Håkon, ich und das tiefgefrorene Rentier (P.S. Fröhliche Weihnachten)

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»Im Augenblick ist es wie verhext. Dabei genieße ich diesen Teil des Tages immer am meisten.«

»Du bist so ein Süßholzraspler!«

»Nur, dass ich es wirklich ernst meine. Wenn es um unsere heilige Kaffeezeit geht, verstehe ich keinen Spaß.«

»Wirklich mitgenommen siehst du aber nicht aus!«

»Das ist Tarnung. In meinem Job muss man seriös wirken.«

»Ach ja? Seit wann das denn?« Ich kicherte.

»Du Biest, du!«

»Du redest hoffentlich nicht mit mir?«

»Nein, nein, nur mit dem kleinen Teufel auf deiner rechten Schulter, Zuckerpuppe.«

»Na gut, dann kommst du noch mal glücklich davon«, näselte ich überheblich und mit einem Auge zwinkernd.

»Hey, flirtest du mit mir?«

Ich lachte exaltiert, um meine Verlegenheit zu verbergen. »Wir sind hier nicht bei Wünsch-dir-was.«

»Das ist aber jammerschade, denn ich wollte dich gerade nach deiner Handynummer fragen.«

Mir blieb der Atem stehen. Mir war, als säße ich in einer Achterbahn, die am höchsten Punkt des Lifthills angekommen war und kurz davor war, die Abfahrt hinunterzustürzen. »Ähm … ja … klar … wenn du sie … ähm … haben willst«, stotterte ich.

»Na, und ob! Würde ich dich dann danach fragen? Nur dich scheint das etwas – nun ja – nervös zu machen?«

»Es kommt nur so überraschend.«

»Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Erinnerst du dich noch an Montag, als wir uns am Abend im Café verabredet haben? Wir hatten vergessen, vorab eine Uhrzeit zu vereinbaren. Ich musste dich dann im Laden anrufen, konnte jedoch nicht mehr sicher sein, dass du noch dort bist. Ich habe mir wirklich Vorwürfe gemacht. Was, wenn du enttäuscht nach Hause gefahren und sauer auf mich gewesen wärst? Und da fiel mir auf, wie umständlich das alles ist und dass uns das nicht passiert wäre, wenn wir längst unsere Telefonnummern ausgetauscht hätten.«

»Stimmt, nach drei Monaten Freundschaft hätten wir das längst tun können.« Da wir nur in der Dienstzeit miteinander in Verbindung standen, hatte ich angenommen, dass ihm das Ladentelefon als Kommunikationsmittel genügen würde.

»Prima, dann lass uns endlich die Bäumchen in den Laden bringen, die Nummern austauschen und heute Abend ein wenig texten, einverstanden?«

Die Worte klangen wie Musik in meinen Ohren, denn nun waren wir schon einen zweiten Schritt weiter. Und der fühlte sich sogar noch schöner an als der erste. Wie konnte ich meine Freude da noch in Schach halten? Sollte das so weitergehen, würde ich bald explodieren.

Den restlichen Tag hatte ich auf den Abend hingefiebert, hatte mich auf nichts weiter als auf diesen einen Augenblick vorbereitet. Nun flegelte ich in meinem Bett, tief eingekuschelt in die Bettdecke, und lauschte weihnachtlichen Klängen, die das Radio spielte. Sogar einen Teller gefüllt mit allerlei Kleingebäck hatte ich neben mir auf die Matratze gestellt, an dem ich mich blind mit der einen Hand bediente, während die andere das Handy, von dem ich meinen Blick nicht einen Augenblick wenden konnte, fest umklammerte. Ich betete inständig, dass die Initiative von ihm ausginge. Zum einen, um sein Interesse an mir unter Beweis zu stellen, zum anderen, weil mir keine einführenden Worte einfallen wollten. Die Sorge davor, dass ich mich bis auf die Knochen blamieren würde, war zu groß, um es einfach zu riskieren.

Und dann ließ er endlich von sich hören. Einfach und gelassen. Darauf hätte ich nun auch kommen können!

- Was machst du gerade, Zuckerpuppe?

Meine Hand, in der ich das Handy hielt, zitterte vor Nervosität. Liebend gern hätte ich sofort darauf geantwortet, doch ein wenig Zeit gab ich mir dann doch, schließlich wollte ich nicht verzweifelt rüberkommen.

- Nicht das, was Männer gemeinhin annehmen, was Frauen um diese Uhrzeit tun.

- Du meinst, schlafen?

- Hahahaha. Genau das!

- Stattdessen tust du nun was?

- Wachliegen und mit dir schreiben, Håkon!

- Warum kannst du nicht schlafen?

- Woher willst du wissen, dass ich nicht schlafen kann?

- Du liegst wach! Das schließe ich daraus.

- Ich bin eigentlich wahnsinnig müde. Aber ich habe viel zu viel im Kopf, das ich sortieren muss.

- Das klingt, als wärst du voll im Weihnachtsstress?

- Du denn nicht?

- Nein, überhaupt nicht. Wahrscheinlich liegt es daran, dass mich nicht besonders viel erwartet, abgesehen von einer mit Äpfeln gefüllten Weihnachtsgans an Heiligabend bei meiner Mutter und dem Rest der Familie.

- Du bist ja ein Pascha!

- Nein, wohl eher ein Glückspilz. Und du platzt vor Neid.

- Erwischt!

- Aber das musst du nicht – also vor Neid platzen.

- Nicht? Wieso?

- Weil ich zum ersten Mal ohne Begleitung da sein werde. Jeder wird mit den Ehepartnern und Kindern dort aufkreuzen, nur ich, der arme Wicht, mit niemandem.

- Ich würde mich dem armen Wicht ja gern zur Verfügung stellen, damit er sich nicht so ausgeliefert fühlt, aber leider (oder nicht leider, denn ich liebe es in der Tat) wird auch meine gesamte Familie zusammenkommen.

- Du bist die Einzige, die ihre Familie mag.

- Haha. Schande über die, die es nicht tun!

- Ich mag meine Familie auch!!!!!!!!!!

- Das sagst du doch jetzt nur, weil du sonst in die Hölle kommst.

- Also gut, ich mag fünfundneunzig Prozent meiner Familie.

- Sind denn die anderen fünf Prozent deiner Familie, die du nicht magst, verurteilte Mörder?

- Äh, nein!

- Betrüger?

- Nein!!

- Lügner?

- Neiiin!!! Nichts von all dem.

- Was gibt es dann für einen Grund, sie nicht zu mögen?

- Sie nerven einfach!

- Du machst Witze?

- Ach, komm schon, Linnéa, als würdest du alle Menschen mögen, solange sie nur nichts verbrochen haben.

- Die Rede war nicht von allen Menschen, sondern von der Familie. Lies zurück!

- Könnte sein.

- Könnte?

- Hm. Linnéa?

- Hier.

- Ich hätte da ein Anliegen.

- Und das wäre?

- Es könnte sein, dass das, um was ich dich bitten möchte, ein bisschen zu viel verlangt ist.

- Könnte?

- Hm. LOL.

- Håkon, trau dich!

- Frau Hæreid verlangt, dass ich am Sonntag eine Lieferung nach Oslo bringe.

- Warum nicht auf normalem Postweg?

- Weil sie sicherstellen will, dass die Lieferung im Ganzen, doch vor allem pünktlich bei dem Kunden ankommt.

- Und wie kann ich dir dabei behilflich sein?

- Es kommen beachtliche sieben Stunden Fahrt auf mich zu. Das heißt, wenn alles glatt läuft.

- Pro Fahrt!

- Exakt!

- Und?

- Würdest du mich begleiten?

- Öhm. In Ordnung, ich rede mit Frau Hæreid. Wenn sie mir am Montag frei gibt, erweise ich dir gern den Gefallen.

- Wirklich? Du nimmst mich aufs Korn!

- Warum sollte ich?

- Es könnte etwas stressig werden.

- Könnte?

- Ich halte mir gerade den Bauch vor Lachen.

- Das würde ich zu gern sehen.

- Hier.

- Du schickst mir ein Bild von deiner Hand, wie sie deinen Bauch hält? Jetzt halte ich mir den Bauch vor Lachen.

- Lass sehen.

- Hier.

- Linnéa, du bist zu gut für diese Welt.

- Wunschdenken. Aber danke.

- Ich kenne dich lange genug, um das beurteilen zu können.

- Lass uns zur Ruhe kommen und schlafen. Es ist 23:43 Uhr. Und morgen früh um fünf klingelt mein Wecker.

- Dein Wille geschehe!

- So etwas hört Frau nur zu gern. Hahaha.

- LOL. Ich weiß! Na dann, Gute Nacht. Träum süß. <3

- Gute Nacht. Du auch.

Vier

»Ja, wirklich, ganz ehrlich! Er hat mir zum Abschied ein Herz geschickt. Ich habe keines zurückgesendet, denn ich befürchte, dass er es auch seiner Schwester schickt.«

»Hat er denn eine?«, hatte Mailin Zweifel.

»Weiß nicht. Dann eben seiner Mutter. Die gibt es auf jeden Fall!« Ich lachte.

»Immerhin trägt er dich im Herzen.«

»Aber nicht auf die Art, wie ich es mir wünsche.«

»Und doch ist es ein Anfang.«

Dass er mich mit auf die Fahrt nach Oslo nahm, sprach eindeutig für sich. Außerdem würde es mir die Gelegenheit verschaffen, mich von meiner allerbesten Seite zu zeigen, praktisch Reklame für mich zu machen und ihn ein für alle Mal davon zu überzeugen, dass ich die Richtige für ihn war.

»Vorausgesetzt meine Chefin durchkreuzt nicht meine Pläne.« Ich fragte mich, ob ich nur deshalb zugesagt hatte, weil ich ganz genau wusste, dass Frau Hæreid mir keinen freien Tag genehmigen würde, jedenfalls nicht jetzt, wo so viel zu tun war. Wenn ich mir ausmalte, mit Håkon auf weiter Strecke allein zu sein, überfiel mich ein Hauch von Panik. »Oh, apropos Chefin, sie kommt gerade wieder aus der Stadt.«

Soeben entstieg sie ihrem teuren Geländewagen, stiefelte zum Kofferraum, öffnete ihn und holte einen Karton heraus.

»Okay, Süße, dann lass uns das Telefonat schnell beenden, bevor sie grantig wird und du dir ein Frei schon vermasselt hast, bevor du überhaupt danach fragen konntest. – Du wirst doch fragen, oder etwa nicht?«

»Ja, ja.« Ich klang alles andere als überzeugend.

»Du wirst doch wohl nicht zurückscheuen?«

Im Moment deutete alles darauf hin. Mir sprang das Herz fast aus der Brust, meine Hände schwitzten und meine Knie waren weich wie Wackelpeter. Mit jedem Schritt, den sich Frau Hæreid dem Laden näherte, wurde ich nervöser. Sogar meine Blase begann zu drücken. Dabei hatte ich bis vor zwei Sekunden gar nicht auf die Toilette gemusst.

 

»Nein, ich werde mein Glück versuchen.«

»Richtig so! Lass es dir nicht nehmen.«

»Nein, sicher nicht.« Ermutigt von Mailins Bestimmtheit drückte ich das Gespräch weg und eilte der Chefin entgegen, um ihr den Karton abzunehmen. Der war zu meiner Überraschung federleicht.

»Das hätte Ihnen auch ruhig schon früher einfallen können«, zeterte sie lieber, statt mir zu danken.

»Sie wissen doch so gut wie ich, wie ungern Sie sich Dinge aus der Hand nehmen lassen.« Ich warf ihr ein keckes Augenzwinkern zu. »Wohin soll der Karton?«

»In mein Büro, bitte.«

»Sehr gut, dann könnten Sie mir sicher eine Sekunde Ihrer wertvollen Zeit schenken, ja?« Meine Bitte glich mehr einer Forderung, dennoch blieb ich freundlich, sogar mehr als gut wäre.

»Ich ahne Schlimmes.«

»So schlimm ist es gar nicht, Frau Hæreid. Warten Sie ab.« Behutsam stellte ich den Karton auf ihrem gigantischen Mahagoni-Schreibtisch ab, schließlich konnte ich ja nicht wissen, ob sich darin tatsächlich nur Federn befanden.

»Spucken Sie schon aus, worum geht es, Frau Lysefjord?« Tiefe Müdigkeit lag auf ihrem Gesicht. Erschöpft ließ sie sich auf ihrem Stuhl am Schreibtisch nieder und lehnte sich zurück. Die Rückenlehne kippte ungewöhnlich weit nach hinten. Bestimmt ließ es sich in diesem Zustand viel besser aushalten, wenn ihr das ein oder andere Mal die Augen zufielen.

Ich räusperte mich lang und verlagerte mein Gewicht von einem Bein auf das andere. »Es geht um die Lieferung, die Herr Ertsås am Sonntag nach Oslo transportieren soll.«

»Ja?«

Ich räusperte mich wiederholt. »Na ja, ähem, er hat mich gebeten, ihn zu begleiten.« Es war raus.

Ihren Gesichtszügen nach zu urteilen war sie über den Vorschlag weder verärgert noch sonderlich verwundert. »Nun gut, tun Sie sich keinen Zwang an.«

»Die Sache ist aber die ...«

»Sie benötigen einen Urlaubstag.«

»Richtig! Susann, ich meine, Frau Jørgensen würde mich vertreten. Das hat sie mir versichert.«

»Na schön, genehmigt.«

»Was?«

»Der Urlaubstag. Er ist genehmigt.«

Ich platzte fast vor Begeisterung. Wie sollte ich da noch seriös bleiben? »Fantastisch«, rief ich aus und klatschte erleichtert in die Hände. »Ich freue mich so. Ich könnte Sie küssen, Frau Hæreid. «

»Bloß nicht!« Ein knappes Lachen entwich ihr. Ich traute meinen Ohren nicht. Lachen stellte praktisch eine Ausnahme dar.

»Danke, danke, danke. Vielen Dank!« Ich überschlug mich fast vor Euphorie. Um es nicht zu weit zu treiben, verließ ich das Büro in Windeseile. »Susann?«, rief ich.

»Hier!«, rief sie aus irgendeiner Ecke des Ladens.

Ich lief blind drauf los. »Wo bist du?«

Plötzlich kam sie aus einem Gang herausgeschossen. Ohne darauf aus gewesen zu sein, erschrak sie mich fast zu Tode. »Oh, hab ich dich etwa erschreckt?«

Mir standen noch immer die Haare zu Berge, ich war bleich wie eine Leiche und röchelte. Wonach sah das ihrer Meinung nach aus? »Ach Quatsch, ich übe nur für meine Komparsenrolle als Zombie! Selbstverständlich hast du mich erschreckt, was denkst du denn?«

Sie lachte aus vollem Halse. Doch etwas war seltsam daran: Es klang zweistimmig. Erst als eine Stimme hinter mir sagte: »Ich halte mir den Bauch vor Lachen«, erfuhr ich auch den Grund meiner Hörprobleme.

»Håkon, was machst du denn hier?«

»Nette Begrüßung.«

»Lenk nicht ab!«

»Ich hole die Chefin zum Mittagessen ab.« Susann und ich starrten erst einander, dann ihn ungläubig an. »Was ist daran so eigenartig? Es geht um eine banale Lagebesprechung, um nichts weiter.«

Jeder hier hatte schon die wildesten Theorien über Frau Hæreids Gefühle für Håkon aufgestellt, doch niemandem wäre im Traum eingefallen, dass ihm ihr Interesse de facto ins Konzept passte.

»Jeder muss mal essen. Warum sollte er auch nicht das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden?«, zeigte Susann plötzlich vollstes Verständnis.

Daraufhin trat auch der Grund dafür in Erscheinung. »Was stehen Sie hier herum? Gibt es nichts zu tun?« Frau Hæreid war wieder ganz die Alte.

Damit sie sich das mit dem Urlaubstag nicht noch einmal anders überlegte, lief ich davon und zog Susann am Pulloverärmel hinter mir her.

»Das mit Montag klappt übrigens«, informierte ich sie nun endlich über die Neuigkeiten. Natürlich im Flüsterton.

»Nein!?«, war sie platt. Ebenfalls im Flüsterton.

»Doch, doch«, behielt ich den Flüsterton bei.

»Kneif mich mal«, behielt sie den Flüsterton ebenfalls bei.

Ich kniff sie in den Oberarm. Schweigend.

»Autsch! Doch nicht so doll!«, krächzte sie im Flüsterton.

»Wie sollst du denn sonst feststellen, dass es kein Traum ist?«, erklärte ich jetzt bedenkenlos in normaler Zimmerlautstärke, da die Chefin und Håkon endlich im Büro verschwunden waren.

Auch Susann fühlte sich von keiner Gefahr mehr bedroht und meckerte wie eine Ziege auf der Weide: »Trotzdem musst du meine Haut nicht gleich von rechts auf links drehen.«

»Nun weißt du ganz sicher, dass es wahr ist.« Ich ging zur Kasse herum, denn eine Kundin steuerte diese an, wenn auch nur im kriechenden Tempo.

Noch immer rieb sich Susann die Schmerzstelle. »Nun ist es erwiesen: In Frau Hæreids Brust schlägt ein Herz.«

Zum Feierabend hatten Mailin, Yva und ich uns für eine kleine gemütliche Einkaufstour im umschwärmten Stadtteil Bakklandet verabredet, um die letzten fehlenden Geschenke für die Liebsten zu besorgen. Hier hielt ich mich gern auf, besonders im Winter zur Weihnachtszeit. Alles hier war so wunderschön geschmückt. Girlanden mit Lichtern hingen zwischen den Häusern über uns und leuchteten uns den Weg durch die Altstadt und an beinahe jeder grünen und blauen und roten und gelben Holztür waren Weihnachtskränze angebracht worden. Jeder Laden, den wir betraten, hatte etwas Anheimelndes und lud uns ein, dort eine Zeit zu verweilen und uns aufzuwärmen. Denn dieses Jahr begann der Winter sehr hart, so sehr, dass die Schneemassen, die stetig von den Straßen und Gehwegen gekarrt wurden, in Teilen abtransportiert werden mussten.

Am Ende unseres Bummels hielten wir es für das Beste, den Abend in einem Restaurant ausklingen zu lassen. Schon vorab wusste ich, dass ich die Kosten für Yvas Menü tragen müsste und dass sie das auch ausgiebig zu genießen verstand. Doch heute würde ich nichts dagegen haben. Sie hatte es sich verdient, schon allein, weil sie seit dem Morgen, an dem sie mich über Håkon auszuquetschen versucht hatte, keine Silbe mehr über ihn verloren hatte. Mir war klar, dass meine Eltern sie darum gebeten hatten, mich nicht zu behelligen, damit in den heiligen Tagen kein unnötiger Ärger aufkommen würde, doch sie hielt sich daran, und das war das Kunststück.

Auch ich hatte es mir verdient. Gestern waren wir nämlich endlich mit dem Herrichten unseres Hauses fertig geworden. Am Freitag würden wir endlich den Christbaum kaufen und aufstellen. Dieses Jahr würde es eine Rotfichte sein. Das Aufstellen überließen wir zumeist den Männern. Das Schmücken überließen die Männer dann uns Frauen. Doch das war mir einerlei, denn das war eines meiner Lieblingsaufgaben. Zuletzt würde Yva der Fichte den Stern aufsetzen. Bei dieser Tätigkeit wechselten wir uns ab. So würde Mami nächstes Jahr wieder an der Reihe sein. Wir hielten es auch nicht so sehr mit dem gesellschaftlich vorgegebenen Bräuchen. Wir hatten unsere eigenen Wertvorstellungen, was bedeutete, dass wir den Christbaum weit vor Heiligabend dekorierten, da es die aufgewandte Mühe und Zeit ansonsten nicht rechtfertigte. Nur den Stern setzten wir der Krone erst am Weihnachtsabend auf.

Als wir das Restaurant betraten, waren wir über den Mangel an Gästen sichtlich überrascht. Zugleich erfreute es uns natürlich, denn so war uns ein Platz sicher, sogar an der beliebten Fensterfront. Sofort ergatterten sich Mailin und Yva den direkten Platz am Fenster, wurden praktisch eins mit der Scheibe, während ich mich mit dem Platz auf der Gangseite zufrieden geben musste. Doch ich störte mich nicht daran. Nicht die Bohne. Denn auf diese Weise hatte ich freie Sicht nach draußen und müsste mir nicht den Hals verrenken, falls sich dort spannende Szenen abspielen würden.

Unsere Mäntel und Einkaufstüten hatten wir an der Garderobe abgegeben, darum konnten wir uns richtig fallen lassen und uns breitmachen. Das Gute an uns Norwegern war, dass wir großes Vertrauen in unsere Mitmenschen hatten und nicht vorhatten, es auszunutzen. Das machte Momente wie diesen leicht und bedeutsam.

»Und, hast du nun Montag frei bekommen?«, erkundigte Mailin sich bei mir, während sie die Speisekarte aufnahm und begann, sie zu studieren.

»Frei? Wieso frei? Was gibt es Montag denn so Besonderes?«, horchte Yva schlagartig auf.

Innerlich stöhnte ich genervt auf. Mailin hätte wissen müssen, dass sie das Thema Håkon besser nicht vor Yva hätte anschneiden sollen. Nebenbei bemerkt auch vor niemand anderem. Es war mir nicht recht, wenn jemand sich ungefragt in mein Privatleben einmischte, vor allem dann, wenn es selbst für mich noch immer höchst undurchsichtig war.

»Es geht um einen Auftrag. Dafür werde ich am Sonntag nach Oslo fahren müssen.«

»Ist das nicht ein bisschen riskant?«, zeigte sich Yva ernstlich besorgt.

»In welcher Hinsicht?«

»Lebst du irgendwie in einem Paralleluniversum oder wieso geht das Schneechaos an dir vorbei? Auf den Straßen geht es echt gefährlich zu. Und Oslo liegt nicht gleich um die Ecke. Du könntest einen Unfall haben.«

»Den könnte ich auch auf jeder kurzen Strecke haben. Das ist ein schlechtes Argument, kleines Schwesterchen.«

»Du kannst aber nicht bestreiten, dass sich das Risiko für einen Unfall auf längerer Strecke erhöht«, stand Mailin auf einmal Yva bei.

»Mami wird dich nicht fahren lassen«, erinnerte Yva mich daran, dass unsere Mutter von früh bis spät tausend Ängste ausstand und nicht in den Schlaf fand, sobald eines ihrer Kinder sich in Gefahr begab – unwichtig, ob diese nur scheinbar oder real existierte. Sie würde mir so lange ins Gewissen reden, bis ich nachgäbe und es bleiben ließe.

»Du musst ihr das nicht gleich stecken, Yva. Wir werden in der Früh starten und am späten Abend wieder zurück sein. Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß.«

»Wir?«, staunte Yva nicht schlecht.

»Håkon wird mich begleiten.«

»Aha, dieser Håkon also!«

»Ist es denn nicht vielmehr umgekehrt, Linnéa? Begleitest du nicht ihn?«, gab meine beste Freundin eine bravouröse Verräterin zum Besten.

»Ach, sieh mal einer an! Bedeutet das etwa, dass du gar nicht dabei sein müsstest?«, war Yvas Scharfsinn auf Anhieb geweckt.

Ich warf Mailin einen finsteren Blick zu. »Warum lieferst du mich ans Messer?«

»Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich mich nicht weniger um dich sorge als deine Familie?!«

»Mit anderen Worten: Du bist auch dagegen?«

Sie nickte heftig und versteckte sich wieder hinter ihrer Speisekarte. Dabei kam mir der Gedanke, dass ich es ihr gleichtun und ein Gericht auswählen sollte, denn es würde nicht mehr lange dauern, bis die Bedienung an unseren Tisch kommen und die Bestellungen entgegennehmen wollen würde.

»Ihr seid ganz schön pessimistisch.«

»Und du bist wirklich unvorsichtig«, entgegnete Yva.

»Ich werde mitfahren und basta!«

»Und da behauptest du, er sei nur ein Arbeitskollege für dich. Von wegen! Offensichtlich bist du bis über beide Ohren in den Typen verliebt«, sagte sie missmutig.

»Schh!« Panikartig blickte ich um mich. »Informiere doch gleich die Presse!«

»Das hat doch gar keiner gehört.«

»Wäre es dennoch zu viel verlangt, wenn du deine Stimme ein wenig senken würdest? Das muss nicht jeder wissen. Und erst recht nicht Håkon.«

»Der ist doch jetzt gar nicht in der Nähe.«

»Leute?«, machte Mailin auf sich aufmerksam und deutete mit dem Finger aus dem Fenster. »Dafür würde ich meine Hand lieber nicht ins Feuer legen.«

Wie drei Kamelstuten gafften wir durch die mit Schneespray dekorierte Scheibe ins Dunkel. Als mein trüber Blick sich klärte und ich Håkon eindeutig als solchen identifizieren konnte, sprang ich vom Stuhl und versteckte mich unter dem Tisch.

Mailin und Yva neigten sich langsam zu mir herunter.

»Bist du vollkommen übergeschnappt?«, raunte Mailin.

»Was wird das, wenn es fertig ist?«, fügte Yva hinzu.

 

Ich hätte wissen müssen, dass die Wahrscheinlichkeit, ihm zu begegnen, verdammt hoch war, wo er doch in dieser Gegend zu Hause war. Zwar hatte ich nie erfahren, wo genau sein Heim lag, doch das, was ich wusste, langte, um diesen Stadtteil besser großräumig zu umgehen, wenn ich nicht in der Stimmung war, ihm entgegenzutreten.

»Er soll mich nicht sehen, was denkt ihr denn?«

»Und warum bitteschön soll er dich nicht sehen?«, wunderte sich Mailin zu Recht.

Erst jetzt, da ich keine Antwort darauf hatte, begriff ich, wie irrsinnig ich mich verhielt. Zudem schlug eine Bedienung die Richtung zu unserem Tisch ein, was mich zurück auf meinen Stuhl zwang, um nicht Gefahr zu laufen, hochkant aus dem Restaurant zu fliegen.

»Schau dich mal um, Linnéa, jetzt gucken alle auf dich«, konnte Yva die spitze Bemerkung nicht einfach hinunterschlucken.

Ich schaute mich nicht um. Ich hielt es in peinlichen Situationen wie diese für angebrachter, mich an das Prinzip der passiven drei Affen, die nichts sahen, nichts hörten und nichts sagten, zu richten, um die Illusion aufrecht zu erhalten, dass alles in bester Ordnung war. So war es nur halb so schlimm.

»Guten Abend, was kann ich euch bringen?«, gab die dralle Bedienung mit Schwung und Energie vor, nichts von meinem unmöglichen Benehmen mitbekommen zu haben. Na schön, ihre Ignoranz war immer noch besser als mich zu behandeln wie die Spinnerin, die ich war. Aber weshalb war ich genervt davon? War es nicht das, was ich erreichen wollte?

Wir drei hatten uns für ein und dasselbe Menü entschieden: Hähnchenkasserolle mit Gemüse, Reis, Currysoße, Brot und Butter. Dazu würden wir mit einem Glas trocknen, deutschen Weißwein anstoßen.

Als die Bedienung unsere Bestellungen entgegengenommen hatte und wieder zügig abgerückt war, fragte Mailin: »Mit wem ist Håkon da unterwegs?«

Seine Begleitung war weiblich, so viel konnten wir erkennen, doch da die beiden sich die Auslagen im Schaufenster des Ladens von gegenüber ansahen, mussten wir vorerst mit den Kehrseiten vorliebnehmen.

»Das würde mich auch interessieren«, murmelte ich, meine ganze Aufmerksamkeit auf das Paar richtend.

»Mit seiner Ehefrau vielleicht?«, schlug Yva fast querulantenhaft vor.

»Er ist nicht verheiratet«, erklärte ich.

»Freundin?«, stöhnte Yva.

Erst jetzt wandte ich meinen Blick von dem Paar ab und Yva zu. »Möglicherweise hätte ich gleich sagen sollen, dass er solo ist, so wie ich.«

Sie verdrehte die Augen. »Ja, möglicherweise.« Daraufhin warf sie einen zweiten Blick auf Håkon und betrachtete ihn kritisch. »Also, ich finde, der passt gar nicht zu dir.«

Direkte Worte, die mich aufhorchen und nachhaken ließen. »Warum nicht? Was gefällt dir nicht an ihm?«

»Die Frage ist doch vielmehr«, schritt Mailin rüde ein, »an was du das festmachst, Yva. Du kennst ihn doch überhaupt nicht, also wie willst du das rational beurteilen können?«

Sie hob nur die Schultern. Offensichtlich war sie mit ihrer Weisheit am Ende.

Auf einmal legte Håkons Begleitung ihren Kopf auf seine Schulter. Er schlang den Arm fest um sie und drückte einen Kuss auf ihren Oberkopf. Ihre Kopfbedeckung dämpfte die Intensität des Kusses, doch die Geste für sich war weitaus signifikanter, als Worte es je beschreiben könnten.

Eifersucht stieg in mir auf.

»Bist du dir ganz sicher, dass er solo ist?«, lachte Yva nun schadenfroh.

»Sehr tröstend, dass dir mein Unglück so viel Vergnügen bereitet«, zischte ich Yva verstimmt an. »Tu mir einen Gefallen und behalte deine Freude für dich.«

Sie schaute mich an, als durchführe ihren Körper ein heftiger Stromschlag. »Es tut mir leid.« Ihre Augen heischten um Gnade. »Das war nicht so gemeint.«

Ich konnte ihr nicht lange böse sein. Das wusste sie. Vor allem wusste sie das auszunutzen. Doch die Leichenbittermiene trug sie heute nicht nur zur Schau. Heute war sie tatsächlich entsetzt von sich selbst.

Ich ließ ihre Entschuldigung gänzlich unkommentiert und wandte mich stattdessen wieder Håkon und seiner mir unbekannten Begleitung zu. Mir schwante, dass sich die Schatten der Dunkelheit auf das Gesicht der Frau legen und mich am Ende ahnungslos zurücklassen würde, doch ich war ein zuversichtlicher Mensch. Ich würde nicht aufgeben, solange eine Chance bestand, und sei sie noch so minimal, sie zu sehen. Ich musste einfach herausfinden, wer sie war, anderenfalls würde es mir Kopfzerbrechen bereiten und mich heute Nacht um meinen Schlaf bringen.

Das Paar verharrte ungewöhnlich lange vor dem Schaufenster. Immer mal wieder zeigte die Frau auf eines der Teile in der Auslage, was darauf schließen ließ, dass sie Anmerkungen darüber machte. Womöglich unterrichtete sie ihn verblümt darüber, welches Geschenk er ihr an Heiligabend bedenkenlos überreichen könnte und welches er kurzerhand um die Ohren geschlagen bekäme. So verhielt es sich seit jeher: Frau musste Mann instruieren, wenn sie unter dem Christbaum kein Topfset oder Bügeleisen vorfinden wollte.

Endlich setzten sie ihren Weg fort. Ein Blick auf ihr Gesicht blieb mir dennoch verwehrt, da Håkon sie mit seiner großen und stämmigen Statur verborgen hielt.

»Das ist doch ein Scherz!«, brummelte ich.

Yva stürzte von ihrem Stuhl hoch und wetzte ohne Mantel hinaus in das Schneegestöber. Durch das Fenster konnten Mailin und ich den weiteren Verlauf verfolgen. Mir blieb die Spucke weg, als ich erkannte, dass sie dem Paar nachlief und etwas rief. Håkon und die Frau wandten sich zu ihr um. Inzwischen hatten sie sich so weit entfernt, dass das Gesicht der Frau nicht nur im Schatten der Dunkelheit lag, sondern vollkommen schwarz war.

Håkon zog den linken Ärmel seines Mantels ein Stück nach oben, um die Zeit von seiner Armbanduhr abzulesen. In diesem Augenblick checkte ich, dass Yva ihn nach der Uhrzeit gefragt hatte. Sie hob die Hand zum Dank, zugleich zum Abschied und verließ das Paar. Håkon sah sich noch einmal nach ihr um. Zwar konnte ich sein Gesicht nicht erkennen, doch ich war mir ziemlich sicher, dass er das aus Verwunderung getan hatte.

Mit den Worten: »So sieht dein Schwarm also aus der Nähe aus« kam sie an unseren Tisch zurück, setzte sich und rieb sich die Hände, um die Kälte, die unverzüglich in ihre Knochen gekrochen war, wieder zu vertreiben. Sie zitterte am ganzen Leib. Allein der Anblick bescherte mir eine Gänsehaut.

»Was sollte das?«, fragte ich in anklägerischem Ton nach dem Ziel ihrer Aktion.

»Wolltest du nun wissen, wer sie ist oder nicht?«, blaffte sie mich an. »Ich nehme an, dass dieser Håkon von uns dreien nur mich nicht kennt, oder sehe ich das falsch?«

Mochte sein, denn Mailin war er schon einige Male im Laden begegnet. Natürlich hatte sie die Zusammentreffen beabsichtigt gehabt, da sie ihn hatte kennenlernen wollen, nachdem ich ihr von ihm vorgeschwärmt hatte.

»Und wenn er dich eines Tages neben mir wiedererkennt, was dann? Er wird sich ganz bestimmt an diese bizarre Situation erinnern und sofort wissen, wozu die gut gewesen war.«

»Dann wirst du wohl oder übel dazu stehen müssen, dass du ihn gern hast. So einfach ist das.«

»Und dermaßen bizarr war die Situation nun auch wieder nicht«, versuchte Mailin, mich zu besänftigen.

»Aber bizarr genug, um ihn zum Nachdenken anzuregen. Du bist halb nackt bei Minusgraden draußen auf der Straße gewesen. Er kennt nur eine Person, die genauso bekloppt ist, und die bin ich!« Mit einem Mal überfiel mich nackte Panik. »Oh Gott, er wird sich denken können, wer du bist.« Mit einem Mal erkannte ich zwischen Yva und mir sogar eine verblüffende Ähnlichkeit, dabei sahen wir uns nicht im Mindesten ähnlich. Sie trug ihre Haare schwarz gefärbt und schulterlang, ich naturblond und hüftlang – meistens am Hinterkopf oder Oberkopf gebündelt, sie war recht kurz geraten, ich war hochgewachsen, sie trug eine trendige Nickelbrille, ich quälte mich aus Eitelkeit mit Kontaktlinsen durch den Tag.

Es war zum Verzweifeln.

»Krieg dich wieder ein, ich wollte dir lediglich etwas Gutes tun.«

Offenbar sah das auch Mailin so. »Das ist eben Yvas Art.«

»Ich weiß.«

Gerade hätte ich nichts lieber getan als mich auf den Boden zu werfen und in Tränen auszubrechen. Doch inwiefern würde mir das weiterhelfen? Damit würde ich alles nur schlimmer machen. Zum Beispiel würde ich in diesem Restaurant mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Hausverbot erteilt bekommen. Das sagte mir, dass ich nun nicht die Kontrolle über mich verlieren durfte. Der Abend musste ja nicht in einer Katastrophe enden. Ich könnte meine Gefühle für Håkon ja auch leichtnehmen. Meine Chancen, ihn für mich zu gewinnen, waren mit dem heutigen Abend nicht gesunken. Meine Chancen, ihn für mich zu gewinnen, waren vorher genauso winzig gewesen wie in dieser Sekunde – mit oder ohne Yvas Eingriff.

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