Håkon, ich und das tiefgefrorene Rentier (P.S. Fröhliche Weihnachten)

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Trotzdem wies ich Håkon darauf hin: »Das ist bislang noch nie vorgekommen.«

»Darum tut es mir in der Seele weh.« Mit einem charmanten Augenaufschlag bat er mich um Verzeihung. Ihm war die Wirkung seines Blickes bewusst, aus diesem Grund setzte er ihn gern als Waffe ein.

Ich begegnete ihm nur mit einem Lächeln und begab mich wieder in den Laden, bevor es mich peinlich berühren konnte und meine Mauer der Vernunft in sich zusammenstürzen würde.

»Linnéa?«, rief er mir plötzlich nach.

Ich wandte mich rasch um. »Ja?«

Er hatte bereits auf dem Fahrersitz Platz genommen und den Griff zum Zuziehen der Tür in der Hand. »Was hältst du davon, wenn wir einmal aus unserer Routine ausbrechen und uns den Kaffee nach Feierabend in dem Café auf der alten Dockanlage genehmigen würden?«

Ich hielt kurz inne, versuchte, vor Freude nicht übertrieben weiblich zu quietschen oder bewusstlos zu werden. Mein ganzer Körper war gelähmt vor Glück.

Passierte das gerade wirklich oder hatte ich begonnen zu fantasieren? Viel zu lange hatte ich auf diesen Moment gewartet, als ihn nun mir nichts, dir nichts realisieren zu können.

Als mein Freudenkarussell endlich zum Stillstand kam und meine Füße wieder festen Boden berührten, erklärte ich mich einverstanden. Den Jubelschrei konnte ich nur mühsam herunterschlucken. Obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass er das unterdrückte Zittern in meiner Stimme bemerkte, als ich aus Spaß sagte: »Aber das ist kein Rendezvous, hörst du?«

»Kein Rendezvous, versprochen!« Er grinste spitzbübisch, als würde er längst wissen, wie gern ich ihn hatte.

Zwei

Nun waren wir also einen Schritt weiter. Wir trafen uns zum ersten Mal privat. Und obwohl wir inzwischen sehr vertraut miteinander waren, fühlte sich dieser Moment reichlich neuartig an. Urplötzlich überwog Aufregung meine Freude auf ihn. Urplötzlich hatte ich keine Ahnung, was ich sagen sollte, sobald er hier aufschlug. Urplötzlich wäre ein einfaches Hallo das Dümmste, was ich von mir geben könnte. Und urplötzlich bekam ich Sodbrennen. Üblicherweise trat es bei mir in abnormalen Stresssituationen auf.

Ich hatte nicht geahnt, wie groß der Unterschied zwischen dienstlich und privat wirklich sein konnte. Das Ausmaß überwältigte mich. Leider überwältigte es mich sogar so sehr, dass sich ein Fluchtgefühl in mir ausbreitete und ich mich dazu hinreißen ließ, zu türmen. Anscheinend fühlte sich dieser Moment nicht nur reichlich neuartig, sondern auch reichlich bedrohlich an.

Aber warum denn nur?

Doch Zeit zum Türmen blieb mir nun keine mehr, denn Håkon war pünktlich auf die Sekunde. Mit quietschenden Sohlen hetzte er an den Tisch, an dem ich mich bereits niedergelassen hatte, und ließ sich völlig atemlos auf dem mir gegenüberliegenden Stuhl fallen.

»Gemach!«, lachte ich.

Er wirkte müde und platt, als er seinen Kopf in den Nacken warf und sich mit den Händen über das Gesicht fuhr. »Dieses Lieferanten-Gen in mir kann nicht anders.« Jetzt lachte auch er und entledigte sich seiner Jacke im Sitzen. Etwas unbeholfen wirkte er dabei, weshalb es mich reizte, aufzustehen und ihm zur Hand zu gehen. Aber am Ende hatte er den Kampf mit seiner Jacke auch ohne Unterstützung gewonnen. Kurz darauf hing diese über der Rückenlehne seines Stuhls.

»Hey, ich bin's nur.« Ich lächelte.

»Das ist ja das Verwirrende.«

Ich guckte schief, denn meine Auffassungsgabe war um diese Uhrzeit noch viel schlechter als zur Mitte des Tages.

»Ich verbinde dich praktisch nur mit dem Weihnachtshaus. Da kann man mit seinen Absichten schon mal eine Winzigkeit durcheinander kommen.«

»Du bist verrückt.«

»Aber lustig.«

»Gute Mischung.«

»Finde ich auch.«

Wovor hatte ich mich noch mal gefürchtet? Alles lief wie am Schnürchen. Dank Håkon. Sein Humor war ein Retter in der Not, ganz gewiss. Andererseits gab es mir einmal mehr zu erkennen, dass er mir nur freundschaftlich gesinnt war. Sein Auftreten erschien mir sogar zwanghaft. Setzte er mich etwa nur mit einem lästigen Termin gleich?

Er betrachtete mich eingehend. »Sag mal, warst du noch gar nicht daheim?« Ihm war aufgefallen, dass ich noch immer dieselbe Kleidung wie im Laden trug.

»Nein.«

Leider hatte sich mir die Gelegenheit noch nicht geboten. So war ich mit meinem klapprigen ziegelroten Auto vom Weihnachtshaus direkt ins Café gefahren. Natürlich hätte ich mich vor dem Treffen mit Håkon gern noch ein bisschen aufgehübscht und umgezogen und mir etwas Essbares einverleibt, aber zum Arbeitsende war es bereits achtzehn Uhr gewesen. Nun stank ich wie ein Puma, der scheinbar in einer Parfümerie total durchgedreht war, weil ich mich zuvor eingedieselt hatte, um den schlechten Geruch zu überdecken, und schob Kohldampf. Das Grollen meines Magens war weithin hörbar. Er schrie kläglich nach etwas Festerem als Kaffee.

»Linnéa, das geht so nicht! Hab ich dir nicht erst vorhin gesagt, dass du mehr Acht auf dich geben musst? Du fällst auch so schon völlig vom Fleisch. Du weißt ganz genau, dass ich das auf den Tod nicht ausstehen kann.«

»Ja, ich weiß das ...«

»Warum änderst du dann nichts daran?«, fuhr er mir sofort ins Wort. Offenbar war er mit seiner Standpauke noch nicht fertig gewesen. »Kaffee ist jetzt das Letzte, was du brauchst. Heute essen wir ausnahmsweise mal gemeinsam zu Abend, einverstanden?«

Zwar war die Speisekarte hier recht klein, aber Fritten bekam man ja überall. »Total!« Mit seiner Fürsorge machte er mich gerade zum glücklichsten Menschen der Welt, da diese mir verriet, dass ich für ihn doch nicht nur ein lästiger Termin war.

Wie war ich nur darauf gekommen? Håkon war ein guter Mensch, mit dem Herz am rechten Fleck. Wieso begann ich, ihm Eigenschaften anzudichten, von denen ich wusste, dass er sie gar nicht besaß? Schließlich gab es einen triftigen Grund, aus dem ich mich in ihn verknallt hatte: Er war nicht wie alle anderen Männer! Ich musste mir eingestehen, dass er mich nur deshalb enttäuschen könnte, weil mein Herz an ihm hing und mich daher empfindsamer machte, und nicht, weil er sich mir gegenüber nach Tatsachen mies verhielt.

Er atmete zufrieden auf. »Das ging ja leicht! Dabei habe ich mich innerlich schon darauf eingestellt, auch noch den herzzerreißenden Blick des Gestiefelten Katers aufwerfen zu müssen, um dich zu bekehren.«

»Das bekommst du auch locker mit deinem eigenen Blick zustande, wie du siehst.« Diese Worte führten dazu, dass wir uns tief in die Augen blickten. Vielleicht war es sogar das erste Mal, dass sich unsere Blicke derart eindringlich trafen und wahrnahmen.

Um mich aus dieser verfänglichen Lage zu befreien, killte ich den märchenhaften Moment mit: »Das hier ist aber nach wie vor kein Rendezvous.« Mein Gesicht lief glühend rot an. Mein Puls raste. Verflixt!

»Selbstverständlich nicht! Bei einem Rendezvous würde ich nämlich das Essen bezahlen. Und Fritten und Burger würde es auch nicht geben.«

»Sondern?«

»Etwas, wonach man sich nicht die Zähne putzen müsste. Schließlich hat man bei einem Rendezvous amouröse Absichten. Somit endet es in der Regel immer mit Herumknutschen vor der Haustür der Angebeteten. Verstehst du?«

Ich prustete los. »Klar!«

Schon beim Betreten der Küche am nächsten Morgen hatte Mami mich gebeten, dass ich am Tisch Platz nehmen solle. Für gewöhnlich half ich ihr beim Eindecken. Doch heute war der Tisch bereits eingedeckt.

Was ging hier vor sich? Hatte ich irgendwas nicht mitbekommen? Eine Frage, die ich dringend stellen sollte, denn es schien wichtig zu sein. Doch vor meiner ersten, Lebensgeister erweckenden Tasse Kaffee wagte ich wichtige Fragen lieber nicht zu stellen.

Besagter Kaffee wurde gerade in eine überdimensionale Tasse vor mir eingefüllt. Von Yva! Das war wirklich gruselig. Normalerweise war ich diejenige, die die Jüngste im Bunde bediente. Doch heute war alles anders.

Yva setzte sich mir gegenüber, zog ihren Stuhl unnatürlich dicht an den Tisch heran, legte die Arme vor sich ab, verlagerte ihr Gewicht nach vorn, starrte mich mit weiten, fragenden Augen an und schmunzelte.

Ich nahm meine Tasse auf und trank um mein Leben. Vielleicht würde mir ja eine Backpfeife aus diesem schlechten Film heraushelfen?

Erst als ich den Becher geleert und ihn wieder abgestellt hatte, riskierte ich es und wollte wissen: »Hast du ein Gespenst gesehen oder weshalb guckst du so beknackt?«

Auf der Stelle quasselte sie los, als hätte sie nur auf das Startsignal gewartet. »Wer war der Kerl?« Sie setzte ihr niedlichstes Augenklimpern auf. Das tat sie immer, um zu bekommen, was sie wollte.

Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie meine Familie von dem Abendessen mit Håkon wissen konnte, aber da sie es nicht von mir erfahren hatten, stand es mir auch zu, mich dumm zu stellen. »Welcher Kerl?«

»Tu doch nicht so.«

Sowohl Mami als auch Papi, der gerade eben mit seiner morgendlichen Dusche fertig geworden war, gesellten sich zu uns. »Und, wer ist nun dieser geheimnisvolle Typ?«, hakte auch er ohne langes Federlesen nach, nicht wissend, dass Yva bereits dieselbe Frage gestellt hatte und fieberhaft auf die Antwort wartete.

»Linnéa simuliert Ahnungslosigkeit«, zischelte meine kleine Schwester beleidigt. Wetten, dass sie es jetzt zutiefst bedauerte, dass sie mir eine kleine Gefälligkeit erwiesen hatte? Und da der Kaffee bereits in meine Blutbahn gelangt war, konnte sie ihn mir aus Frust nicht mal mehr wieder wegnehmen.

»Woher wisst ihr überhaupt von ihm?«

»Ha!«, kreischte Yva mit einem Mal und schlug mit der flachen Hand so kräftig auf die Tischplatte neben ihrem Teller, dass alles, was sich an Geschirr darauf befand, klirrte. »Hab ich es doch gewusst!«

 

Nicht nur ich, auch Mami und Papi fuhren heftig zusammen. »Yva, Kleines, nimm dich zusammen. Das ist doch kein Grund, gleich hysterisch zu werden«, rief Papi sie zur Ordnung.

»Wie bitte? Das soll kein Grund sein, hysterisch zu werden?«, drückte sie ihre Verwunderung wohl leiser, dafür unerträglich schrill aus. »Linnéa ist neunundzwanzig, ging gerade mal mit drei Jungs, die spätestens nach zwei Monaten die Biege gemacht haben, weil sie sie nicht rangelassen hat, und du sagst, das sei kein Grund, hysterisch zu werden, wenn sie ein Date mit einem Typen hat? Das hat ein Seltenheitswert!«

»Das hat Intelligenz auch!«, murmelte ich.

»Wie bitte?«, fragte Yva, da sie mich nicht verstanden hatte oder mich nicht hatte verstehen wollen.

»Ich kann es nicht leiden, wenn jemand in der dritten Person über mich redet, obwohl ich anwesend bin.«

»Das habe ich doch nur getan, weil ich auf Papis Gesagtes eingehen wollte.«

»Mag sein, aber ...«

»Du reagierst doch nur so sensibel, weil du in der Kritik stehst.«

»Also stehe ich in der Kritik, weil ich Pech in der Liebe habe und noch nicht verheiratet bin und keine Kinder habe? Ist das als Norm in irgendeinem Gesetz verankert, dass es Kritik überhaupt rechtfertigt, oder was?«

»So hat sie das doch gar nicht gemeint ...«

»Nein, nein, Papi, ich will das jetzt genau wissen: Mal angenommen, ich würde mich dazu entschließen, Nonne zu werden, würde ich somit in gleicher Weise in der Kritik stehen wie jemand, der Steuern hinterzieht oder Kokain schnupft oder Leute abschlachtet – also jemand, der wirklich etwas Schlimmes verbrochen hat? Ich meine, sollte Kritik nicht genau daraus entstehen? Aus etwas Schlimmen?«

»Du übertreibst maßlos«, verteidigte sich Yva. »Man beurteilt einen Mörder nicht, man verurteilt ihn. Es gibt da schon einen Unterschied.«

»Es gäbe dennoch nichts daran zu bemängeln, wenn ich ins Kloster ginge.«

»Was hast du plötzlich mit dem Kloster? Strebst du an, in eines zu gehen?«, war Papi alarmiert.

»Spinnst du? Natürlich nicht!«

»Warum bleibt ihr dann nicht einfach beim Thema?« Genervt warf er sich in die Lehne des Stuhls zurück und strich sich durchs nasse Haar.

Er hatte es leger nach hinten gekämmt. Für sein Alter hatte er bewundernswert volles Haar. Und sowieso war er eine attraktive Erscheinung. Genauer gesagt sah er Harrison Ford zum Verwechseln ähnlich. Schon als kleines Kind hatte ich da einiges durcheinandergebracht. Mami erinnerte sich zu gern an das erste Mal, als ich ›ihn‹ im Fernsehen gesehen hatte, und zwar im ersten Teil von Indiana Jones. Ich war vom Sessel hochgefahren, hatte mir fassungslos die Augen gerieben und vollkommen aufgelöst geschrien: »Da! Papi!« Minutenlang hatte ich mit ausgestrecktem Arm auf den Bildschirm gezeigt und den Mund nicht mehr zubekommen. Ja, ich war fast geplatzt vor Stolz und Euphorie, als ich noch total davon überzeugt gewesen war, dass mein Papi in Wirklichkeit ein gefeierter Hollywood-Star war. Damals hatte ich auch noch geglaubt, Hollywood läge nur eine Stunde Fahrtweg von uns entfernt. (So lange hatte Papi immer mit dem Auto zur Arbeit benötigt.)

»Da du gestern Abend zwei Stunden später als gewöhnlich nach Hause gekommen bist, hat Yva den Schluss gezogen, du wärst mit einem Mann aus«, erklärte Mami mit samtweicher Stimme, um Gas aus der explosiven Stimmung zu nehmen. »Und dass du nach wie vor ohne große sexuelle Erfahrung und praktisch Dauersingle bist, ist doch nur die Wahrheit, so unbequem sie auch sein mag.«

»Ich finde sie ganz und gar nicht unbequem. Ihr macht etwas Negatives daraus, nicht ich! Ich spare mich eben für den Richtigen auf.«

»Wie kannst du wissen, dass Flóki nicht der Richtige gewesen ist? Du hast ihn doch praktisch vergrault, noch ehe er sich beweisen konnte«, hielt Yva mir enttäuscht vor.

Flóki war mein erster fester Freund gewesen. Mit neunzehn hatte ich ihn kennengelernt. Bald darauf gingen wir miteinander, jedoch mehr als nur lausige zwei Monate. Unsere Beziehung hielt mehr als ein Dreivierteljahr. Und ich hatte ihn weiß Gott nicht vergrault, es sei denn, ein Ehebund war das Furchtbarste, was ein Mann sich nur vorstellen konnte. Dann könnte der Vorschlag, sich trauen zu lassen, ihn eventuell sehr wohl vergraulen. Doch ich war nicht davon ausgegangen, dass es ihn schon allein bei der Vorstellung an eine feste Bindung kalt überlief. Ich hatte ihn noch beschwichtigen wollen, indem ich die Idee widerrufen hatte, doch damit hatte ich bei ihm auch nichts mehr bewirken können. In diesem Moment war ihm nämlich ein für alle Mal klar geworden, an was für Voraussetzungen ich ein gemeinsames Sexualleben geknüpft hatte. Er hatte sich jedoch nur für unverbindlichen Sex interessiert und sich am Ende gegen die Liebe entschieden.

Dass Yva ihn und keinen der anderen beiden erwähnt hatte, resultierte aus dem ungewöhnlich guten Verhältnis zu Flóki. Darum hielten sie noch heute den Kontakt, wenn auch überwiegend schriftlich, da er bereits ein Jahr nach unserer Trennung aus beruflichen Gründen seinen Wohnsitz gewechselt hatte und nicht mehr so ohne Weiteres erreichbar war.

»Ich wusste ja schon immer, dass du nachtragend bist, aber so sehr? Überspannst du nicht doch allmählich den Bogen?«, merkte ich an. »Und überhaupt, wie kommst du plötzlich auf ihn? Er ist Geschichte!«

»Du weißt doch ganz genau, wie gern ich ihn habe.«

»Ja, aber neun Jahre ist eine lange Zeit. Für dich offensichtlich zu wenig, um über ihn hinwegzukommen.«

»Na und?!«

»Dann krall du ihn dir doch, wenn er dir so sehr fehlt.«

»Soll das ein Witz sein? Der ist steinalt!«

»Er ist so alt wie ich«, rief ich empört. Streng genommen war er ein Jahr älter als ich.

»Na, sag ich doch!«

»Könntet ihr eure sinnlose Diskussion auf ein andermal verschieben? Ich würde jetzt gern in aller Ruhe frühstücken«, erklärte Mami und seufzte dramatisch auf.

»Meinetwegen«, tat ich gleichgültig.

Yva fiel es viel schwerer, abzulassen. »Aber wir haben das mit dem Kerl von gestern Abend noch gar nicht geklärt.«

»Das hast du dir selbst zuzuschreiben, wenn du mir lieber Vorträge über mein verkorkstes Leben hältst und alte Kamellen hervorkramst.« Ich schnappte mir eine Scheibe Brot aus dem Füllkörbchen. Wegen des ganzen Geredes an diesem Morgen blieben mir nun nur noch lächerliche zehn Minuten, um das Brot, das hartgekochte Frühstücksei und zwei weitere Tassen Kaffee herunterzuschlingen, bis ich zur Arbeit musste. Für Leute wie Yva oder Papi oder andere Familienmitglieder wäre das überhaupt kein Akt gewesen, aber ich verabscheute Hektik, besonders dann, wenn sie am frühen Morgen stattfand.

»Jetzt sag schon, hast du nun was mit dem am Laufen?«, ignorierte sie einfach die Fakten.

»Er heißt übrigens Håkon und wir sind bloß Arbeitskollegen«, behauptete ich steif und fest, damit sie endlich Ruhe gab.

»Wer soll dir das bitteschön abkaufen?«

Stöhnend platzte ich vom Stuhl, sackte mein mit braunem Käse belegtes Brot und das noch ungeöffnete Ei ein und flüchtete auf den Flur. Dort klemmte ich mir das Brot zwischen die Zähne, um mir meinen Mantel ungehindert überwerfen zu können. Das Ei verstaute ich in der Seitentasche des Mantels und die Mütze, den Schal und die Handschuhe sammelte ich in null Komma nichts einhändig ein. Bis zum Auto waren es schlappe fünfzehn Schritte, und diese würde ich auch locker ohne winterfeste Klamotten am Leib überleben.

»Das ist aber nicht gesund, was du da tust«, rief Mami mir hinterher.

»Gesünder als mit Yva am selben Tisch zu sitzen ist es allemal!«, widersprach ich eher undeutlich, denn meine Zähne steckten noch immer in dem Brot fest.

»Bist du denn heute Abend pünktlich daheim? Wir haben uns nämlich vorgenommen, das Chaos im Keller zu beseitigen.«

»Ja, ja«, entgegnete ich heiter, zog die Tür von außen rasch ins Schloss und brummelte: »Keller! Ohne gescheiten Grund würde keiner der geladenen Gäste dort heruntergehen, Herrgott.« Doch nötig hatte er es.

Drei

»Seit dem Abendessen hat er sich nicht mehr bei mir gemeldet«, beklagte ich mich tags darauf via Handy bei Mailin im Flüsterton. Sie war meine Herzensfreundin und die Einzige, vor der ich keine Geheimnisse hatte. »Und als wäre das nicht schon traurig genug, verspätet er sich heute auch noch ganz zufällig.« Genauer gesagt war er drei Stunden über die Zeit. Das war ihm noch nie passiert.

»Du bewertest das über. Warum nimmst du das so persönlich? Ich meine, er ist viel zu verantwortungsbewusst und würde das Berufliche niemals unter seine privaten Angelegenheiten stellen, ganz egal, ob er sich davor scheut, dir über den Weg zu laufen. Und auch dafür gibt es ja keinen Grund. Erinnerst du dich denn etwa nicht mehr? Alles verlief reibungslos bei eurem Abendessen.«

»Natürlich erinnere ich mich noch daran.«

»Na bitte!«

Ich warf einen kurzen prüfenden Blick auf meine Armbanduhr, um das Ende meiner zehnminütigen Pause nicht zu verschlafen. Ich hatte mich auf der Toilette verbarrikadiert, weil das der einzige Ort war, an dem man Ruhe und Privatsphäre fand. Es war nicht einmal unappetitlich, denn nicht nur im Laden, auch hier hing dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr die weihnachtliche Duftmischung aus Zimt und Zitrusfrüchten in der Luft statt der beißende Geruch von Klostein und Urin.

»Und wenn er nur höflich sein und mir nicht sagen wollte, dass er sich mit mir zu Tode gelangweilt hat?«

»Gütiger Himmel, Linnéa! Manchmal glaube ich wirklich, du machst das mit voller Absicht.«

»Was meinst du damit?«

»Dass du, kaum nähert ihr euch an, Gründe suchst, wieder zu mauern.«

»Irrtum! Ich freue mich über jeden Schritt nach vorn.«

»Dann gewöhn es dir ab, ihm Dinge zu unterstellen. Du weißt ganz genau, dass er perfekt ist. Aus diesem Grund hast du auch Feuer gefangen.«

Exakt, er war perfekt. Aber niemand war perfekt. Und erst recht kein Mann. Ausgenommen wenn er homosexuell war. Oder mein Vater. Doch egal wie oft ich es drehte und wendete, ich konnte einfach nichts Übles an Håkon finden. Er war alles, was sich eine Frau nur wünschen konnte.

Neben in sich ruhend, humorvoll, pünktlich und charmant, war er auch kommunikativ, intelligent, galant, verständnisvoll, spontan und lebensfroh. Obendrein hatte er ein unverkennbares Erscheinungsbild. Es war weniger adonisch als vielmehr apart. Seine hellgrauen Augen zogen mich wie eine Spirale in sich hinein und umklammerten mich fest, sodass es kein Entkommen gab. Darum vermied ich es, ihm allzu oft direkt hineinzublicken. Zwar fielen sie leicht ab, doch es lag so viel Wärme in seinem Blick, dass es mich an manchen Tagen richtig schmerzte, weil ich ihn nicht Mein nennen durfte. Und sein Lächeln war einzigartig. Genau genommen glich es eher einem Schmunzeln. In vielen Fällen wirkte er verlegen dabei. Für ihn war das Fluch und Segen zugleich. So konnte er Frauen, die ihm gefielen, leicht um den Finger wickeln, doch Frauen die ihm nicht gefielen, missinterpretierten den Gesichtszug am laufenden Band. So wie ich!

Wenigstens war ich trotz blonder Haarpracht kein kleines Dummchen und mir dessen bewusst. Also litt in mich hinein, statt ihm schamlos auf den Pelz zu rücken. Nun, über ein bisschen Würde verfügte ich schon noch!

»Ich sollte aufhören, mir Hoffnungen zu machen. Er erwidert meine Gefühle nicht. Und wenn er es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht tut, wird er es niemals tun.«

»Mach dir doch nichts vor, Süße. Solange du Gefühle für ihn hast, wirst du die Hoffnung nicht aufgeben können. Das ist quasi miteinander verknüpft.«

»Dann sollte ich schleunigst dafür sorgen, dass sich das ändert. Wollen wir uns am Samstag amüsieren und Jungs aufreißen gehen? Für mich, meine ich?« Denn Mailin war ja längst in festen Händen. Nicht nur das, auch Mutter einer zuckersüßen Tochter.

Mailin räusperte sich. »Bist du dir sicher?«

»Ja, das bin ich! Ich werde nicht jünger und möchte noch in diesem Leben heiraten und Sex und Kinder haben.«

»Ganz ehrlich, Linnéa«, sie seufzte schwer, »würdest du bloß auf deine Prinzipien pfeifen, dann würdest auch du an Sex Gefallen finden.« Sie lachte hell auf.

Woher meine Prinzipien zu diesem Thema kamen, hatte ich bis heute nicht herausfinden können. Ich war nicht besonders religiös und war Sex nicht im Geringsten abgeneigt. Für mich war Sex schlicht und ergreifend ein derart intimes Ereignis, dass ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, ihn mit jeder dahergelaufenen Niete zu praktizieren. Meinen Körper musste ein Mann sich noch verdienen. Wie sonst sollte er ihn zu schätzen wissen, statt ihn nur abzufertigen wie billiges, wesenloses Fleisch? Hinter meinen Prinzipien steckten offenbar bloße Wertvorstellungen, die rein gar nichts mit Ethik, sondern allein mit Selbstwertgefühl zu tun hatten.

 

Ich vernahm, dass plötzlich jemand die Tür zur Toilette öffnete. Daraufhin machte sich meine Chefin barsch bemerkbar. »Fräulein Lysefjord?«

Ich erschrak heftig und bekam einen roten Kopf, fühlte mich wie ein kleines Kind, das bei etwas Verbotenem ertappt worden war. Nun war ich mehr als glücklich, dass ich mich zuvor in eine der Kabinen eingeschlossen hatte und sie mich so nicht zu Gesicht bekam. Ich machte auch keine Anstalten, zu ihr herauszukommen.

»Ja?«, rief ich zögerlich.

»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie das Telefonat beenden und sich zu mir herausbequemen würden.«

»Ich muss Schluss machen«, raunte ich ins Mikrofon und drückte Mailin eilig fort, ohne eine Antwort abzuwarten. Ich wusste, dass es sie nicht verärgern würde, denn ein jähes Gesprächsende wie dieses war sie längst gewohnt. Noch ehe ich die Kabinentür ganz geöffnet hatte, stellte ich klar: »Ich habe noch zwei Minuten, Frau Hæreid.«

»Herr Ertsås kann sich seine Pausen auch nicht aussuchen. Nun gehen Sie schon und helfen ihm freundlicherweise dabei, die Wacholderbäumchen hereinzutragen.«

Håkon war da? Warum hatte sie das nicht gleich gesagt? Natürlich ließ ich mir das nicht zweimal sagen. »Das ist durchaus ein schlagendes Argument, Frau Hæreid.«

Trotz Eile vergaß ich dieses Mal nicht, mir meinen Mantel überzuziehen und den Schal umzubinden. Auf die Handschuhe, die mich beim Schleppen ohnehin nur behindern würden, und die Mütze verzichtete ich. Als ich den Kleintransporter erreichte, war weit und breit keine Spur von Håkon zu sehen. Ich ging einmal ganz um das Fahrzeug herum, stellte mich auf die Zehenspitzen und reckte meinen Hals, um durch das Beifahrerfenster einen Blick in die Fahrerkabine zu werfen. Doch auch dort hielt er sich nicht auf.

Gerade, als ich wieder in den Laden zurückgehen und dort nach ihm suchen wollte, um ihm in aller Deutlichkeit zu sagen, dass ich die Ware heute nicht wieder allein in den Laden befördern würde und nicht seine livrierte Dienerin war, traf mich plötzlich etwas hart am Hinterkopf.

Ich schrie: »Aua!«, packte mir an die Stelle, an der es schmerzte, und wandte mich um.

Es war Håkon. Er lugte hinter einem dicken Baum hervor und lachte sich ins Fäustchen. Dann bückte er sich, nahm Schnee auf, formte ihn zu einem Ball und schmetterte ihn ein weiteres Mal in meine Richtung. Doch dieses Mal verfehlte er mich um Haaresbreite und der Schneeball flog über meine linke Schulter hinweg.

»Håkon!«, ermahnte ich ihn gackernd und ließ es mir nicht nehmen, es ihm heimzuzahlen. Auch ich nahm eine reichliche Menge Schnee auf, formte eine einigermaßen runde Kugel daraus und warf sie nach ihm. Mir war bewusst, dass meine Chance, ihn zu treffen, gleich null war, solange er sich hinter diesem Baum aufhielt. Darum stakste ich so schnell es mir eben möglich war durch den hohen Schnee auf einer großen Rasenfläche zu ihm. Währenddessen formte ich bereits den zweiten Schneeball. »Du Angsthase, komm hervor und stell dich mir verdammt nochmal wie ein Mann!«

Er ließ sich nicht lange bitten, stürzte hinter dem Baum hervor und eröffnete das Feuer. Dieser Mistkerl! Er hatte die Zeit, die ich gebraucht hatte, um mich ihm zu nähern, genutzt, um zahlreiche Schneebälle vorzuformen. Nicht ein einziger verfehlte mich. Doch wenn er geglaubt hatte, er könnte mich mit dieser Aktion einschüchtern, hatte er sich mächtig getäuscht. Mit den Armen schirmte ich mein Gesicht grob vor den harten Bällen ab, während ich ihm die letzten Meter entgegenlief. Mein Entschluss, ihn mit meinem Schneeball zu liquidieren, war viel zu groß, um nun die Waffen zu strecken.

Als ich ihn beinahe erreicht hatte, lief er die letzten Meter mit erhobenen Händen auf mich zu. »Ich ergebe mich«, wollte er mir ernsthaft weismachen.

»Der Schneeball in deiner Rechten spricht eindeutig dagegen«, ließ ich mich nicht irreführen. »Lass ihn fallen!«

Er zögerte.

»Ich sagte, lass ihn fallen!« Ich hob meine Hand, in welcher ich meinen Schneeball hielt, und kündigte seinen Niedergang an.

Noch immer trennte er sich nicht von seinem geliebten Ball und brach stattdessen in Gelächter aus. Das ließ ich mir nicht bieten und feuerte meinen Ball auf ihn ab, der ihn mitten auf der Brust traf. Sein Lachen erlosch abrupt und er setzte ein schockiertes Gesicht auf. Seinen Schneeball ließ er locker aus der Hand fallen, fasste sich theatralisch an die angeblich verwundete Stelle und begann, wie ein von einer Kugel Getroffener vor und zurück und wieder vor zu taumeln. Es dauerte lang, bis er schlussendlich vor mir auf seine Knie, dann rücklings in die hohe weiße Masse stürzte und sich tot stellte. Doch statt in Tränen auszubrechen, hüpfte und tanzte ich vor Freude über meinen Sieg wie Rumpelstilzchen um sein Feuer.

Aber meine Freude währte nicht lang, denn Håkon war kein guter Verlierer, schoss mit dem Oberkörper hoch, riss mich an meinem Arm zu sich auf den Boden und seifte mein Gesicht mit einer Handvoll Schnee ein.

Ich rief: »Hör auf!« und bog mich vor Lachen. Ich schlug gegen seine Arme und Schultern. »Stooopp!«

Endlich ließ er von mir ab und rollte sich wieder auf den Rücken zurück. Erschöpft, aber glückstrahlend lagen wir nebeneinander. Wir rührten uns so lange nicht von der Stelle, bis wir wieder zu Atem gekommen waren.

Mit schwerfälligen Bewegungen richtete er sich wieder auf und stellte sich auf die Füße. Dann streckte er mir seine helfende Hand entgegen: »Komm, bevor du dir einen Schnupfen holst.«

Dankend nahm ich seine Hand in Empfang. Mit spielerischer Leichtigkeit brachte er mich in die aufrechte Position. Durch ihn fühlte ich mich leicht wie ein Schmetterling, obwohl ich wegen diverser Naschorgien, die in der Weihnachtszeit sogar monströse Ausmaße annahmen, stolze sechs Pfund zugenommen hatte.

Ich war mir sicher, dass Frau Hæreid uns beobachtet hatte, doch ich wusste auch, dass sie vor Håkon niemals außer sich geraten und mich anherrschen würde.

Auf dem Weg zum Transporter wagte ich die Frage, die mir unter den Nägeln brannte, zu stellen: »Warum bist du heute so spät dran?« Da er nun hier war, wurde offenbar, dass es nichts mit mir zu tun hatte. Dennoch wollte ich den letzten noch so kleinen Zweifel ausräumen.

Er winkte ab. »Auf den Straßen ist die Hölle los. Als wäre das Schneechaos nicht genug, musste es auch noch eine Massenkarambolage auf der E39 geben. Es hat Stunden gedauert, bis die Fahrzeuge, die glücklicherweise nicht davon betroffen waren, dort endlich herauskamen. Durch die Verspätung bin ich heute noch nicht ein einziges Mal zu Atem gekommen.«

»Das ist ja schrecklich!«

Håkon öffnete die Flügeltüren des Kleintransporters. Sofort schlug uns der Duft von frischem Wacholder entgegen. Ich inhalierte diesen und schloss einen Moment lang schwelgerisch die Augen, während Håkon in den Wagen hineinkletterte.

»Das ist es«, pflichtete er mir bei und löste die ein oder andere Fixierung. »Aber weißt du, was noch schrecklicher ist?«

»Was ist denn noch schrecklicher als eine Massenkarambolage mit zig Toten?«

»Nun, na ja«, er räusperte sich ausgiebig, was ganz unmissverständlich auf Gewissensbisse hindeutete, »dass wir unseren innigst geliebten Kaffee heute abermals ausfallen lassen müssen.«

»Oh!«, machte ich. Es versetzte mir einen heftigen Stich ins Herz. Doch er hatte mich noch lange nicht so weit, dass ich mich vergessen würde. Auch heute würde ich ihm keine Szene machen. Dafür hatte er mir eine lustige Schneeballschlacht geschenkt. Womöglich war ihm gar nicht aufgefallen, dass er mir trotz Zeitknappheit bereits einige wertvolle Minuten gewidmet hatte. War mir doch schnuppe, wie wir die Zeit miteinander verbrachten, am Ende zählte nur, dass wir sie miteinander verbrachten. »Wird das zur Gewohnheit?« Ich versuchte, kess zu wirken und streckte ihm die Zunge heraus.

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