kryptischere Formen anzunehmen.

»Das finde ich auch«, pflichtete Philipp ihm auf einmal bei. Und Yannik nickte ebenfalls.

»Jetzt macht mal halblang«, sank Hannas Stimme eine Oktave tiefer vor Fassungslosigkeit. »Warum sollte er denn eingeschüchtert sein?«

»Woher sollen wir das denn wissen?«, entgegnete Philipp mit hochgezogenen Augenbrauen. »Ich meine, ich wohne hier erst seit ein paar Minuten.« Er lachte.

»Es hätte ja auch gut sein können, dass ihr einen bestimmten Eindruck von Heidi habt und Vincents Verhalten somit vertreten könntet.« Hanna hatte die Angewohnheit, für mich zu sprechen.

Damit keiner der Jungs auf die Idee kam, ich hätte es nötig, warf ich hochgebildet hinterher: »Genau!«

Die drei Jungs schüttelten den Kopf und schauten sich dabei an.

»Also, ich finde Heidi eigentlich echt charmant und umgänglich«, verkündete ausgerechnet der zurückhaltende Levi als Erster.

»Und ich finde sie zudem sehr attraktiv«, konnte Philipp Vincents mangelndes Interesse an mir als Frau nicht verstehen und fügte neckisch hinzu: »Und wohlproportioniert ist sie dazu auch.« Gut, ich hatte es ja endlich verstanden, dass er nicht auf Magermodels stand.

Und zu guter Letzt musste Yannik dem ganzen auch noch die Krone aufsetzen: »Sexy, verdammt sexy!«

Nicht anders zu erwarten, lief ich rot an. Tja, und ich hatte schon gedacht, dass irgendetwas nicht mit mir stimmte. »Schaltet mal einen Gang runter, Jungs. Es wird sonst unglaubwürdig.« Doch ich sah ihren Gesichtern an, dass sie die Schmeicheleien wirklich ernst meinten. Unvorstellbar!

Ich schielte zur Decke, um Gott zu bitten, dafür zu sorgen, dass dieser peinliche Moment vorübergehen würde. Ich war Komplimente nun mal nicht gewohnt.

Plötzlich klingelte es an der Tür.

Erneut schielte ich zur Decke. Ehe ich dankbar sein konnte, war ich zunächst erst einmal verwundert, wie gut es Gott mit mir meinte, nachdem ich ihm den Rücken zugekehrt hatte. Genau genommen hatte ich ja nicht ihm, sondern nur dem Kloster den Rücken zugekehrt.

Jedenfalls wusste ich nicht, wie Hanna das immer anstellte, aber noch bevor das Klingeln ganz erloschen war, war sie schon an die Tür geschossen, um sie zu öffnen. Reaktion hatte sie ja.

»Es ist Beck«, quietschte sie uns an, als sie ihn die Treppe heraufkommen sah. Vor lauter Freude schlug sie die Hände vors Gesicht, als wolle sie beten, und trippelte aufgeregt wie ein Hund vor dem Rausgehen auf einer Stelle herum. Es war ja nicht so, dass die beiden sich so selten zu Gesicht bekommen würden, sie verstanden sich nur unheimlich gut.

Als er oben angekommen war, sprang sie an ihm hoch wie ein kleines Kind und ließ sich von ihm zum Esstisch zurücktragen. Dort angekommen, setzte sie sich wieder auf ihren Stuhl und aß weiter, als wäre nichts passiert.

Beck stellte sich den Jungs als mein großer Bruder vor und wollte sofort wissen, wer von den drei jungen Männern der neue Mitbewohner seiner kleinen Schwester war. Dass er die Betonung auf den großen Bruder und die kleine Schwester gelegt hatte, brauche ich sicherlich nicht anmerken.

»Besser bekannt als Papa«, überspielte ich, dass mir sein Auftreten peinlich war.

»Ich werde mir ja wohl noch ein Bild machen dürfen, oder?«, verteidigte sich Beck.

»Ist okay«, hob Philipp entschärfend die Hand, »ich habe eine dreizehnjährige Schwester. Ich weiß also, wie sich das anfühlt.«

Das fand Beck schon mal Sympathie erweckend, das konnte ich seinem Gesicht ablesen. »Und wer seid ihr zwei?«, sprach er nun auch Levi und Yannik an, als wäre ein Kerl in meiner Wohnung nicht schon mehr als genug.

Während sich Beck zu uns an den Tisch setzte, antwortete Yannik unerschrocken: »Herrje, wir sind bloß die Umzugshelfer. – Was ist dein Problem?«

Mutig, mutig!

»Mein Problem ist, dass meine kleine Schwester künftig mit einem wildfremden Kerl zusammenlebt. Glaubt ihr nicht, ich wüsste nicht, wie Kerle ticken?«

»So klein sieht deine Schwester aber gar nicht mehr aus. Ich wette, sie kann Situationen halbwegs selbst abschätzen und sehr wohl eigene Entscheidungen treffen.« Dass Yannik daran gelegen war, für mich einzutreten, obwohl er mich gar nicht kannte, erstaunte mich nicht nur, sondern schmeichelte mir auch ungemein.

Auch Hanna sah überrascht aus. Allerdings konnte es daran liegen, dass sie Yannik für seinen Mumm bewunderte. Doch da sie Disharmonie verabscheute, wenn sie diese nicht selbst produzieren durfte, bot sie Beck eine Portion Nudeln an, in der Hoffnung, er würde sich davon ablenken und besänftigen lassen. Seine Diskussionsfreude passte gerade überhaupt nicht in den Rahmen, denn ehe er erschienen war, waren wir gut aufgelegt und fühlten uns pudelwohl.

Beck nickte Hanna nur kurz und knapp zu, um erkennen zu lassen, dass er das Angebot gern annahm, und widmete sich dann wieder Yannik. »Es kann trotzdem nicht schaden, ihr beizustehen. Aber wie mir scheint, verstehst du nichts von dieserart Unterstützung?« Er hatte Hannas Wink mit dem Zaunpfahl also nicht verstanden.

Unbeeindruckt hob Yannik die Schultern. »Wenn ich davon nichts verstünde, säße ich wohl nicht hier«, wies er darauf hin, dass er sich für den Umzug seines Kumpels gerade noch den Rücken bucklig geschuftet hatte. »Aber deshalb muss ich mich ja nicht wie der Hauptfeldwebel aufführen, oder?«

Wo er recht hatte …

Jetzt hing mir die Debatte jedoch allmählich zum Halse raus. Ich tat besser daran, mit der Faust auf den Tisch zu hauen, ehe die Situation zu eskalieren drohte und Beck und Yannik in diesem Leben keine Freunde mehr würden.

Doch da kam Hanna schon vom Herd zurück und knallte Beck lautstark den Nudelteller vor die Nase. »Wie sieht es mit einer Einweihungsparty aus? Schmeißt du eine?«, grölte Hanna dazwischen und forderte Philipp mit einem messerscharfen Blick auf, sofort auf ihre Frage zu reagieren, bevor Beck erneut zum Gegenschlag übergehen konnte. Sie ließ sich erschöpft auf ihrem Stuhl fallen.

Philipp sah so aus, als wäre er von sich aus nicht auf die Idee gekommen, eine Party zu schmeißen. Er kratzte sich am Hinterkopf. »Na ja, ich bin ja nur dazugezogen. Ich schätze ...«

»Ich frage ja nur«, fuhr Hanna ihm eiskalt in die Parade, »weil ich am Freitag Geburtstag habe. Da dachte ich, wir könnten diese Ereignisse zusammenlegen und es doppelt so gut krachen lassen.«

Zu meinem Erstaunen fand ich ihren Vorschlag wirklich großartig. Und ich sah in den Gesichtern aller Anwesenden die gleiche Begeisterung.

 

»Klasse«, rief Beck. Er ließ es tatsächlich darauf beruhen.

Auch die anderen Jungs nickten angetan.

»Super!«, freute Hanna sich jetzt schon. Sie liebte es, Partys zu organisieren, was mich natürlich erleichterte, denn ich für meinen Teil war darin nicht besonders gut.

»Wie alt wirst du denn?«, wollte Philipp auf einmal wissen.

Schlagartig herrschte Totenstille im Raum. Nur Beck zog den Atem scharf durch die Zähne ein.

Daraufhin versuchte ich, Philipp mit meinen flatternden Lidern so unauffällig wie möglich zu vermitteln, dass diese Frage die denkbar schlechteste war, die man ihr zurzeit stellen konnte, und hoffte, er unternahm wenigstens den Versuch, noch einmal mit hängender Zunge davonzukommen. Stattdessen zog er seine dichten Brauen begriffsstutzig zusammen und blickte zwischen Hanna und mir hin und her, so dass Hanna auf mich aufmerksam wurde.

Vielen Dank, Philipp!, schrie ich ihn mit meinem Blick an. In meiner Vorstellung richtete ich ihn soeben durch eine Guillotine hin und klatschte seinen verdammten Schädel gegen eine Steinmauer. Dann drehte ich meinen Kopf zu Hanna und schenkte ihr ein breites scheinheiliges Lächeln, nachdem ich aus dem Augenwinkel gesehen hatte, dass sie mich entsetzt anstarrte.

»Was ist?«, klang ich schrill.

»Was war das?«, klang Hanna dagegen giftig.

»Was war was?«, stellte ich mich natürlich dumm.

»Das mit deinen Augen!« Sie streckte ihren Finger nach eines meiner Augen aus. Ich wich dem Finger ein Stück nach hinten aus, ehe sie es mir noch eindrücken würde.

»Lass das!« Ich schlug ihre Hand weg, da ich mich belästigt fühlte.

»Sie wird dreißig«, kam Beck mir zu Hilfe.

Und dann geschah ein Wunder: Zumindest Yannik hatte endlich geschnallt, dass Hanna ein Problem mit ihrem Alter zu haben schien und sprang für Philipp in die Bresche, ehe sie entweder in Tränen ausbrechen oder einen Tobsuchtsanfall kriegen oder schlimmstenfalls einen Mord begehen konnte.

»Echt?«, schrie er aus voller Brust und riss fassungslos die Augen auf. »Ich hätte schwören können, dass du unserer Altersklasse angehörst.«

Und plötzlich fiel der Groschen auch bei Levi. »Krass! Wie jung du dich gehalten hast.«

Ich zuckte einmal zusammen, weil ich fürchtete, dass er zu dick aufgetragen haben könnte. Doch als ich in Hannas Gesicht blickte, erhellte es sich mit jedem Kompliment mehr und wirkte komplett zur Ruhe gebracht.

Philipp zuckte mit den Schultern und formte das Wort »Sorry« mit den Lippen. Daraufhin zuckte ich ebenfalls mit den Schultern und formte das Wort »Idiot« mit meinen Lippen. Aber ich konnte nicht lange ernst bleiben und lächelte entwaffnend. Sein Blick blieb eine halbe Ewigkeit an mir kleben. Mir wurde heiß und kalt zugleich.

»Flirtet ihr?«, bemerkte Yannik und schaute zwischen Philipp und mir hin und her.

Bei diesem Kommentar ließ Beck erwartungsgemäß nicht lange auf sich warten. »Was? Wer flirtet hier?«

Ich stöhnte: »Hier flirtet keiner, Emil!« Ich wusste, dass es ihn nicht nur nervte, sondern es ihn regelrecht auf die Palme brachte, wenn ich seinen echten Namen aussprach.

»Wie? Emil?«, wunderte sich Philipp prompt. »Ich denke, du heißt Beck?«

Postwendend klärte mein Bruder ihn auf und fand deutliche Worte dafür, warum ich ihn mit seinem echten Namen aufziehen durfte und andere nicht. Und damit es künftig nicht zu Missverständnissen kommen würde, griff er vor und klärte ihn auch gleich noch darüber auf, dass er homosexuell sei, die Jungs sich jedoch keine Hoffnungen zu machen bräuchten, da er in einer glücklichen Beziehung lebe. Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der breiten Brust, um einfließen zu lassen, dass ihm deshalb seine Männlichkeit nicht abhanden gekommen war und nach wie vor auf seine kleine Schwester aufpasste wie ein Schießhund. Er konnte es einfach nicht lassen und richtete sein Augenmerk insbesondere auf Yannik. Doch nach ein paar Sekunden übertriebener Ernsthaftigkeit grinste er wie ein Honigkuchenpferd und schwenkte mit einer Hand pantomimenhaft die weiße Fahne.

»Heidi hat auch einen Spitznamen«, plauderte Hanna aus dem Nähkästchen.

»Stimmt gar nicht«, protestierte ich, »den haben die mir gegeben. Sonst nennt mich niemand so.«

»Der da wäre?«, wollte Philipp um jeden Preis wissen.

»Becki?«, riet Yannik hingegen ins Blaue hinein und lachte. Dabei fand ich diesen Vorschlag gar nicht mal so schlecht. Vielleicht ein bisschen unoriginell, aber irgendwie lustig.

»Püppi«, krakeelte Hanna raus.

»Püppi?«, staunten Philipp, Yannik und Levi im Chor.

»Wo ich doch keine Spur danach aussehe, nicht wahr?« Doch genau das machte diesen Namen zumindest origineller als Becki.

»Ich habe ihr den gegeben«, verkündete Hanna eindrucksvoll.

Ich verdrehte die Augen und schnaufte angespannt, weil ich die Geschichte, wie ich zu dem Namen gekommen war, ja kannte. Mir war es schon unangenehm, bevor Hanna überhaupt nur den Ansatz einer Erläuterung machte.

»Obwohl das ja nicht ganz stimmt«, fügte mein werter Bruder hinzu. »Genau genommen kam es von dem Italiener aus.«

Nein, die Rede war nicht von Ferruccio oder einer seiner Angestellten unserer Lieblingspizzeria. Es handelte sich um einen x-beliebigen Italiener.

»Aber ich habe den Namen immerhin aufgegriffen, ehe er in der Versenkung verschwunden ist.« Dass Püppi kein so seltener und außergewöhnlicher Kosename war und ihn schon tausende Menschen vor ihr benutzt hatten (so wie auch dieser fremde Italiener), blendete Hanna geschickt aus. Stattdessen sollten alle, wie sie hier am Tisch saßen, so tun, als wäre der Name die größte Erfindung der Menschheit und sich vor ihr verneigen. »Na, jedenfalls war es an dem Tag, als wir, Beck und ich, sie vom Kloster abgeholt haben.«

»Neun lange Jahre im Kloster, und keine Minute später erlebt sie ihre erste Anmache«, warf Beck lachend dazwischen.

Ich wurde immer kleiner auf meinem Stuhl und die drei Jungs kalkweiß. Sie glotzten mich an, als hätten sie soeben erfahren, dass ich nur noch zwei Wochen zu leben hätte.

Hanna gedachte, die Anekdote fortzuführen, als sich Philipp als Erster zu fragen wagte: »D-d-du warst im Kloster?«

Ich meinte seinen Zügen entnehmen zu können, dass ihm kurze Zweifel kamen, ob es wirklich eine so gute Idee von ihm gewesen war, ausgerechnet bei mir einzuziehen. Ich nahm es ihm jedoch nicht übel. Nein, vielmehr motivierte es mich, ihm vom Gegenteil zu überzeugen.

Ich nickte nur und gab mit meinen zusammengezogenen Augenbrauen und zusammengepressten Lippen zu verstehen, dass ich ungern darüber sprach, auch wenn ich inzwischen wissen sollte, dass Philipp kein Genie auf dem Gebiet des Gesichtslesens war.

Hannas tiefes Luftholen ließ vermuten, dass sie mit der Geschichte rund um den Italiener ein zweites Mal beginnen wollte, doch wieder wurde sie daran gehindert.

»Du warst wirklich im Kloster?«, klang der impulsive Yannik vor Verblüffung hell wie ein Mädchen.

Ich fasste mir an die Wangen, die hoffentlich nicht so rot wie heiß waren. Mit Hanna und Beck fühlte ich mich ein bisschen vom Leben betrogen. Natürlich hatte ich sie lieb, doch eine große Hilfe waren sie mir nicht gerade.

Hanna war sich indessen klargeworden, dass sie die Geschichte völlig falsch angegangen war. Denn plötzlich wollte gar niemand mehr was von dem Italiener und der Entstehung meines Kosenamens wissen. Sie hatte sich also selbst ins Abseits gestellt.

Jetzt tat sie mir allerdings leid. Ich rettete, was zu retten war: »Eins nach dem anderen, okay?« Mit einer Handbewegung bat ich Hanna, der Geschichte endlich das richtige Gesicht zu geben.

»Wir haben sie also abgeholt.« Hanna pausierte und schaute in die Runde. Sie schien wohl sicherstellen zu wollen, dass sie nicht ein drittes Mal unterbrochen würde. »Ein paar der anderen Nonnen haben sie tränenüberströmt am Auto verabschiedet. Der Abschied schien eine Ewigkeit zu dauern. Deshalb hatte Beck sich entfernt und sich eine Zigarette angesteckt. – Damals hat er noch geraucht.« Sie versuchte, die Geschichte künstlich in die Länge zu ziehen, damit es nicht auffiel, dass sie eigentlich gar nicht so spektakulär war, wie sie diese angepriesen hatte. Denn wen interessierte es schon, ob Beck das Rauchen müde war, wenn es zu der Entstehung meines Kosenamens nicht beträchtlich beigetragen hatte? Aber das war eben typisch Hanna! »Und ich habe mich schon ins Auto gesetzt und mir den Nagel meines Ringfingers gefeilt, nachdem ich ihn mir bei dem Versuch, Püppis Koffer in den Kofferraum zu hieven, abgebrochen hatte.« Die Lider der Jungs wurden schwerer und schwerer. Ich musste mir ein Schmunzeln verdrücken, denn ich mochte Hanna nicht brüskieren. »Plötzlich liefen drei Männer – sie waren mit Sicherheit zwanzig Jahre älter als wir und Italiener – an dieser Szenerie vorbei. Dabei blieb einer der Männer stehen und brabbelte irgendwas von Oh, mio Dio, è lei! – Ich spreche ganz gut Italienisch (auch Englisch und Französisch … und ein bisschen Türkisch und Russisch), deshalb weiß ich, dass es so viel heißt wie: O mein Gott, sie ist es! Erst dachten wir, es würde sich auf seinen Glauben an Gott beziehen, aber dann, als sich auch endlich Heidi zu ihm – den scheinbar Verrückten – umdrehte, war klar, dass er ausschließlich sie gemeint hat. Er flitzte zu ihr, nahm ihre Hände in seine, fiel auf die Knie und verkündete in einem … na ja, sagen wir mal Mix aus Italienisch und Deutsch: Di fronte a tanta bellezza c'è da strabiliare, Püppi. Wobei sich das Deutsch lediglich auf Püppi bezog.« Hanna brach in schallendes Gelächter aus. Dann übersetzte sie stolz: »Das heißt übrigens: Vor so viel Schönheit bleibt einem ja die Luft weg, Püppi. – Das Resümee war, dass Beck ihn mit einem Brecheisen von Heidi abtrennen musste und wir ihn noch aus der Ferne Amore-Amore-Amore brüllen hören konnten.«

Gelangweilt blinzelten die Jungs ihr entgegen. Es war offensichtlich, dass sie nur auf das Ende der Geschichte gewartet hatten, ohne richtig zuzuhören, nur damit es endlich mit dem Klosterthema weitergehen konnte. Sie waren sogar dermaßen mit ihren Gedanken abgeschweift, dass sie nicht einmal mitbekommen hatten, dass die Geschichte längst geendet war.

»Das war's, Jungs«, quakte Hanna und zeigte ihre Hände offen nach oben, als wären sie kleine Hündchen, die nicht akzeptieren wollten, dass die Leckerlis ausgegangen waren.

»Oh«, tönten alle drei wieder im Chor.

»Super Geschichte«, meinte Philipp und rang sich ein Lächeln ab, um darüber hinwegzutäuschen, dass seine Meinung dazu unehrlich war. Blitzschnell wandte er sich wieder mir zu und wollte es endlich genau wissen: »Du warst also neun Jahre lang im Kloster? Warum?«

Pfff-tzzz-äh ... Warum ging man ins Kloster? Um sich Jesus Christus in Gebet und Arbeit hingeben zu können, ohne einem anderen zu gehören? Um sich im Glauben an seine Gegenwart entfalten und zu sich selbst finden zu können? Und so was?

»Um Jesus Christus zu dienen ...«

»Nein, nein, nein!«, unterbrach Philipp mich unsensibel hastig und lautstark, was darauf schließen ließ, dass er mit dieser Thematik nichts am Hut hatte und die Menschen, die sich dem anschlossen, für vollkommen durchgeknallt hielt. »Ich meine, wie kommt man dazu, seine Freiheit, sein ganzes Leben aufzugeben, indem man ins Kloster geht? Kann man sich nicht auch in Freiheit seinem Glauben widmen und Gott in Freiheit dienen?«

Ich fühlte mich auf den Schlips getreten. Bis jetzt war alles so gut zwischen uns gelaufen. Und nun gab es schon den ersten Verriss. »Ja … klar ... logisch kann man das«, stammelte ich drauf los. Wie sollte ich ihm seine Fragen nur beantworten? Das, was ursprünglich erheblich zu meiner Entscheidung beigetragen hatte, war einfach nicht mehr up to date und viel zu weit von dem Damals entfernt, statt in der Lage zu sein, die richtigen Worte für eine halbwegs plausible Erklärung für einen Nichtgläubigen zu finden. Aber klar war auch: wenn ich immer noch danach leben würde, wäre ich nicht hier, sondern weiterhin im Kloster. Es lag also auf der Hand, dass ich einen Wandel durchmachte. Dass dieser Lebensabschnitt nun in seiner Kritik stand, war vollkommen unnötig.

»Also, ich finde das irre«, brachte sich Yannik begeistert ein. »Okay, so ein Klosterleben wäre nix für mich, aber ich finde das richtig aufregend.«

Ich lachte: »Nein, nein, so ein Klosterleben ist alles andere als aufregend. Deshalb sitze ich ja jetzt auch hier … mit euch … in Freiheit!« War das Klartext genug?

Na, jedenfalls hoffte ich, dass Philipp sich damit zufrieden geben würde und erhob mich. Ich war fertig mit dem Essen. Und nach dem Gespräch war mir der Appetit sowieso vergangen. Weder bereute ich das Klosterleben noch schämte ich mich dafür, doch ich hatte es aus gutem Grund hinter mir gelassen. Also, warum musste mich das Thema bis ans Ende meiner Tage verfolgen und an meinen Nerven zehren?

 

»Warum bist du so kritisch, Philipp?«, hakte Beck nach. Er zielte doch hundertprozentig wieder auf irgendetwas Bestimmtes ab?

»Oh …«, wurde Philipp sich auf einmal über seine pampige Art bewusst. »Ich habe nichts gegen Heidis Glauben, ich kann nur nicht verstehen, warum man sich selbst dafür wegsperrt, isoliert, wenn man bedenkt, wie schön das Leben und die Welt ist. Ich meine, sich freiwillig dem Reisen, Shoppen, Feiern und solchen natürlichen Dingen wie die Liebe zu entsagen. Das ist doch im Grunde genommen eine Art Selbstmord. – Ich bilde mir ein, dass Gott uns dieses Leben geschenkt hat, also, warum sollte es falsch sein, daran uneingeschränkt teilzunehmen?«

In Becks Ohren schien nur das Wort »Liebe« nachzuhallen, da Liebe natürlich auch Sex nach sich zöge, während ich noch völlig beeindruckt war von Philipps weitem Bewusstsein.

SEX! Im Übrigen ein Thema, dem ich vor, während und nach dem Klosterleben weitläufig aus dem Weg gegangen war – bis jetzt! Warum Beck sich allerdings daran störte, dass ich sexuell aktiv werden könnte (wollen wir mal ehrlich sein: sich gegen das Bedürfnis zu wehren, würde schon eine Menge Disziplin erfordern, besonders dann, wenn man so reizvollen Gestalten wie Philipp, Yannik und Levi gegenübergestellt war), ging über meinen Horizont. Ihm musste doch klar sein, dass ich mich früher oder später damit auseinandersetzen würde?

»Schon klar, dass du dir ein Leben ohne Sex nicht vorstellen kannst.«

Ich schämte mich in Grund und Boden und hielt mich krampfhaft an der Spüle fest. Mein Bedürfnis, an den Esstisch zurückzukehren, schrumpfte mit jedem weiteren Wort aus Becks Mund.

Philipp schnaufte entsetzt. »Ich habe nichts von Sex erzählt!«

Selbst Hanna hatte Becks Äußerung ins Schleudern gebracht. »Du spinnst doch, Beck!«

»Ich glaube, wir sollten besser abschwirren«, hatten Yannik und Levi für heute genug. Sie standen auf, bedankten sich für das Essen und ließen sich von Philipp zur Tür bringen. »Bleibt es bei Freitag?«, rief Yannik, meinte vermutlich mich, doch es war Hanna, die mit einem kräftigen Ja antwortete.

»Tut mir leid, Philipp. Ich bin etwas empfindlich, was das Thema angeht«, versuchte Beck, sich aus der verzwickten Lage herauszuretten. Er war klarsichtig genug, um zu verstehen, dass es er war, der die beiden Jungs vergrault hatte. Das hatte er damit sicher nicht bezwecken wollen.

»Ach, das merkt man kaum«, begegnete Philipp ihm mit Ironie. »Wieso eigentlich? Ich meine, Heidi ist achtundzwanzig, vernünftiger als nötig – insofern ich das einschätzen kann – und nicht gerade auf den Kopf gefallen.«

Indessen räumte Hanna den Tisch ab und brachte das dreckige Geschirr zu mir zur Spüle. So nutzte ich also die Gunst der Stunde und kümmerte mich um den Abwasch, lehnte sogar Hannas Hilfe kategorisch ab, nur damit sich die Beschäftigung lang genug hinziehen und mir die Zeit geben würde, meine natürliche Gesichtsfarbe wiederzuerlangen und mich zu erden.

»Ich möchte einfach nur das Beste für meine kleine Schwester. Und mich beunruhigt einfach der Gedanke, dass irgendein dahergelaufener Penner sie ausnutzt. Nicht zuletzt, weil sie noch Jungfrau ist.«

So! Damit wäre der Vogel abgeschossen.

Ich versuchte, mich zu beherrschen, wollte meine Fingernägel ins Edelstahl bohren, doch sie knickten nur ein, da sie vom Wasser aufgeweicht waren.

Ich nahm das Geschirrhandtuch, trocknete meine Hände damit ab und wandte mich Beck zu. Erst einmal starrte ich ihn eine Weile fassungslos an, weil ich nicht wusste, wo ich anfangen sollte. Sollte ich ihn anbrüllen oder sollte ich meine Stimme schonen? Sollte ich ihn auf seine Geschwätzigkeit ansprechen oder sollte ich ihm gleich eine reinhauen? Sollte ich mich Philipp gegenüber rechtfertigen oder so tun, als könnte ich über all die peinlichen Vorfälle, in die Beck mich seit seinem Eintreffen verwickelt hatte, stehen?

Philipp sah mir an, dass ich kurz vorm Explodieren war. »Na ja, ich denke, ich stelle keine Gefahr dar, Beck. Aber du solltest dich wirklich in Respekt üben.« Er zeigte auf das Häufchen Elend, das ich darstellte. »Schau mal genauer hin. Du tust Heidi keinen Gefallen mit deiner Sorge. Du belastest sie damit nur.«

Er gab mir das Gefühl, normal zu sein. Und zwar so wie ich war. Und doch befürchtete ich, dass er sich fortan unwohl fühlen würde. Er musste den Eindruck gewonnen haben, dass meine Familie und ich verrückt wären.

Wenngleich er sich wacker schlug. Es wirkte vielmehr, als würde ihm all das nichts ausmachen. Andererseits konnte ich den Menschen nun mal nur vor den Kopf schauen und nicht hinein. Vielleicht plante er gedanklich ja schon wieder seinen Auszug?

Zumindest erwies er sich als anständig und ließ uns allein.

»Du bringst mich in Verlegenheit, Beck«, schrie ich ihn an, sobald Philipp in seinem Zimmer verschwunden war. Mir war klar, dass er mich trotzdem hören konnte, wenn ich schrie, aber die Tatsache, dass ich seinen Blicken nicht mehr ausgeliefert war, reichte, um mutig zu sein.

»O Gott, Püppi! Was ist denn daran blamabel, wenn man noch Jungfrau ist?«

»Schh«, presste ich das zischelnde Geräusch mit kräftigem Klang heraus. Selbst wenn es nun keine Neuigkeit mehr war, war es bei der erneuten Erwähnung nicht weniger peinlich. »Es ist kein Geheimnis, aber etwas Intimes.« Und außerdem sollten die Jungs mich nicht für einen Freak oder Hinterwäldler halten.

Beck hatte es geschafft, in nur wenigen Minuten das Image von mir zu wahren, das ich loszuwerden entschlossen war. Wie sollte ich mich weiterentwickeln, wenn es Menschen wie Beck nicht zuließen und immer wieder die frühere, keusche Heidi ausgruben?

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