FABIANS WEG

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Z serii: Blutbande #1
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Beim letzten Gedanken angekommen, fühlte Fabian einen solch großen Druck auf dem Herzen, dass er meinte, es würde jeden Moment zerquetscht werden. Gleichzeitig schoss eine Welle des Zorns wie eine Feuerwalze durch sein Hirn, was ihn kurzzeitig die Beherrschung verlieren ließ.

„Verfluchtes Miststück!“ Er merkte noch nicht einmal, dass seine Finger Pias Arme ergriffen hatten und sie nun wie Schraubstöcke umfingen. Als ihm jedoch eine Welle hilfloser Qual entgegenschwappte, die eindeutig von ihr ausging, und er zudem neue Tränen in ihre Augen schießen sah, kam er augenblicklich wieder zur Besinnung. „Nicht doch, mein kleiner Engel.“ Seinen schmerzhaften Griff lösend, zog er das Kind gleich darauf an sich, um es anhand einer zärtlichen Umarmung zu beschwichtigen. „Dich hab’ ich doch nicht gemeint. Es tut mir leid. Wirklich! Ich bin nur so wütend auf … Aa, verdammt! Ich weiß ja noch nicht einmal, wie ich sie nennen soll!“ Das Mädchen fest an sich gedrückt, atmete er ein paar Mal tief durch und bezwang so seinen Drang, einige unflätige Beschimpfungen von sich zu geben. „Ist schon gut“, murmelte er am Ende, indem er Pia wieder ein bisschen von sich wegschob, um ihr ins Gesicht schauen zu können. „Du musst keine Angst haben. Ich bin nicht böse auf dich. Ich bin bloß ein bisschen durcheinander, das ist alles.“

Innerlich noch ein wenig unsicher, weil er nicht so recht wusste, wie genau es nun weitergehen sollte, beschloss Fabian, dass er später mit der Pflegemutter sprechen wollte. Dabei hoffte er von Herzen, dass man ihn nicht als einen armen Irren ansehen würde, der sich mit hanebüchenen Geschichten wichtigmachen wollte. Allerdings würde er die Sache mit dem Gedankenlesen unter den Tisch fallen lassen, nahm er sich vor, denn er konnte sich gut vorstellen, wie Kerstin darauf reagieren würde. Pia hatte schon genug Probleme, da musste man nicht noch neue schaffen! Hatte er selbst nicht eben gerade noch gefürchtet, man könne seine intimsten Geheimnisse in Erfahrung bringen, ohne dass er dies merkte? Nun, er vertraute der Kleinen blind, denn er war überzeugt, dass sie nie etwas tun würde, was gegen den Willen ihrer Mitmenschen war. Aber andere würden das garantiert nicht tun! Sie würden Pia wie ein heimtückisches Monster ansehen und womöglich noch schlimmer behandeln als sie es bisher getan hatten. Nein, das wollte er auf keinen Fall zulassen. Schließlich war es völlig ausreichend, dass er davon wusste.

„Sie ist was?“ Kerstin glaubte im ersten Moment an einen Scherz und war versucht, eine entsprechende Erwiderung vom Stapel zu lassen. Als sie jedoch Fabians todernste Miene registrierte, nahm sie sich zusammen. Es war nicht seine Art, solche Witze zu machen, rief sie sich in Erinnerung. An der Geschichte war vielleicht doch etwas dran? „Erzähle.“

„Sie ist eine Seherin“, wiederholte er. „Die zudem ein hochsensibles Gespür für die Gefühle und Ängste ihrer Mitmenschen besitzt.“ Er war sich bewusst, dass man seinen Worten mit berechtigtem Zweifel begegnete. Dennoch verlor er nicht den Mut, denn ihm war ebenso klar, dass Pias zukünftiges Leben allein durch sein Engagement erleichtert werden konnte. Wenn er nicht für Hilfe sorgte, würde alles so weitergehen wie bisher, denn sie würde ihr „Handicap“ keinem anderen anvertrauen! „Wahrscheinlich ist das auch der Grund dafür, warum bis jetzt niemand so richtig mit ihr zurechtkam. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass ein normaler Erwachsener, also jemand, der so etwas für absoluten Hokuspokus hält, damit umgehen kann.“ Pias Warnungen waren vermutlich auf taube Ohren gestoßen, mutmaßte er, weil sie zum einen bestimmt nicht immer so zeitnah erfolgt waren, wie an vergangenen Nachmittag, und sich außerdem niemand wirklich damit auseinandergesetzt hatte. Allein ihr Verhalten, welches sie während einer Vision zeigte, musste wie eine gut einstudierte Theater-Szene aufgefasst worden sein, denn nur so waren der Widerwillen und die Wut zu erklären, die man dem Kind in der Vergangenheit entgegengebracht hatte. „Sie haben sie wahrscheinlich für ein freches, vorlautes Ding gehalten und bestraft, sobald sie auch nur den Mund aufmachte. Kein Wunder, dass sie es irgendwann aufgab, überhaupt etwas zu sagen.“

Zu Kerstins anhaltenden Zweifeln kam nun Sorge hinzu.

„Woher weißt du, dass sie dich nicht beschwindelt hat?“, wollte sie wissen. „Kann es nicht sein, dass sie für dich bloß etwas ganz Besonderes sein will, damit du ihr weiter deine …?“

„Ich hab’s am eigenen Leibe zu spüren bekommen“, unterbrach er mit ruhiger Stimme. „Sie sah mich an, schien aber meilenweit weg zu sein, während sie mir von Minka auf der Treppe erzählte. Ich war nur deshalb rechtzeitig da, um dich zu warnen, weil sie mich zuvor darauf aufmerksam gemacht hat, dass dir ein schlimmer Unfall bevorsteht. Nein“, kam er einem Einwurf zuvor, indem er zusätzlich die Rechte zu einer abwehrenden Geste hob. „Das war weder Zufall noch eine logische Schlussfolgerung. Du weißt selbst, dass Minka sonst nie ins Haus kommt. Und selbst wenn Pia das Tier vorher bemerkt hätte, hätte sie es selbst weggescheucht, damit niemand zu Schaden kommt, statt rauszugehen und im Vorgarten auf mich zu warten, damit ich es tue.“

Kerstin überdachte das Gesagte noch einmal sehr gründlich. Am Ende ihrer Überlegungen beschloss sie, dass sie die fantastisch anmutende Geschichte ihres Gegenübers vorerst ohne eine Bewertung hinnehmen würde, um dann nach einem ausführlichen Gespräch mit dem für Pia zuständigen Psychologen entsprechende Schritte einzuleiten. In der Zwischenzeit wollte sie weitere Details in Erfahrung bringen, denn sie war ja von Natur aus neugierig und im Grunde gar nicht mehr abgeneigt, Fabians Behauptung als glaubwürdige Aussage zu akzeptieren. Immerhin gab es auf der ganzen Welt ernst zu nehmende Wissenschaftler, die sich mit solchen Phänomenen auseinandersetzten, redete sie sich nun selbst gut zu. Wenn die Kleine tatsächlich eine derartige Begabung besaß, konnte man das bestimmt anhand wissenschaftlicher Tests prüfen.

„Und warum du?“ Das gleichmütige Gesicht des Jungen betrachtend, klappte sie gleichzeitig das Haushaltsbuch zu, welches sie vor seinem Eintritt in ihr Büro auf den neuesten Stand gebracht hatte. „Wieso vertraut sie ausgerechnet dir ihr Geheimnis an, wo sie dich gerade mal seit zwei Wochen kennt?“

„Weil sie mich für ihren Bruder hält“, erwiderte er ernst. „Ja, ja, ich weiß“, kam er wiederum einem Einwand zuvor, sobald er die überraschte Miene seines Gegenübers registrierte, die zusehendes betroffener wurde. „Auch das hört sich absolut verrückt an. Aber es ist möglich.“ Die Worte waren kaum heraus, da wurde ihm klar, dass er eine Erklärung folgen lassen musste, weil Kerstin nach wie vor keine Ahnung davon hatte, was mit ihm los war. „Elisa Andersen ist nicht wirklich meine Mutter, weißt du. Irgendeine andere Frau hat mich geboren und dann zur Adoption freigegeben. Und da ich nicht genau weiß, von wem ich abstamme, kann es sein, dass Pia und ich wirklich verwandt sind.“ Für ihn war es längst Gewissheit, dass das Mädchen und er wie zwei Blätter von ein und demselben Baum waren, die ein gnadenloser Schicksals-Wind mit sich gerissen und durch puren Zufall an ein und derselben Stelle fallen gelassen hatte, sodass sie aufeinandertreffen konnten. Doch sprach er das nicht aus, weil er es nicht beweisen konnte und daher nicht Gefahr laufen wollte, dass seine Glaubwürdigkeit doch noch infrage gestellt wurde.

Ja, jetzt verstand sie die Sache auf jeden Fall besser, stellte Kerstin unterdessen für sich fest. Auch wenn sie immer noch nicht ganz begriff, wie Pia dazu kam, einen wildfremden Jungen als ihren Bruder anzusehen, konnte sie doch nachvollziehen, warum die Kleine sich so sehr zu ihm hingezogen fühlte. Verwandte Seelen fanden sich sozusagen blind. Und das Bedürfnis nach einem unverrückbaren Fixpunkt im eigenen Leben sorgte für alles Weitere. Die vermeintliche Gewissheit, einen nahen und dazu auch noch fürsorglichen Verwandten neben sich zu haben, war mithin der beste Trost, dem man sich wünschen konnte!

„Ich werde Doktor Zöller gleich morgen früh bitten …“ Weiter kam sie nicht, denn Fabian fiel ihr ins Wort: „Nein, lass sie vorerst ganz in Ruhe. Bitte! Sie braucht im Moment keinen Psychomenschen, sondern nur jemanden, der sie gernhat und ihr zuhört, ohne sie analysieren zu wollen.“

Und du? Was brauchst du, fragte Kerstin im Stillen. Bist du wirklich so stark und abgeklärt, wie du tust? Oder bist du nicht doch nur ein kleiner Junge, der seine Sehnsucht nach bedingungsloser Liebe kaum bändigen kann und deshalb ein kleines verstörtes Mädchen in sein Herz schließt, damit die Einsamkeit erträglicher wird?

„Gut“, reagierte sie endlich auf seine Bitte. „Aber wenn du nicht mehr weiterweißt, kommst du schleunigst zu mir, okay! Du musst da nämlich nicht allein durch, auch wenn du vielleicht meinst, dass das von dir erwartet wird.“

„In Ordnung“, stimmte er zu und stand auch schon auf, um zu gehen. Obwohl er sein erstes Ziel erreicht hatte, war er keineswegs erleichtert, denn die Überzeugung, dass man erst den Anfang eines langen und vermutlich ziemlich steinigen Weges in Angriff genommen hatte, bescherte ihm ein flaues Gefühl in der Magengegend. Was, fragte er sich, wenn es niemanden gab, der Pia wirklich helfen konnte? Oder wenn jemand meinte, sie wieder in eine andere Pflegefamilie geben zu müssen? Er selbst würde stets für sie da sein, das hatte er ja geschworen. Aber es stand nicht in seiner Macht, über ihren Aufenthaltsort zu bestimmen.

Fabian war schon fast in seinem Zimmer, da meinte er Pias Ruf gehört zu haben und ging hin, um nach ihr zu sehen. Da sie aber tief und fest schlief und dabei ein Lächeln auf den Lippen trug, erkannte er, dass sie wohl gerade einen schönen Traum erlebte, in welchem auch er eine Rolle spielte. Zudem ging ein Gefühl zufriedener Sicherheit von ihr aus, was ihn so weit beruhigte, dass er, ohne weiter über mögliche Probleme nachzudenken, in sein Zimmer ging, um sich schlafen zu legen.

 

9

Schon bei ihrem Erkundungs-Besuch in Kassel hatte für Elisa festgestanden, dass auch sie in dieser Stadt ein neues Zuhause finden wollte. Da sie selbst jedoch durch Fabians Belange vereinnahmt worden war, hatte sie einen Makler mit der Suche nach einem passenden Haus beauftragt, welches sie zu kaufen gedachte. Wenige Tage später waren ihr dann mehrere Angebote vorgelegt worden, die zu prüfen waren. Also war sie hingefahren, um sich vor Ort ein Bild zu machen. Am Ende hatte sie sich dann für ein kleines, von Grund auf saniertes Häuschen aus den späten Fünfzigern entschieden, weil es nicht nur eine gemütliche Grund-Atmosphäre, sondern auch einen großen, von Licht durchfluteten Wintergarten besaß, den sie zu ihrem Atelier machen wollte. Dass die Garage noch voller Gerümpel gestanden hatte und der weitläufige Garten komplett vernachlässigt gewesen war, hatte sie nicht gekümmert. Auch die Tatsache, dass sich zunächst eine Malerkolonne durchs Haus arbeiten und sie selbst eine Putzorgie würde veranstalten müssen, bevor man die neuen Möbel aufstellen konnte, war ihr unwichtig erschienen. Für sie hatte bloß gezählt, dass sie so bald als möglich einziehen konnte, um keine Sekunde länger als unbedingt nötig in Karls Nähe bleiben zu müssen. Auf der Rückfahrt nach Hamburg war sie dann in eine Massenkarambolage verwickelt und anschließend schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert worden. Und weil sie dort für mehrere Wochen in einer Streck-Vorrichtung liegen bleiben musste, in welcher ihr mehrfach gebrochenes Bein wieder gerichtet werden sollte, war sie gezwungen gewesen, ihr gesamtes Vorhaben per Telefon abzuwickeln.

Ende Oktober waren die Verletzungen endlich so verheilt, dass Elisa wieder ohne Krücken laufen konnte. Auch die Vorbereitungen ihres neuen Heims waren mittlerweile so weit gediehen, dass man es einrichten konnte. Daher fuhr sie per Bahn nach Kassel, besuchte dort verschiedene Möbelhäuser, um ihre Bestellungen aufzugeben, und bat dann ihren Taxichauffeur, er sollte sie zum Paulus-Anwesen bringen. Karl wusste noch nichts, und sollte ihre Entscheidung erst am letzten Tag erfahren, denn sie verspürte wenig Lust, die Zeit bis zu ihrem Umzug mit sinnlosen Streitereien zu verbringen. Aber ihren Sohn wollte sie jetzt endlich einweihen.

„Tut mir leid“, erklärte Kerstin voller Bedauern, sobald sie die Besucherin erkannte „aber Fabian ist gar nicht da. Er hat vor ein paar Tagen unweit von hier eine Schreinerei aufgetan, wo er sich Holzabfälle für seine Schnitzereien holt. Aber Sie können gern auf ihn warten.“ Ihren Gast in den Wohnraum geleitend, rückte sie sogleich einen Sessel zurecht, der unweit des breiten Fensters vor einem Tisch mit einem scheinbar vergessenen Brettspiel stand. „Er kommt meist zügig wieder zurück, weil er seine Freundin nicht so lange allein lassen will.“ Elisas verwunderten und zugleich ein wenig befremdeten Blick auffangend, lachte sie. Gleich darauf deutete sie mit dem Kinn in die Spielecke, wo ein kleines blondes Mädchen hockte und in einem Bilderbuch blätterte. „Pia ist sozusagen Fabians siamesischer Zwilling. Seit er hier angekommen ist, sind die zwei unzertrennlich.“ Für einen Augenblick unschlüssig zwischen dem Kind und der Besucherin hin und her blickend, nickte sie am Ende, so als wollte sie sich selbst etwas bestätigen. „Verzeihen Sie, aber ich müsste dringend in die Küche zurück. Unsere Gerda ist nämlich nicht mehr die jüngste und braucht ein bisschen Hilfe. Wollen Sie vielleicht einen Kaffee? Oder etwas anderes?“

„Nein, danke“, erwiderte Elisa freundlich. „Ich möchte nichts.“

Da man sie daraufhin sich selbst überließ, lehnte sie sich entspannt zurück. Die Dekoration des mit hellen Möbeln ausgestatteten Raumes betrachtend, lobte sie im Stillen die glückliche Wahl der Farben, und schaute dann zur Spielecke hin, wo das kleine Mädchen immer noch in dem Bilderbuch blätterte, dabei aber den Eindruck erweckte, als wäre es nicht mehr wirklich bei der Sache.

Insgeheim die zarte Schönheit des Kindes bewundernd, fand sich die kleine Frau urplötzlich selbst durch einen aufmerksamen Blick fixiert und spürte dabei ein eigenartiges Prickeln im Nacken, welches sogleich auf ihren Rücken übergriff, um dort jedes Härchen einzeln aufstehen zu lassen. Sie wusste, die feinen Züge und den Mund mit den vollen Lippen hatte sie schon einmal irgendwo gesehen, konnte sich jedoch nicht erinnern, wo das gewesen sein sollte. Außerdem empfand sie plötzlich den Wunsch, zu dem Mädchen hinüberzugehen, um es aus nächster Nähe ansehen zu können. Also stand sie auf und schlenderte langsam zu der Spielecke hinüber, um sich dort schließlich in die Hocke zu begeben, damit sie auf gleicher Augenhöhe mit der Kleinen sei.

„Du bist also Pia, ja?“, fragte sie freundlich. „Ich bin Elisa“, stellte sie sich anschließend selbst vor. „Ich bin Fabians Mama.“ Die Hand ausstreckend, wollte sie gleich darauf die Finger des Kindes erfassen, wurde jedoch durch eine panisch anmutende Abwehr-Geste aufgehalten. „Oh!“ Ihre betroffene Gekränktheit schwand so rasch, wie sie entstanden war, als sie begriff, dass ein Händedruck keineswegs zu den üblichen Begrüßungsritualen kleiner Kinder zählte. „Entschuldige“, bat sie daraufhin zerknirscht. „Ich wollte dich ganz bestimmt nicht erschrecken.“ Während sie sprach, schlüpfte sie aus ihren Schuhen und setzte sich dann neben die Kleine auf den dicken Spiel-Teppich. Sie merkte wohl, dass das Mädchen ängstlich vor ihr zurückwich, wollte aber nicht gleich wieder aufspringen. Also saß sie da und strich mit langsamen, bedachten Bewegungen ihren Rock glatt. „Du magst Fabian wohl gern?“, fragte sie, indem sie einen imaginären Fussel von der Oberfläche abzupfte.

Pia wusste, welche Rolle Elisa in Fabians Leben spielte, denn deren Porträt stand auf seinem Schreibtisch und sein Herz war voller Liebe für seine Mama. Nichtsdestotrotz hielt sie sich sorgsam aus der Reichweite der fremden Frau, denn sie wollte keinen Körperkontakt zulassen, aus Angst, dies könnte zu einem ihrer gefürchteten Blackouts führen. Zudem war sie ein wenig verunsichert, weil sie einige Gedankengänge der Besucherin nicht entschlüsseln konnte, da diese so sorgsam abgeschirmt waren, als würden sie bewusst gegen „Spionage“ geschützt werden. Als sie jedoch den sehnsüchtigen Schimmer in den braunen Augen sah, die ihr unendlich traurig erschienen, vergaß sie ihren Vorsatz und fasste reflexartig nach der Hand, die jetzt ruhig im Schoss der kleinen Frau lag, mit der Absicht, ein paar aufmunternde Worte sagen zu wollen. Doch hatte sie die warme Haut kaum berührt, da zuckte sie auch schon wieder zurück, ganz so, als hätte sie sich daran verbrannt. Zu viel, dachte sie voller Schrecken. Da war einfach zu viel Traurigkeit und Weh, als dass sie es hätte ertragen können!

„Ja, aber ich mag ihn anders als du“, ging sie nun auf Elisas Frage ein. „Er ist mein Bruder.“ Sie hatte kaum zu Ende gesprochen, da rappelte sie sich auch schon auf, um sogleich einen Schritt zurückzuweichen. Zum einen schien es ihr zu gefährlich, weiter neben der Frau sitzenzubleiben, weil deren Bedürfnis nach Zuwendung so stark von ihr ausstrahlte, dass sie nicht lange würde widerstehen können, ihr einfach um den Hals zu fallen. Zum anderen fühlte sie Fabians heranrückende Nähe und wollte ihm entgegenlaufen.

„Was … Aber …“ Elisa war wie vor den Kopf geschlagen und wusste daher nicht gleich, wie sie mit der Aussage des Kindes umgehen sollte. Doch nur einen Augenblick später schalt sie sich selbst eine Närrin, weil sie kindliche Fantasien für bare Münze nahm. Dem Mädchen nachblickend, das jetzt davon trippelte, tastete sie nach ihren Schuhen, zog sie an und stand dann ebenfalls auf.

Die kleine Frau hatte sich kaum aufgerichtet, da ging die Tür auf. Und im nächsten Moment erschien Fabian auf der Schwelle.

Leicht gebückt und die Arme schon ausgebreitet, mit der Absicht, Pia hochheben zu wollen, blieb der Junge mitten in der Bewegung wie eingefroren stehen, als er seine Mutter bemerkte. Sein offenes Lachen schwand und machte Platz für eine überraschte und zugleich ein wenig besorgte Miene. Gleich darauf stellte er sich gerade hin, um sie kurz aber gründlich zu mustern.

„Ja, hallo!“ Er hatte mit ihrem nächsten Besuch nicht vor den Winterferien gerechnet, denn er war davon ausgegangen, dass sie immer noch in ärztlicher Behandlung war und die weite Fahrt noch zu anstrengend für sie sei. Dass sie die Strapazen der Reise dennoch auf sich genommen hatte, nur um ihn jetzt schon zu sehen, bescherte ihm umgehend ein leichtes Schuldgefühl. „Wen haben wir denn da?“ Pia bei der Hand nehmend, ging er hin, um die Mutter anhand einer liebevollen Umarmung zu begrüßen.

Sie will dich wegholen“, ließ ihn die Kleine auf ihre Art wissen.

Fabian blieb keine Zeit, um eine Erwiderung zu formulieren, denn Elisa beanspruchte nun seine gesamte Wahrnehmung. Nein, er konnte nicht wirklich erfassen, was in ihrem Kopf vorging, gestand er sich nach einem hoch konzentrierten aber erfolglosen Versuch ein. Er konnte nur die Äußerlichkeiten bewerten. Allerdings waren die sehr aussagekräftig! Sie sah schlecht aus, was aber nicht nur eine Folge des Unfalls sein konnte. Die dunklen Ringe unter ihren Augen und ihre erschreckende Magerkeit machten deutlich, dass sie in den letzten Wochen auch nervlich sehr angespannt gewesen sein musste.

„Du hast dir ja ein süßes kleines Ding angelacht.“ Elisa merkte, dass er sich Sorgen um sie machte, und fühlte sogleich Unbehagen. Also versuchte sie, seine Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu lenken, was ihr auch zu gelingen schien, denn seine ernste Miene wich einem leichten Lächeln.

„Ja, das stimmt.“ Fabian erinnerte sich jäh an Pias Botschaft und hatte plötzlich das Bedürfnis, unmissverständlich klarzustellen, dass er das Mädchen auf gar keinen Fall wieder sich selbst überlassen würde. Was auch immer seine Mutter vorgehabt haben mochte, sie würde ihre Pläne aufgeben müssen! „Pia ist nicht nur meine Freundin, sondern auch meine kleine Schwester.“

Für eine Sekunde hielt Elisa diese Erklärung für einen makabren Scherz. Als sie aber den Ausdruck seiner Augen sah und nahezu den gleichen Blick von dem winzigen Mädchen auffing, traf es sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ja, natürlich, dachte sie, die Kleine war die exakte Kopie des dreijährigen Fabian. Dieselbe Gesichtsform! Das gleiche weißblonde feine Haar! Und selbst der melancholisch anmutende Zug um ihrer beider Mund war identisch! Aber das … War das möglich?

„Wir haben zumindest ein gemeinsames Elternteil“, fuhr Fabian fort, sobald er sich sicher war, dass Elisas Aufnahmefähigkeit nicht länger von ihren Überlegungen blockiert wurde. „Und ein seltsamer Zufall wollte es, dass wir uns hier finden.“ Weil man ihn daraufhin fragend und zweifelnd zugleich ansah, fuhr er fort: „Nein, ich bin nicht verrückt geworden. Und verulken will ich dich auch nicht. Es ist so, wie ich es gesagt hab.“ Einen kurzen Blick mit Pia wechselnd, nickte er der Kleinen gleich darauf zu, so als wollte er einem Vorschlag zustimmen, und fuhr dann fort: „Ich kann dir keine Beweise liefern, denn ich habe keine. Aber ich bin mir absolut sicher, dass in ihren Adern das gleiche Blut fließt, wie in meinen. Daher habe ich beschlossen, dass ich sie nicht mehr allein lasse, verstehst du. Egal, was passiert, ich lasse nicht zu, dass man sie wieder von mir trennt.“

Während Fabian noch sprach, meinte Elisa, sie sei in einem verwirrenden Traum gefangen, und hatte daher die größten Schwierigkeiten, seinen Ausführungen zu folgen. Doch war sein letztes Wort kaum zu Ende gebracht, da wusste sie, dass nicht nur ein neues Leben, sondern auch eine neue Aufgabe auf sie wartete.

„Na gut.“ Zunächst das trotzig wirkende Gesicht ihres Sohnes betrachtend, schaute sie gleich darauf zu dem Mädchen hinunter, welches sich an seiner Hand festklammerte. Dabei prüfte sie noch einmal den Einfall, der ihr gerade durch den Sinn gegangen war, nur um zu dem gleichen Ergebnis zu kommen, wie zuvor. „Dann zieht mal beide eine Jacke über. Wir gehen ein Haus angucken.“ Weil man sie nun gleich aus zwei Augenpaaren ein wenig verwirrt ansah, ließ sie umgehend eine Erklärung folgen: „Ich will umziehen, bin mir jetzt aber nicht mehr ganz sicher, ob das Haus wirklich groß genug ist. Also geht ihr mit, denn ich will eure Meinung dazu hören.“

„Und …“ Fabian hatte mittlerweile begriffen, dass es da eine gravierende Veränderung im Leben seiner Adoptiveltern gab, wusste aber nicht so recht, wie er seine Frage formulieren sollte. „Warum wollt ihr von Hamburg weg? Ist er …“

 

„Nein“, unterbrach Elisa mit ruhiger Stimme. „Du hast das falsch verstanden. Ich werde allein umziehen.“ Seinem bestürzten Blick ruhig standhaltend, bemühte sie sich um einen sachlichen Tonfall, als sie fortfuhr: „Es hat sich herausgestellt, dass mein Mann andere Ansichten zu einer Partnerschaft hat als ich. Also bleibt er in Hamburg, während ich hier leben werde. Und zwar mit euch zusammen. Ich will nämlich die Pflegschaft für Pia beantragen.“

„Das …“ Fabian war hin-und hergerissen. Zum einen fühlte er sich zutiefst schuldig, denn er ging davon aus, dass allein er für die Trennung verantwortlich war, und dass diese nicht nur Ärger, sondern auch viel Schmerz für seine Mutter mit sich gebracht hatte. Zum anderen war er ihr zutiefst dankbar für ihre Liebe und Loyalität, und hätte zudem Freudensprünge machen können, weil sich für ihn und die kleine Schwester endlich ein annehmbarer Weg in eine geordnete Zukunft abzeichnete. „Das willst du wirklich tun?“

„Ja natürlich“, erwiderte Elisa fest, indem sie zusätzlich nickte, um ihren Entschluss zu bekräftigen. „Aber jetzt ab mit euch!“ Nein, leicht würde es nicht werden, gestand sie sich ein, während sie den beiden zur Garderobe folgte, wo auch ihre Jacke hing. Aber sie würde nicht lockerlassen, beschloss sie, bis sie ihren Willen durchgesetzt hatte. Außerdem war der Gedanke an eine kleine Tochter so verlockend, dass sie gar nicht mehr anders konnte. Zumal Pia tatsächlich das bezauberndste und liebenswerteste kleine Mädchen war, das sie je zu Gesicht bekommen hatte.

Am Abend des gleichen Tages unterbreitete Elisa dem Ehepaar Paulus ihre Pläne und bekam von diesem die prompte Zusage, dass man ihr Anliegen auf jeden Fall unterstützen werde. Das gemütliche Gästezimmer samt bequemem Bett dankbar annehmend, verbrachte sie dennoch eine unruhige Nacht im Haus ihrer Gastgeber, weil sich das sorgenvolle Grübeln einfach nicht einstellen ließ. Und so nahm sie am nächsten Morgen ziemlich müde ein leichtes Frühstück zu sich, bevor sie sich ein Taxi bestellte, welches sie zum Bahnhof bringen sollte.

Das stetig stärker werdende Unbehagen wegen der bevorstehenden Auseinandersetzung mit Karl bewusst verdrängend, erstellte Elisa während der langen Bahnfahrt im Geiste eine Packliste aller Dinge, die sie unbedingt mitnehmen wollte, und erlaubte sich erst kurz vor Hamburg einen ersten Gedanken an ihren Mann. Ihre Ehe bestand schon seit vielen Jahren nur noch auf dem Papier, sodass er sie kaum als Geliebte vermissen dürfte. Allerdings würde er bestimmt nicht erfreut sein, ab sofort eine bezahlte Haushälterin beschäftigen zu müssen. Nun, was auch kam, sie musste es endlich hinter sich bringen, redete sie sich selbst gut zu. Sie hatte sich nicht zuletzt auch um ihrer selbst willen für mehr Eigenverantwortung und Selbstbestimmung entschieden!

Das düster wirkende Backsteingebäude betretend, das in ihrer Abwesenheit noch größer und abweisender geworden schien, erschauerte Elisa unwillkürlich, während sie den Eingangsbereich durchquerte und dann Jacke und Seidenschal an die Garderobe hängte.

„Ach, Madame ist auch mal wieder zu Hause!“

Sie hatte gemeint, er sei noch nicht daheim, denn das Haus hatte bei ihrem Eintreten absolut still und verlassen gewirkt. Entsprechend verschreckt reagierte sie nun, als er urplötzlich in der Tür des Wohnzimmers auftauchte, um sie mit kalten Augen anzustarren. Da er aber unübersehbar betrunken war, entschied sie, dass sie sich an diesem Abend auf keine Diskussion einlassen, sondern erst am nächsten Morgen von ihrem Auszug berichten würde.

Die Lippen trotzig aufeinandergepresst, ging die kleine Frau an ihrem Mann vorbei, ohne ihn anzusehen, um gleich darauf die Treppe zu ihrem Schlafzimmer hinaufzusteigen. Dass er ihr folgte, merkte sie zwar, dachte sich jedoch nichts dabei, weil sie davon ausging, dass er in seinen eigenen Schlafraum wollte. Als sie dann aber die Tür zu ihrem Reich erreichte, wurde sie unversehens von hinten am Arm gepackt und grob herumgedreht.

„Was …“ Weiter kam sie nicht, denn er drückte so fest zu, dass sie nur noch keuchte, weil der Schmerz so groß war.

„Meine liebe Ehefrau verreist, ohne mir vorher Bescheid zu sagen. Und dann kommt sie nach Hause und hat es noch nicht einmal nötig, mich zu begrüßen, wie es sich gehört!“ Karls mühsam unterdrückte Wut war kaum zu übersehen. Elisa nah an sich heranziehend, stierte er sie zwischen zusammengekniffenen Lidern aus glasigen Augen an. Dabei packte er immer noch fester zu, sodass sie bald meinte, ihr Oberarm würde jeden Moment zerquetscht.

„Du tust mir weh“, brachte sie endlich heraus.

„Oh, entschuldige“, tat er übertrieben zerknirscht, indem er ihren Arm gehen ließ. Doch gleich darauf packte er sie um die Taille und zog sie an sich, um sie dann mit aller Kraft an sich zu pressen, sodass sie überhaupt keine Gelegenheit fand, ein wenig Abstand zu ihm zu gewinnen. „Wie ungezogen von mir“, tadelte er sich selbst mit einer Stimme, aus der weder Schuldbewusstsein noch Bedauern herauszuhören waren. „Böser Bursche. Ja, ich bin ein ganz böser Bengel!“ Ein hinterhältiges Grinsen auf den Lippen beugte er sich vor, mit der Absicht, sie küssen zu wollen. Allerdings erwischte er nicht ihren Mund, sondern bloß ihre Wange, weil sie sich geistesgegenwärtig abgewandt hatte, um nicht seinen nach Alkohol stinkenden Atem riechen zu müssen. Da er also wiederum nicht das erhielt, was er eigentlich begehrte, wurde in seinem Hirn auch noch das letzte Fünkchen seiner Selbstkontrolle ausgeblasen, sodass er vollkommen ausrastete. Durch seine Begierde angestachelt, die schon seit vielen Jahren nicht mehr von seiner eigenen Frau befriedigt worden war, missachtete er fortan jeden Anflug moralischen Anstandes und menschlicher Rücksichtnahme. Die Tür in ihrem Rücken so unbeherrscht aufstoßend, dass sie aufschwang und mit voller Wucht an die dahinterliegende Wand krachte, drängte er sie gleich darauf zum Bett, wo er sie schließlich mit roher Gewalt unter sich zwang, um sich das zu nehmen, was sie ihm nicht freiwillig geben wollte.

Elisa wehrte sich nur kurz gegen seine brutalen Hände und den Ansturm seines massigen Körpers. Doch dann hielt sie still und ließ es über sich ergehen, instinktiv wissend, dass sie anderenfalls weit mehr Schmerz und Erniedrigung würde erdulden müssen. Als er schließlich von ihr abließ und beinahe augenblicklich zu schnarchen anfing, sobald er sich zur Seite gerollt hatte, stand sie auf und ging ins angrenzende Badezimmer. Trotz des Schmerzes, den sie beim Reinigen ihres geschundenen Körpers auslöste, duschte sie sich sehr gründlich und wunderte sich dabei über die eigenartige Ruhe, die sie empfand. Nicht eine Träne wollte sich aus ihren Augenwinkeln lösen. Aber ihre Kehle war so eng, dass sie kaum genügend Atem schöpfen konnte.

Eine Stunde später saß Elisa wieder in einem Taxi. Und nach weiteren fünfzig Minuten hockte sie wieder in einem Zugabteil, den Blicken und Kontaktversuchen ihrer beiden Mitreisenden bewusst ausweichend, indem sie sich schlafend stellte. Das würde Karl büßen, dachte sie immerfort. Selbstverständlich war sie bis zu einem gewissen Grad selbst schuld. Hätte sie ihn beizeiten verlassen, er hätte gar nicht die Gelegenheit gehabt. Trotzdem würde das, was er heute getan hatte, weder verziehen noch vergessen werden!

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