Håkon, ich und das tiefgefrorene Rentier (P.S. Fröhliche Weihnachten)

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»Ich hätte ja mit meinem Handy unauffällig ein Foto von der Frau gemacht. Aber das hat sich in dem Moment erübrigt, als ich ihr Gesicht gesehen habe.«

»Du kennst sie?«, waren Mailin und ich synchron geplättet.

»Jetzt haltet euch fest: Es ist ... Trommelwirbel, bitte ... deine Chefin.«

»Frau Hæreid?«, stellten Mailin und ich, erneut synchron, glockenhell sicher, dass wir von derselben Frau sprachen.

»Jepp! Dein liebster Håkon fährt auf alte Schachteln ab.«

Das Staunen war viel zu groß, um jetzt noch etwas dazu sagen zu können. So blieb mir als einzige Möglichkeit, diese Nachricht erst einmal sacken zu lassen.

Fünf

Das Buch, mit dem ich mich am späten Abend abzulenken gedachte, hielt ich die meiste Zeit nur zur Zierde in der Hand. Ich starrte auf die Buchstaben, las zwei oder drei Sätze, konnte jedoch dessen Sinngehalt nicht verarbeiten. Ich war völlig außerstande mich darauf zu konzentrieren. Wieder und wieder führten mich meine Gedanken zu ihnen: Håkon und die alte Frau Hæreid. Vielleicht hätte ich besser daran getan, nicht herauszufinden, wer die Frau an seiner Seite gewesen war, denn nun, befürchtete ich, würde es mir noch schwerer fallen, Schlaf zu finden. Aber hätte ich denn ahnen können, dass es ausgerechnet meine Chefin war, zu der er sich hingezogen fühlte? Ich war auf ein mir fremdes Gesicht eingestellt gewesen, auf ein hübsches Gesicht, an dem ich mich allerhöchstens gemessen und das Komplexe in mir wachgerufen hätte.

Ich hatte vorgehabt, ihm zu mailen und ihn darauf anzusprechen, doch plötzlich war mir in den Sinn gekommen, dass mich das eigentlich gar nichts anging und er es missdeuten könnte, wenn ich meine Nase in seine Angelegenheiten steckte. Ich wollte nicht, dass sich irgendetwas zwischen ihm und mir änderte, wollte lieber, dass alles so blieb wie es war.

Spätestens als es zaghaft an meiner Tür klopfte, warf ich das Handtuch und legte das Buch beiseite. Ich kannte nur eine Person in diesem Haushalt, die das in der Art eines Geistes – kaum vernehmbar, ohne jeden Takt – tat: Mami! Und da sie es war, die sich über die steile Treppe nach oben zu mir in die kleine Einliegerwohnung bemüht hatte, konnte ich mir den Grund ihres Erscheinens so kurz vor dem Schlafengehen schon vorab zusammenreimen.

Ich rief sie herein. »Hat Yva also gequatscht?«

Mein Kommentar berührte Mami kein bisschen, vielmehr wirkte sie, als wäre sie bereits im Halbschlaf. Beim Gehen gab sie Acht und hob ihr langes weißes Nachtkleid ein Stück an den Seiten an, um nicht versehentlich draufzutreten und zu stürzen. Nicht nur ihre Art zu klopfen, auch ihr Nacht-Outfit war schaurig. Im Dämmerlicht, das meine Nachttischleuchte aussandte, schien es, als wäre sie aus einem dieser Geisterfilme entsprungen.

»Schön hast du es dir hier gemacht«, versuchte sie, mich zu verwirren. Verständlich, denn sie war nicht auf Streit aus. Zudem schlug die Uhr beinahe Mitternacht und jeder im Haus wollte endlich zur Ruhe kommen. »Ich war lange nicht hier oben gewesen.«

Ein Dreivierteljahr, um genau zu sein. So wusste sie nur aus meinen Erzählungen von dem Farbwechsel von nicht mehr so strahlendem Blütenweiß und pubertärem Purpur auf Pistazie im Wohnbereich, Veilchen im Schlafbereich, Quitte im Küchenbereich und Sommergelb im Badezimmer und den neuen modernen Möbeln, für die die altbackenen, klotzigen weichen mussten.

»Mit deiner rheumatoiden Arthritis musst du dich hier auch nicht extra hoch quälen, Mami.«

Sie zog einen Stuhl ans Bett, in dem ich es mir schon seit zweiundzwanzig Uhr bequem gemacht hatte, und setzte sich. Es gab nicht viele Gelegenheiten, in denen ich sie mit offenem Haar sah. Ehrlich gesagt konnte ich mich nicht einmal mehr daran erinnern, wann ich sie zum letzten Mal so gesehen hatte. Ich wusste nur, dass es verdammt lange her war, da es ihr inzwischen bis zur Taille reichte. Doch ich verstand, warum sie es in einem fort am Hinterkopf als Knoten trug. Es war struppig, so sehr, dass es zu allen Seiten abstand.

»Ich muss einmal unter vier Augen mit dir sprechen.«

»Du willst nicht mit mir sprechen, sondern mir die Fahrt nach Oslo ausreden«, kam ich gleich auf den Punkt.

»Yva sagte, es wäre freiwillig. Warum riskierst du dein Leben? Ist dieser Håkon es wirklich wert, auch jetzt noch, nachdem du erfahren hast, dass er in festen Händen ist und keine Hoffnung mehr für dich besteht?«

»Kann Yva denn nicht ein einziges Mal ihr Plappermaul halten?«

»Du weißt sehr wohl, dass sie das nicht tut, um dich zu ärgern. Auch wenn es dir nicht so vorkommt – sie sorgt sich nicht weniger um dich als ich.«

Durchaus war Yva ein fürsorglicher Mensch, aber hin und wieder konnte dieser positive Charakterzug nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie eine Tratsche war; eine noch viel größere als unsere Oma sogar. Und manchmal wurmte es mich einfach, denn das zeigte sie wiederum unsensibel und taktlos. Offenbar wollte sie nicht kapieren, dass man Persönliches nicht einfach so ausposaunte, auch nicht innerhalb der Familie. Ich sah nicht ein, mich für jeden Schritt, den ich nahm und für jede Entscheidung, die ich traf, zu rechtfertigen. Ich war kein kleines Kind mehr, das vor der bösen weiten Welt beschützt werden musste. Ich war alt genug, um zu wissen, was ich tat!

»Mami, Håkon ist mir vor allem ein guter Freund. Und ich werde ihn begleiten, damit er die trostlose lange Fahrt nicht allein durchstehen muss. Das würde ich für jeden tun, der mir nahe steht, nicht nur für potenzielle Ehegatten. Jeder braucht manchmal jemanden.«

In dieser Sekunde vibrierte mein Handy auf der Matratze. Ich hatte eine Textnachricht erhalten. Ich nahm es auf und sah nach, von wem sie war. Håkon! Als hätte das Gespräch über ihn seine inneren Alarmglocken läuten lassen.

Höchst unheimlich!

Auch ohne online zu gehen, konnte ich die Nachricht lesen. Er wollte wissen, ob ich noch wach sei und ob ich denn nun mit Frau Hæreid gesprochen hätte wegen des Urlaubstages. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich vergessen hatte, ihm Bericht zu erstatten. Wiederum war ich davon ausgegangen, dass er während seines intensiven Kontakts zu ihr bereits davon erfahren hatte. Wie auch immer, gerade konnte ich ihm nicht antworten. Gewissermaßen stand ich unter Schock. Ich brauchte Abstand. Wenigstens für heute.

»Ich weiß ja, dass du nur Gutes tun und mich nicht ärgern willst. Aber ich mache mir wirklich große Sorgen.«

»Das tust du stets, Mami.«

»Du hast recht.«

»Selbst als ich vor acht Jahren den Dachboden bezogen habe. Wegen der steilen Treppe, weißt du noch?«

Sie grinste verlegen und nickte.

Für eine kleine Weile blieb ich still, um ihr ein wenig Bedenkzeit über die gewechselten Worte zu geben. Dann erklärte ich: »Håkon ist ein Spitzenfahrer, sehr verantwortungsbewusst, erst recht, wenn sich jemand anderes im Transporter befindet. Auch er ist ein sehr fürsorglicher Mensch. Deshalb vertraue ich ihm. Wäre dem nicht so, würde ich ganz gewiss nicht mit ihm fahren. Aber ich fühle mich sicher bei ihm.«

»Ich wünschte nur, ich wäre ihm wenigstens einmal zuvor begegnet, um mir selbst ein Bild von ihm machen zu können. Aber natürlich vertraue ich auf deine Worte. Ich weiß, dass du nichts Unüberlegtes tun würdest. Meine Angst kannst du mir jedoch nicht nehmen. Und sie ist gerechtfertigt. Dieses Mal schon. Das kannst du nicht leugnen.«

»Ich baue auf das norwegische Schneeräumkommando.«

»Ich nicht so.« Schwermütig senkte sie den Kopf.

»Es ist doch noch gar keiner gestorben, Mami.« Ich lachte kurz auf. »Alles wird gut, bestimmt.«

Träge erhob sie sich. »Bestimmt.« Sie stellte den Stuhl an seinen Platz zurück, trat noch einmal an mein Bett heran, beugte sich über mich und drückte mir einen Schmatzer auf die Stirn. »Gute Nacht, Goldschatz.«

Ich war zwölf oder dreizehn gewesen, als sie das zum letzten Mal getan hatte. Sofort spulten sich Erinnerungen ab. Wunderschöne Erinnerungen.

Warum nur konnten wir unsere Kindheit nicht einfach genießen? Stattdessen hatten wir es nicht abwarten können, endlich erwachsen zu werden, um jede Form der Freiheit leben zu dürfen. Es war nicht übel, erwachsen zu sein, doch nichts ließ uns so viel Geborgenheit zukommen wie unsere Kindheit, nichts in dieser Welt könnte je einen mütterlichen Gute-Nacht-Kuss auf die Stirn ersetzen.

»Nacht, Mami.«

Als sie wieder fort war, schaltete ich das Licht aus und legte mich auf die Seite. Zu meiner Überraschung fand ich schneller in den Schlaf als gedacht.

Kaum hatten wir uns am nächsten Morgen für einen Kaffee an der Verkaufstheke niedergelassen, ließ Håkon endlich heraus, was ihn bedrückte: »Warum hast du nicht auf meine Nachricht reagiert?«

Während des Einlagerns der Neuware und des Verladens der Postsendungen hatte er kaum ein Wort mit mir gesprochen, so atmete ich erleichtert auf, als ich erfuhr, dass ihn lediglich dieser Punkt belastete. Ich hatte schon die schlimmsten Befürchtungen gehabt, wie etwa, dass ihm über Nacht ein Licht aufgegangen war und er Yva, wie auch immer, mit mir in Verbindung gebracht hatte. All das hatte sogar dazu geführt, dass ich den Kaffee mit ihm gar nicht richtig genießen konnte.

»Ich bin zeitig eingeschlafen und habe gar nicht mitbekommen, dass du dich gemeldet hast.« Ich fühlte mich schrecklich, weil ich ihn belog. Unnötig belog.

»Wäre es zu viel verlangt gewesen, wenn du dann wenigstens heute Morgen darauf geantwortet hättest?«

Warum war er auf einmal so dünnhäutig? Das war ich überhaupt nicht gewohnt von ihm. Doch aus unverständlichen Gründen gefiel es mir. Vielleicht, weil ich mich wertvoll fühlte. »Ich kann in der Früh nicht klar denken.«

 

»Also übergehst du meine Mail lieber?«

»Ich habe sie gelesen!«

»Na gut, dann anders: Also ignorierst du mich lieber?«

Streng genommen hatte ich das getan. Und dass ich mir der Wirkung nicht bewusst war, entschuldigte die Tat nur so lala. »Deshalb hast du heute auch ein Gemüt wie eine Brummfliege, hm?«

»Ist das denn kein Grund?«

»Eigentlich nur, wenn wir uns im Stande der Ehe befänden. Aber ansonsten ...« Ich zuckte mit den Schultern, schmunzelte schalkhaft und knuffte seinen Arm, der auf der Theke mit dem Kaffeebecher in der Hand ruhte.

Er grinste und nahm einen hastigen Schluck aus seiner Tasse. »Demzufolge darfst du solange auf meinen Gefühlen erbarmungslos herumtanzen, wie du mir bloß eine gute Freundin bist, verstehe ich das richtig?«

Ich grübelte angestrengt. So herum betrachtet ergäbe mein Argument keinen Sinn. Andererseits hatte ich lediglich nicht auf seine Textnachricht reagiert. Wenn ihn allein das schon dazu veranlasste, mich erbarmungslos zu nennen, wollte ich gar nicht erst wissen, was er von mir hielt, wenn ein echtes Problem auftauchte.

»Ich hatte keine Ahnung, dass es dir dermaßen nahe gehen könnte ...«

»Deine Ignoranz geht mir nahe.«

»Das wird nicht wieder vorkommen, großes Indianer-Ehrenwort.« Ich machte eine Schwurhand.

»Das wäre auch ein Unding, jetzt, wo du im Bilde bist.«

Ich lächelte, süßer als je zuvor, in der Hoffnung, er würde mir vergeben. Das Lächeln, das er erwiderte, vergab mir in der Tat. Und jetzt schmeckte mir der Kaffee auch wieder.

Seit Langem schon war mein Gemütszustand nicht mehr so grandios wie heute. Zum einen lag ein verlängertes Wochenende, feiern mit Mailin und die Fahrt nach Oslo vor mir, zum anderen blieb Frau Hæreid dem Laden heute gänzlich fern. Gleich in der Früh hatte sie sich telefonisch krank gemeldet und mir das Zepter überlassen. Meine Freude darüber war größer als meine Verblüffung, darum hatte ich keine Fragen gestellt. Doch jetzt, da Håkon vor mir saß, konnte ich dem Gedanken nicht mehr entkommen, dass es ihr gestern Abend neben ihm noch sichtlich gut gegangen war. Es ärgerte mich, dass ich ihn nicht frei darauf ansprechen konnte.

»Übrigens hat sie Ja gesagt.«

Håkon stand neben sich. »Wer hat Ja zu wem gesagt?«

»Frau Hæreid zu mir.«

»Du hast ihr einen Heiratsantrag gemacht?« Er grölte vor Lachen.

»Ha-ha, sehr witzig.« Mit gespielter Ernsthaftigkeit fügte ich an: »Aber mach ruhig weiter so, dann kannst du am Sonntag allein fahren.«

Sein Lachen endete abrupt. »Oh«, machte er, »das will ich natürlich nicht riskieren.«

»Braver Junge.«

»Obwohl ich diese neue, sehr niederträchtige Seite an dir beängstigend finde.«

»Wieso, was tue ich denn?«, stellte ich mich unwissend und kicherte in mich hinein.

»Du setzt mir das Messer an die Kehle und zwingst mich zu kuschen. Erpressung nenne ich das.« Er setzte eine bedeutungsvolle Miene auf.

»Und ich nenne das Einhalt gebieten. Denn du bist eindeutig zu frech.«

»Oh, ach so, ich dachte du magst freche Jungs?«

»Mit anderen Worten, du willst mir gefallen?«

»Ganz recht«, lachte er.

»Dann gebe ich dir einen guten Tipp: So klappt das schon mal nicht.« Auch ich lachte. Nur kurz, da ich eine Bitte an ihn hatte. Diese zu äußern, fiel mir sagenhaft schwer, denn ich wusste, sie würde mich in Schwierigkeiten bringen. »Du wirst mich am Sonntag bei mir daheim abholen, richtig?« Diese Frage war überflüssig, denn dessen war ich mir schon im Vorhinein bewusst gewesen und hatte deshalb bereits Vorkehrungen getroffen, hatte eindringlich darüber nachgedacht, wie ich Håkons Kleintransporter tunlichst unauffällig erreichen könnte, ohne dass meine Eltern und insbesondere Yva auf ihn einstürmen und mich in Verlegenheit bringen könnten. Doch all das war nun hinfällig. Nach dem abendlichen Gespräch mit Mami hatte ich den Entschluss gefasst, ihr die Gelegenheit zu geben, Håkon einmal auf den Zahn zu fühlen. Das war ich ihr schuldig. Sie sollte wissen, dass ich ihre Angst um mich, doch auch ihre Zweifel gegenüber dem ihr fremden Mann, in dessen Händen quasi mein Leben lag, ernst nahm und respektierte. Möglicherweise würde es sie beschwichtigen.

Hoffentlich würde es das.

»Klar. Ist das ein Problem?«

»Nein … nein, gar nicht.« In letzter Zeit log ich ein Tick zu viel, stellte ich mit Schrecken fest. »Ich wollte dich nur bitten, dir eine Viertelstunde Zeit zu nehmen, um … na ja, meine Eltern kennenzulernen. Ginge das? Ich meine, wäre das drin? Möglich? Vielleicht? Eventuell?«

»Natürlich, auch wenn es mich leicht irritiert.« Obwohl man ihm das gar nicht ansah. Vielmehr schien es für ihn das Normalste der Welt zu sein.

»Das muss es nicht. Es gibt eine plausible Erklärung dafür.« Die ließ ich ihn haarklein hören. Erst überlegte ich, mir eine Träne herauszudrücken, um sein Mitleid zu erwecken und ihn weichzukochen, doch dann fiel mir gerade wieder rechtzeitig ein, dass er sich längst damit einverstanden erklärt hatte und die Aufklärung rein dem Zweck diente, dass er mich für weniger durchgeknallt hielt. Mir war klar, dass es dafür allgemein schon zu spät war, doch er mochte mich trotzdem. Also rettete ich, was zu retten war, damit das auch dabei blieb.

Nachdem ich mit meiner Ausführung geendet war, zeigte er sich verständnisvoll. »Ich weiß, manchmal ist die Fürsorge einer Mutter wirklich lästig. Aber stell' dir nur mal vor, es würde sie nicht mehr interessieren, dann würdest du ganz sicher blöd aus der Wäsche gucken. Die Liebe deiner Mutter ist beeindruckend groß, und Liebe sollte man nicht mit Füßen treten. Niemals, gleichgültig, wer sie dir entgegenbringt. Heutzutage ist Liebe und Harmonie ein kostbares Gut.« Diese Worte wollten nicht nur Eindruck schinden. Sie waren ihm ernst – todernst. An seinem steifen Gesichtsausdruck war das klar erkennbar.

»Du hast vollkommen recht, Håkon.«

Mit einem prall gefüllten Einkaufskorb näherte sich eine Ü-Vierzigerin der Kasse. Håkon trat zur Seite, um den Zugang zu mir freizugeben. Freundlich lächelnd empfing ich sie und kassierte ab. Mich frustrierte die Unmasse an Artikeln, die über die Ladentheke ging, denn es kostete mich exakt fünf Minuten. Zeit, die von Håkons und meiner Zeit abging und wir mit Schweigen verbrachten.

Ich bin eine elende Egoistin, ging mir durch den Kopf, als ich mich entsann, dass mir durch die stundenlange Fahrt am Sonntag noch genug Zeit mit ihm bleiben würde.

Als sich die Kundin bei mir verabschiedete, schaute Håkon ihr nach. »Sehr attraktiv für ihr Alter, findest du nicht?«

Nun war es amtlich, und zwar nicht nur sein Interesse an reifen Frauen, auch sein Desinteresse an mir. Denn welcher Mann, der die Absicht hatte, einer Frau zu imponieren, würde statt der Angebeteten einer anderen schmeicheln?

»Alle!«, behauptete Mailin am darauffolgenden Tag, als wir uns für die große Winterparty eines befreundeten Hobby-DJs zurechtmachten.

»Hör auf!«

»Wenn ich es dir doch sage, Linnéa. Alle Männer tun total unlogische Dinge und verhalten sich total unsensibel.«

»Ja, aber doch nicht, wenn sie eine Frau erobern wollen!?«

»Selbst dann! Nicht rundweg, vierundzwanzig Stunden die Woche – mit viel Mühe und Konzentration können sie eine Frau auch beglücken –, aber die Fettnäpfchen, in die sie treten, haben es dafür ganz schön in sich, so sehr, dass der Frau eben hin und wieder ernsthafte Zweifel kommen.«

Und Mailin musste es ja wissen. Ich erinnerte mich daran, als sie ins Telefon geschluchzt und Kristoffer zum Teufel gewünscht hatte, weil er ihr bei ihrer vierten Verabredung ihrer Kennlernphase eröffnet hatte, dass er nicht vorhatte, jemals zu heiraten und sich Kinder anzuschaffen. Für ihn war es nur eine saloppe Meinungsäußerung gewesen, für sie das Ende der Welt und der maßgebliche Grund dafür, sich besser nicht auf ihn einzulassen, und das, obwohl er ansonsten eine Wucht und schrecklich verliebt in sie war. Doch mit dieser Meinung hatte er nicht nur die Wahrheit über seine Vorstellungen von einer Beziehung und vom Leben ausgesprochen, die so gar nicht mit Mailins übereinstimmten, sondern, was noch viel schlimmer war, ihr hauptsächlich die Chance verwehrt, diejenige zu sein, die seine Meinung ändern könnte, und das schon, bevor überhaupt etwas Ernstes zwischen ihnen entstanden war. Trübe Aussichten waren noch nie ein besonders großer Anreiz gewesen, Zeit und Energie in eine Sache zu investieren.

Als sich die Gemüter wieder beruhigt hatten, hatte sie jedoch feststellen müssen, dass es längst um sie geschehen war und sie nicht mehr auf ihn verzichten konnte. Außerdem hatte sie all ihre Hoffnung darauf gesetzt, dass er seine Meinung eines Tages ändern würde. Und das hatte er auch getan. Ziemlich flott sogar. Mittlerweile waren sie mehr als sechs Jahre ein Paar, davon fünf Jahre verheiratet und Eltern einer dreijährigen Tochter, die Kristoffer nun verehrte wie keinen anderen Menschen.

»Du scheinst nicht ganz davon überzeugt zu sein, dass deine Chefin und Håkon ...«

»Wowowow, es gibt genug Grund zur Annahme, dass sie sich auch nur besonders gut verstehen«, fuhr ich Mailin zur rechten Zeit in die Parade. Ich ertrug Worte wie ›Verliebt‹ oder ›Zusammen‹ oder ›Liebespaar‹ nicht, wenn sie nicht mit mir, sondern mit einer anderen Frau in Verbindung gebracht wurden. »Verdacht besteht.«

»Es besteht auch der Verdacht, dass du dir in deiner Verzweiflung nur etwas vormachst.«

»Ich mache mir ganz bestimmt nichts vor! Ich hege nur die Hoffnung ...«

»Man muss sich aber auch eingestehen können, dass alles Hoffen vergebens ist.« Sie nahm ein knielanges Kleid aus ihrem Kleiderschrank und warf es mir zu. »Probier das mal an. Das sieht bestimmt bombastisch an dir aus.«

Es war schlicht und schwarz. Gute Voraussetzungen, um es in die engere Auswahl jener Kleider zu schaffen, die ich heute Nacht zur Schau stellen würde.

Da mein Kleiderschrank tendenziell nicht so sehr mit partytauglichen Klamotten ausgestattet war, war es in den letzten Jahren zur Tradition geworden, dass ich mich eben großzügig an Mailins Schrank bediente. Zudem hatte sie einen besseren Blick dafür, welches Kleidungsstück meine Vorzüge betonte und welches nicht. Aus diesem Grund war sie auch ein wahres Juwel auf Shoppingtouren, insbesondere für mich. Denn ich war mehr der biedere Typ, etwas, das Mailin zu respektieren verstand. Sie ließ mich wie ich war und wollte nie einen anderen Menschen aus mir machen. Dennoch konnte sie zwischen positiv und negativ bieder unterscheiden, war in der Lage, das Beste aus mir herauszuholen und Outfits für mich zusammenzustellen, die einerseits angesagt waren und in denen ich mich andererseits sauwohl fühlte.

Ich streifte mir das Kleid über. Es schmiegte sich um meinen Körper wie eine zweite Haut, schien nichts zu verdecken. Speziell meine Nippel traten auf eine Art und Weise zum Vorschein, wie es mir ganz und gar nicht behagte.

»Das sieht so sexy an dir aus«, jubelte Mailin in hohen Tönen.

»Wenn ich sexy aussehe, werde ich nie einen Mann finden, der es ernst mit mir meint.«

»Wir könnten das Kleid mit einem Jäckchen kombinieren, wenn dir das lieber ist.«

»Lieber würde ich erst gar kein Kleid tragen.«

»Aber du siehst so toll in Kleidern aus. Es wäre ein Unding, diesen Fakt zu ignorieren.«

»Aber ich will nicht die ganze Nacht lang angemacht werden.«

Schlagartig hielt Mailin in ihren Bewegungen inne und musterte mich mit schrägem Kopf. »Du widersprichst dich in einer Tour, merkst du das nicht?«

Ich zog die Schultern hoch, eine Geste, die meine Ratlosigkeit zum Ausdruck bringen sollte. »Mein Herz ist nun mal besetzt. Ich kann Håkon nicht so einfach beerdigen und sofort zu einem anderen Mann wechseln. Das kannst du mit Käse machen – wenn Edamer heute aus ist, greifst du alternativ zu Emmentaler –, aber nicht mit der Liebe deines Lebens. Ich meine, das macht man nicht einmal mit einem Haustier.«

»Aber der Vorschlag, auszugehen, kam doch von dir. Du hast davon gesprochen, Jungs aufzureißen, nicht ich.«

»Ja, weil ich an dem Tag hochmotiviert war, mich von Håkon zu lösen. Aber seit ich ihn und Frau Hæreid zusammen gesehen habe, will ich ihn mehr denn je.«

Sie nickte. »Aha, verstehe, dein Herz spricht eine deutliche Sprache, aber aufgrund der aktuellen Entwicklung zwingt dich dein Hirn, sich einzuschalten. Und an dieser Stelle kommen sich die beiden H's in die Quere und Widersprüche schleichen sich ein. Soweit richtig?«

 

»Richtig!«

»Na gut, dann blasen wir das Ganze ab und wir machen uns einen schönen DVD-Abend auf der Couch, in Ordnung?«

Ich war unschlüssig und brummte: »Ich weiß nicht. Ich habe mich schon so auf die Party gefreut ...«

»Dann gehen wir.«

»Nur, ohne Jungs aufzureißen.«

»Genau!«

Scharf nachdenkend legte ich den rechten Zeigefinger auf mein Kinn. »Andererseits, wenn ich es mir recht überlege, muss ich morgen sehr früh raus. Schon um fünf. Die Fahrt nach Oslo wird mich einige Energie kosten, ja, auch als Beifahrerin.«

»Dann doch DVD?«

»Das wäre wohl klüger.«

Daraufhin prusteten wir los.

»Woah, wir werden alt«, grölte Mailin.

Sie hatte recht. Wenn die Vernunft begann sich über das Vergnügen zu stellen und der Gedanke daran, seine Zeit gemütlich auf dem Sofa statt mit Feiern zu verbringen, Freude in einem auslöste, war es ein sicheres Zeichen dafür, dass man erwachsen geworden und angekommen war.

»Nun geht es steil bergab mit uns.«

Ich legte das Kleid ab und schlüpfte wieder in meine eigenen Klamotten, die aus einer engen, schwarz-weiß karierten Hose und einem kuscheligen schwarzen Pullover mit einem kultigen Aufdruck von einem weißen Plüsch-Yeti mit einer klassischen Nikolausmütze bestanden. Auch das bereitete mir Freude, so sehr, dass ich mich im großen Spiegel, der neben dem Kleiderschrank an der Wand befestigt war, eingehend betrachtete, während ich den Saum des Pullovers zurechtzupfte und meine Hose mit den Händen glättete.

Mailin sortierte ihre Kleider wieder in den Schrank ein. Dabei wirkte sie sehr nachdenklich. »Ich bin wirklich beunruhigt wegen morgen.«

»Wieso, was ist denn morgen?« Bestürzt riss ich meine Augen auf. Ich war fest davon überzeugt, dass ich etwas nicht mitbekommen hatte und erklärte mich freiwillig für die grauenvollste Herzensfreundin der Welt.

»Was morgen ist? Ehrlich, was morgen ist, fragst du?? Hallo??? Deine Fahrt nach Oslo!«

»Du machst Witze«, überschlug sich meine Stimme beinahe vor Fassungslosigkeit.

»Du nimmst das viel zu leicht. Und ich weiß, dass du es nicht tätest, wenn deine Begleitung nicht Håkon wäre.«

Ich wollte postwendend mit »Stimmt doch gar nicht« reagieren, als ich erkannte, dass es nur eine Lüge aus purem Trotz gewesen wäre. »Ich würde das ebenfalls für dich und meine Familie ...«

Augenblicklich fuhr sie mir über den Mund: »Du verstehst ganz genau, wie ich das meine. Natürlich würdest du das auch für andere, dir nahestehende Menschen tun, aber ich spreche von Menschen, die dir eben nicht nahestehen. Zum Beispiel von Arbeitskollegen.«

»Håkon ist nicht nur ein Arbeitskollege für mich.«

Mailin kam wieder zur Ruhe. Sie schnaufte tief durch. »Na schön, dir liegt etwas an ihm, schon klar. Aber ...«

»Nichts aber! Ich würde das auch für dich tun«, wiederholte ich energisch. Mein Blick bohrte sich tief in ihren, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen.

Sie schwieg sich aus.

»Mehr muss ich dazu nicht sagen, oder?«

Sie nickte und setzte das Einsortieren ihrer Kleider fort.

Eine Freundin wie Mailin hätte ich in meinen Kindertagen, doch hauptsächlich in meiner Jugend gebrauchen können. Leider waren wir uns erst mit neunzehn Jahren begegnet. Sie war eine Bekannte von Flóki gewesen – mein von Yva bereits erwähnter erster Exfreund. Genauer gesagt war Mailin ein Teil seiner Clique gewesen. Die bestand aus acht Mitgliedern. Kurz darauf aus neun, als ich dazugestoßen war. Doch nach der schweren Trennung von Flóki und den darauffolgenden Jahren hatte nur die Freundschaft zu Mailin bis zum heutigen Tage überdauert. Allerdings war es das reinste Kinderspiel gewesen, denn mit ihr war es wie Liebe auf den ersten Blick, weil wir uns auf ideale Weise ergänzten.

Vor ihr hatte ich keine beste Freundin. Ich hatte nicht einmal gewusst, wie sich eine solche darstellte. Denn für mich hatte jeder Mensch denselben Stellenwert, wenn sie mir nahe waren. Ich unterschied lediglich zwischen Familie, Freunde und Partner, da die Liebe zu den jeweiligen Personen im Format, nicht in der Größe abwich. Doch bei Mailin war das anders. Sobald sie in mein Leben getreten war, erfuhr ich einen neuen Verbindungsgrad: Die Seelenverwandtschaft.

»Trotzdem bin ich beunruhigt«, murmelte sie. »Willst du mich dafür etwa köpfen?«

Ich ging zu ihr hinüber, nahm sie fest in die Arme und gestattete ihr das letzte Wort.

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