FABIANS WEG

Tekst
Z serii: Blutbande #1
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

4

Fünf Jahre lang ertrug Fabian die Demütigungen und körperliche Misshandlungen, die ihm vonseiten seiner Mitschüler zugemutet wurden, ohne sich dagegen aufzulehnen. Manchmal schwamm er stundenlang im hauseigenen Schwimmbad eine Bahn nach der anderen, nur um den anderen aus dem Weg zu gehen. An anderen Tagen holte er sich Tobi, den kleinen Terrier des Hausmeisters, und streifte mit diesem durch die umliegenden Wälder, nur um die Zeit totzuschlagen, bis er sich ins Bett legen und so seine Ruhe haben konnte. Dann, eines Nachmittags, wurde es ihm zu viel, sodass er sich gegen seine Peiniger auflehnte. Daraufhin entbrannte eine brutale Schlägerei, in deren Verlauf er all seine Wut an seinen Gegnern abreagierte. Am Ende lagen zwei jeweils um ein Jahr ältere Jungen halb besinnungslos am Boden, während er selbst zum Schuldirektor ging, um sich zu stellen.

Da er die Schuld freiwillig auf sich genommen hatte, akzeptierte Fabian die Strafe, die daraufhin über ihn verhängt wurde, ohne sichtbare Regung. Doch brachte diese Episode auch etwas Positives mit sich, denn fortan wurde er nicht mehr so oft körperlich angegriffen. Hätte er gewusst, dass man ihm jetzt aufgrund seines aggressiven Ausbruchs mit widerwilligem Respekt begegnete, er hätte sich wohl sehr gewundert. Auch die Tatsache, dass man insgeheim seinen Mut bewunderte, weil er sich gegen eine vermeintlich unbezwingbare Übermacht durchsetzen konnte, wäre seinerseits auf große Skepsis gestoßen. Aber, selbst wenn ihm das bewusst gewesen wäre, hätte sich nichts an seinem Verhalten geändert. Für ihn zählte nach wie vor nur die Anerkennung der Lehrer. Und seine Bücher waren ihm wichtig. Er besaß mittlerweile eine große Auswahl verschiedenartigster Werke. Allein Tobi akzeptierte er als Freund und liebte ihn aufrichtig, denn bei dem kleinen Terrier war er sich hundertprozentig sicher, dass dessen Zuneigung ehrlich gemeint und an keine Bedingungen geknüpft war.

Es gab jedoch noch eine andere Veränderung. Allerdings nahm Fabian sie kaum wahr, da sie sich nicht auf seine reale Umwelt, sondern nur auf sein Gemüt auswirkte. Er träumte wiederholt von einem überirdisch schönen Geschöpf mit grünen Augen, welches ihm die Hände entgegenstreckte, um ihn dann in eine liebevolle Umarmung zu ziehen. Beim Erwachen war die Erinnerung an das Traumwesen zwar nicht mehr da, doch das seltsam beruhigende Gefühl, nicht mehr ganz so allein zu sein, begleitete ihn durch den Tag. Es kam ihm plötzlich so vor, als würde die Sonne ein wenig heller scheinen, und die Einsamkeit seiner Tage sei ein bisschen erträglicher. Selbst der Gedanke an die kommenden Ferien, und das zwangsläufig damit einhergehende Zusammentreffen mit dem Vater, war ihm nicht mehr so unangenehm wie sonst.

*

Überraschung!“ Elisas Wangen glühten vor Vorfreude, während sie ein großes Paket auf das Bett ihres Sohnes legte, um gleich im Anschluss den schlaftrunkenen Jungen zu umarmen. „Alles Liebe zu deinem Geburtstag!“ Sie hatte es einfach nicht abwarten können, rechtfertigte sie sich. Außerdem wollte sie sichergehen, dass er nicht verschlief, weil sie mit ihm wegfahren und einen schönen Tag erleben wollte.

Fabian wurde an diesem Tag vierzehn Jahre alt, hatte mit seinen Altersgenossen jedoch nicht sehr viel gemein, denn er wirkte weit älter und reifer als sie, was nicht zuletzt an seiner ernsten und meist verschlossen wirkenden Miene lag. Er war jetzt um eine ganze Kopflänge größer als seine Mutter, und besaß die schlanke Statur eines Sportlers, was er den vielen Stunden im Schwimmbad verdankte, die er während der Schulzeit regelmäßig absolvierte.

„Los, du Schlafmütze, mach dein Geschenk auf.“ Das Paket auf den Schoß des mittlerweile sitzenden Jungen schiebend, lachte Elisa ihn an.

„Was ist es denn?“, wollte er wissen, während er das Geschenkpapier entfernte.

„Das wirst du schon selbst herausfinden müssen“, beschied sie ihm fröhlich.

Unterdessen hatte Fabian einen einfach wirkenden Karton ausgepackt und öffnete den Deckel, um dann einige Sekunden lang sprachlos auf den Inhalt zu starren. Er hatte vor einigen Wochen die Biografie eines bekannten Holzschnitzers gelesen, erinnerte er sich, und Bilder von dessen Werken gesehen. Seither wünschte er nichts mehr, als mit seinen eigenen Händen ähnliche Schätze herstellen zu können. Und nun schenkte ihm seine Mutter eine schwere Lederschürze samt umfangreichem Schnitzwerkzeug, so als hätte sie genau gewusst, dass er diese Dinge ganz dringend brauchte, damit er endlich mit der Arbeit beginnen konnte.

„Woher weißt du immer so genau, was ich mir am meisten wünsche?“, fragte er, indem er gleichzeitig nach Elisa langte, um sie an sich zu ziehen.

„Schon vergessen?“, tat sie empört. „Ich kenne dich seit vierzehn Jahren! Da muss ich doch erraten können, was dir Freude machen würde.“ Sein Haar noch ein wenig mehr zerzausend, stand sie auf. Ja, dachte sie für sich, irgendwie schien sie ein besonderes Gespür für die Dinge zu haben, die ihn bewegten. Seit seiner Kleinkinder-Zeit war es ihr stets gelungen, seine Gemütsverfassung richtig einzuschätzen und auch immer das richtige Geschenk zu finden, sodass es noch nie ein enttäuschtes Gesicht am Gabentisch gegeben hatte. Allerdings stand es nicht in ihrer Macht, sein innigstes Verlangen zu befriedigen, denn das konnte nur Karl. Es blieb ihr also nur übrig, ihm seinen zweitgrößten Wunsch zu erfüllen. Nämlich die Möglichkeit, totem Holz zu neuem Leben zu verhelfen.

„Ich konnte nicht länger mit ansehen, wie du mit deinem alten Taschenmesser an allen möglichen Ästen herum säbelst“, erklärte sie, indem sie das Paket nahm, um es auf seinen Schreibtisch zu legen, damit es aus dem Weg sei. „Also habe ich dir eine vernünftige Ausrüstung besorgt.“ Seine Decke vollends wegziehend, scheuchte sie ihn mit der anderen Hand aus dem Bett. „Und jetzt los, ab ins Bad. Frühstück wartet.“

Mutter und Sohn verbrachten einen amüsanten Tag in einem Freizeitpark und kehrten dann pünktlich nach Hause zurück, mit der Absicht, gemeinsam mit Karl zu Abend essen zu wollen.

Doch Karl dachte gar nicht daran, sich an den gedeckten Tisch zu setzen. Die Haustür hinter sich zuwerfend, stapfte er direkt weiter in den Wohnraum, um sich erst einmal einen großen Drink zu gönnen.

Elisa verzichtete darauf, ihrem Mann hinterherzulaufen und ihn zu holen. Trotz ihrer Verärgerung gab sie sich weiterhin fröhlich. Sie schaffte es sogar, ein paar Happen zu essen, und drängte den merklich betroffenen Jungen schließlich zum Aufbruch, weil sie ihn ins Kino einladen und dadurch für ein paar weitere Stunden aus der feindlichen Atmosphäre seines Elternhauses retten wollte.

Bei ihrer Rückkehr war Fabian so müde, dass er sich sogleich für die Nacht verabschiedete, um dann direkt die Treppe hinaufzugehen. Elisa indes bemerkte, dass im Wohnraum immer noch Licht brannte, und ging hin, um nach dem Rechten zu sehen.

Wie erwartet saß Karl in seinem Lieblings-Sessel, in einer Hand ein Glas haltend, während seine andere die fast leere Schnapsflasche umklammert hielt.

„Du hast ihm noch nicht einmal gratuliert.“ Sie wusste schon im Voraus, dass ihre Worte auf taube Ohren treffen würden, beschloss aber, dass sie diesmal nicht ohne Kommentar zur Tagesordnung übergehen wollte, so als sei nichts gewesen. „Für jeden Fremden hast du wenigstens ein Mindestmaß an Höflichkeit parat. Warum nicht auch für deinen Sohn?“, fragte sie beherrscht.

„Pah, Sohn!“ Karls Gesicht verzog sich zu einer angewiderten Maske, während er erneut sein Glas zum Mund führte, um den restlichen Inhalt in einem Zug hinunterzustürzen. „Dieser nichtsnutzige kleine Scheißer hat es ja noch nicht einmal für nötig befunden, sich für mein Geschenk zu bedanken“, grollte er.

„Meinst du etwa das Geld, das du ihm auf den Tisch gelegt hast, bevor du in aller Herrgottsfrühe sang-und klanglos verschwunden bist?“, fragte sie. Bevor er jedoch eine Erwiderung formulieren konnte, fuhr sie schon fort: „Damit du es weißt, ich hab’s gleich wieder weggeräumt, weil noch nicht einmal eine Karte dabei war.“

„Ja und?“, blaffte er. „Was hätt’ ich denn drauf schreiben sollen? Für mein liebes Kind etwa? Oder doch besser, für den Bastard, den niemand wollte und den ich Blödmann in mein Haus geholt hab?“

„Du bist …“ Sie brach unvermittelt ab, weil er das Glas nach ihr warf, sodass sie ausweichen musste, wollte sie nicht Gefahr laufen, dass es sie am Kopf traf. Einen Sekundenbruchteil später zerschellte es an der Wand hinter ihr, wobei die Glasscherben nach allen Seiten wegspritzten.

Was?“ Er machte den Eindruck, als wollte er auch noch die Flasche in ihre Richtung schleudern, ließ diese dann aber bloß zu Boden fallen. „Ich habe ihn zwar adoptiert, aber das heißt noch lange nicht, dass ich ihn deshalb auch so verhätscheln und betütteln muss, wie du es tust“, schrie er mit einem Mal los. „Du scheinst vergessen zu haben, woher er kommt! Aber ich nicht! Für mich ist er immer noch ein Bastard, den irgendeine Hure geworfen und dann seinem Schicksal überlassen hat! Er kann von Glück reden, dass ich es war, der ihn aufgenommen hat, denn durch mich wird er einmal ein reicher Mann sein. Also hat er, verdammt noch mal, ein bisschen Dankbarkeit und Respekt zu zeigen!“

Jetzt zeigte er endlich einmal sein wahres Gesicht, stellte Elisa unbeeindruckt fest, während sie ihren Mann betrachtete, der sich mit ungewohnter Behändigkeit aus dem Sessel hochgehievt hatte und ihr nun aus glasigen Augen entgegen stierte. Er wollte, dass man ihm für seine vermeintliche Großzügigkeit die Füße küsste, ungeachtet dessen, dass sein Geschenk nichts Anderes war, als die berechnende Geste eines selbstherrlichen Menschen, der sich in dem Glauben wiegte, anhand seines Geldes und seines Willens alles und jeden nach seinen Wünschen formen zu können. Aber das konnte er nicht! Er war ja nur ein armer Wicht, der in dem Wahn lebte, er sei ein Gigant. Außerdem war er ein Säufer, der weder seine Wortwahl noch sich selbst unter Kontrolle hatte. Ein Süchtiger, der sein Hirn nach und nach durch ungezügelten Alkoholkonsum vergiftete und damit immer mehr zerstörte!

 

Elisa schluckte hart. Wann hatte sie eigentlich aufgehört, Karl als Menschen zu respektieren? Sie wusste nicht mehr, wann sie begonnen hatte, ihn zu verachten. Aber das war im Grunde auch gar nicht wichtig. Viel wichtiger war die Frage, was sie mit ihrer Erkenntnis anfangen würde. Nicht viel, gab sie sich sogleich selbst zur Antwort. Die Situation war immer noch die gleiche wie seit fast neun Jahren. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sie seit dieser Zeit ein eigenes Schlafzimmer besaß, welches für ihn absolut tabu war.

Unfähig ihren betrunkenen Mann länger anzusehen, der sich nun daranmachte, die nächste Flasche zu öffnen, wandte sich die kleine Frau ab, mit der Absicht, den Raum zu verlassen. Doch hatte sie die Drehung kaum zu Ende gebracht, da fand sie sich Auge in Auge mit Fabian wieder, der jetzt in der halb offenen Wohnzimmertür stand und so bleich wie ein Bettlaken war.

„Oh, mein Gott.“ Ihre Worte waren kaum zu hören, so leise waren sie ihr entschlüpft. Dennoch reichte allein ihr Wispern aus, um den reglos dastehenden Jungen aus seiner Erstarrung zu reißen, sodass er sich augenblicklich herumwarf und die breite Treppe hinauf hetzte.

Es grenzte an ein Wunder, dass Fabian nicht stürzte, denn er nahm gleich drei Stufen auf einmal, um so schnell als möglich von den Menschen wegzukommen, die er bisher für seine Eltern gehalten hatte. Nicht sein Vater! Nicht seine Mutter! Er war also von irgendeiner Frau geboren und dann einfach weggeben worden, weil er nicht in ihren Lebensplan gepasst hatte. Er war so etwas wie ein wertloses Stück Holz, mit dem niemand etwas anfangen konnte. Ein Klotz am Bein, den man notgedrungen weiter mit sich herumschleppte, weil er nun einmal da war und nicht einfach wieder zurückgegeben werden konnte!

Zutiefst bestürzt, weil er die Wahrheit über seine Herkunft zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt und außerdem auf die hässlichste Weise überhaupt erfahren hatte, stand Elisa ein oder zwei Sekunden auf der Stelle, und rannte dann selbst so schnell die Stufen hinauf, wie sie nur konnte. Endlich an der Tür des Kinderzimmers angekommen, atmete sie ein paar Mal tief durch, ermahnte sich dabei selbst zur Beherrschung, und ging schließlich hinein.

Fabian indes stand mit dem Rücken zum Fenster und starrte der Frau, die er bisher für seine Mutter gehalten hatte, mit brennenden Augen entgegen. Als sie jedoch auf ihn zukam, mit der eindeutigen Absicht, ihn in die Arme nehmen zu wollen, wich er seitlich aus.

„Bitte, mein Junge.“ Unfähig die eigenen Tränen länger zurückzuhalten, stand Elisa weinend da und streckte verlangend die Hände nach ihm aus. „Stoß mich nicht weg. Ich habe dich zwar nicht geboren, aber du bist dennoch mein Kind!“

„Es ist also wahr.“ Fabians Züge schienen aus Stein gemeißelt. „Ich gehöre gar nicht zu euch.“ Er hatte nicht lauschen wollen, erinnerte er sich. Er war ja schon fast in seinem Zimmer gewesen und nur deshalb wieder runtergegangen, weil er sich noch etwas zu trinken hatte holen wollen. Und da … Seine Mutter … Also die Frau … Sie hatte die Wohnzimmertür nicht richtig geschlossen, sodass er sowohl ihre Worte als auch die Antwort darauf hören konnte. Und dann hatte irgendetwas gepoltert, was ihn veranlasst hatte, die Tür ein bisschen weiter zu öffnen, damit er nachsehen konnte, was da los war. Und dann … Wie hatte man es noch ausgedrückt? Ach ja, man hatte ihn als Bastard irgendeiner dahergelaufenen Hure bezeichnet, den man an den nächstbesten dummen weitergereicht hatte, damit dieser sich mit ihm abplagen sollte!

Hätte er sich in diesem Augenblick einfach auflösen können, Fabian wäre auf der Stelle verschwunden. Weil das aber nicht ging, stand er einfach nur da, und ließ sich völlig teilnahmslos von der weinenden Elisa umarmen. Das Herz so schwer und kalt, dass er meinte, es würde jeden Moment aufhören zu schlagen, fühlte er sich auch sonst wie erfroren, und schluckte wiederholt, weil seine Kehle so eng war, dass er kaum noch atmen konnte. Weg, schoss es ihm mit einem Mal durch den Sinn. Er musste weg hier. Niemand sollte gezwungen sein, seine Anwesenheit zu ertragen, nur weil er mal ein Papier unterschrieben hatte, diese Entscheidung aber mittlerweile bereute.

„Bring’ mich ins Internat zurück“, presste er schließlich hervor. „Heute noch.“

Elisa nickte nur und ließ ihn gleich darauf los, um die Hände für ein Taschentuch freizuhaben. Sie konnte sich gut vorstellen, was in seinem Kopf vorging, war momentan jedoch nicht in der Lage, irgendetwas dazu zu sagen, weil ihr die richtigen Worte nicht einfallen wollten. Zudem verstand sie seinen Wunsch, denn auch sie wollte nichts lieber tun, als auf der Stelle zu gehen. Aber das war nicht so einfach, ermahnte sie sich selbst. So ein Schritt musste gut überlegt sein, damit man ihn später nicht bereuen musste.

5

Tobi dicht auf den Fersen durchstreifte Fabian Tag für Tag den umliegenden Wald des Internats-. Dabei ignorierte er hartnäckig das miserable Wetter, welches pünktlich zu Beginn der Sommerferien angefangen hatte und seit nunmehr sechs Wochen andauerte. Zum einen interessierte er sich tatsächlich für die verschiedenen Baumarten, die hier wuchsen, weil er in ihnen lebendige Wesen sah, in deren verborgenem Inneren geheime Kräfte schlummerten. Zum anderen war er froh über jede Minute, die er nicht in dem düsteren Gebäude des Wohntraktes verbringen musste, weil da noch zwei andere Jungen waren, die wegen geschäftlichem Auslandsaufenthalt der Eltern ihre Ferien ebenfalls im Internat verbrachten, und die er nicht leiden konnte. Ein anderer Grund war das Bedürfnis nach absoluter Ungestörtheit, denn im Haus wollte man ihn ständig mit irgendetwas beschäftigen, damit er sich nicht langweilte.

Gleich nach der Aufdeckung seines „Geheimnisses“ hatte er einfach abhauen und von Hamburg aus als blinder Passagier auf irgendeinem Frachter in die weite Welt fahren wollen, erinnerte er sich. Doch war dieser Impuls relativ schnell der Vernunft gewichen, denn ihm war schnell klar geworden, dass er sich damit seine gesamte Zukunft verbaut hätte. Er musste einen Schulabschluss vorweisen, wollte er später einen Beruf erlernen, der es ihm ermöglichte, seinen Lebensunterhalt selbst zu finanzieren, redete er sich selbst gut zu. Allerdings bezweifelte er mittlerweile, dass er das Ende seiner Schulzeit unbedingt in einer privaten Bildungsanstalt abwarten musste, die sich ihre Dienstleistungen teuer bezahlen ließ. Na ja, die Alternative gefiel ihm auch nicht sonderlich, denn nach Hause, also in das Haus der Leute, die ihn aufgenommen hatten, wollte er nicht. Nein, dachte er, das war völlig indiskutabel. Nie wieder wollte er mit diesem kalten, lieblosen Mann zu tun haben, den er bisher Vater genannt hatte. Da ging er lieber in ein Kinderheim! Einzig Elisa … Er brachte es im Moment einfach nicht fertig, sie weiter Mutter zu nennen, auch wenn er sie nach wie vor über alles liebte. Also, sie würde ihm auf jeden Fall sehr fehlen. Aber wenn er nicht mehr da war, würde es auch ihr besser ergehen, dachte er bitter. Jetzt, endlich, sah er klar. Die ewigen Streitereien der beiden hatten immer nur einen einzigen Grund gehabt, nämlich das fremde Kind! Aber das sollte jetzt ein Ende haben, beschloss er. Sobald er in einem Heim untergebracht war, würde Elisa sich nicht mehr um ihn kümmern müssen und konnte somit Frieden mit ihrem Mann schließen.

Da er endlich eine Entscheidung gefällt hatte, beschloss Fabian, dass er umgehend an Elisa schreiben wollte. In Gedanken bereits mit der Formulierung seiner Bitte beschäftigt, betrat er den Jungen-Wohntrakt des Internats und wollte sogleich zu seinem Zimmer hinauf. Doch auf halber Strecke zur Treppe hin traten ihm unverhofft zwei bekannte Gestalten in den Weg, sodass er stehen blieb.

„Na, Lulatsch! Hast du wieder Wurzeln gesucht?“ Einer der Jungen grinste abfällig, während sein Blick über das Holzstück in Fabians Hand huschte, um dann hinaufzuwandern und an dessen unbewegtem Gesicht hängenzubleiben. „Und? Haste nu’ endlich ein passendes Stück gefunden, um das Leck in deinem Holzkopf zu stopfen?“

Fabian war es gewohnt, dass man ihn immer mal wieder vonseiten seiner Mitschüler mit allen möglichen Beleidigungen zu provozieren versuchte, und hatte im Grunde kein Problem damit, die verletzenden Worte durch schlagfertige und nicht minder verletzende Erwiderungen zu vergelten. Allerdings begegnete er den Streit suchenden meist nur mit gleichmütiger Gelassenheit, weil er sich ihnen sowohl körperlich als auch geistig überlegen fühlte. Oder er ging einfach weiter und tat dabei so, als hätte er nichts gehört. So auch an diesem Tag. Er hatte Besseres zu tun, dachte er, als sich auf ein albernes Wort-Duell einzulassen, denn zu mehr hatten die beiden ohnehin keinen Mumm. Allein das hochzufriedene und unübersehbar gehässige Grinsen seiner Widersacher ließ ihn dann doch noch einmal stehen bleiben und die beiden aufmerksam von Kopf bis Fuß betrachten. Irgendetwas hatten die zwei gemacht, stellte er am Ende seiner Musterung fest. Und dieses Etwas war mit Sicherheit nichts Gescheites. Aber das sollte ihm egal sein, entschied er, indem er sich wieder in Bewegung setzte. Was auch immer sie gemacht hatten, sie würden sich früher oder später dafür verantworten müssen.

Sobald er sein Zimmer erreichte, musste Fabian seine Meinung über die beiden Jungen revidieren, denn zumindest in einem Punkt schien er sich gewaltig geirrt zu haben. Es konnte ihm nicht egal sein, was sie getan hatten, gestand er sich ein, während er mitten in seinem Reich stand und das heillose Durcheinander überblickte, welches im gesamten Raum herrschte. Sie hatten offenbar nicht nur seinen Schreibtisch und die Wäschekommode durchsucht, sondern auch das Schloss des Schrankes geknackt, in dem er seine persönlichsten Dinge verwahrte. Was genau sie gesucht oder mitgenommen hatten, konnte er nicht auf Anhieb erkennen, war sich jedoch sehr sicher, dass sie nicht mit leeren Händen wieder gegangen waren. Na gut, dachte er, würde er halt erst einmal aufräumen und dabei eine Bestandsaufnahme machen, um zu sehen, was fehlte. Und sobald er Gewissheit hatte, würde er sich die beiden vorknöpfen und ihnen eine Abreibung verpassen, die sie nicht so schnell wieder vergessen würden!

Fabian hatte kaum begonnen, Ordnung zu schaffen, da schlug jemand mit der Faust gegen seine Tür, nur um sie im nächsten Moment einen Spaltbreit zu öffnen und mit atemlos klingender Stimme zu rufen: „Du sollst sofort zu Raake kommen!“

Die Stirn gerunzelt legte er daraufhin das Buch bei Seite, welches er gerade vom Boden aufgehoben hatte, und machte sich dann umgehend auf den Weg. Zum einen wollte er den Schulleiter nicht warten lassen, weil er wusste, wie ungehalten dieser werden konnte, wenn man seinen Anordnungen nicht sofort Folge leistete. Zum anderen war er neugierig, zu erfahren, was der Direktor so kurz nach seiner Rückkehr aus seinem Urlaub von ihm wollte. Doch hatte er kaum das Büro betreten, da stieg Unbehagen in ihm auf, weil vor dem antiken Schreibtisch des Schulleiters zwei Gestalten standen, die ihm wohlbekannt waren.

„Komm erst einmal richtig herein und mach die Tür zu“, befahl Herr Raake mit gepresst klingender Stimme.

Fabian gehorchte.

„Es gibt eine sehr ernste Anschuldigung gegen dich“, begann der Schulleiter, sobald der Angesprochene den Schreibtisch erreichte, um dort abwartend stehen zu bleiben.

„Ja?“ Fabian war nicht anzusehen, wie unwohl er sich insgeheim fühlte, während er seinem Gegenüber offen in die Augen sah.

„Ist es richtig, dass du eigenes Schnitzwerkzeug besitzt?“, wollte man von ihm wissen.

„Ja“, antwortete er, ohne zu zögern.

„So etwas wie das hier?“ Ein Messer enthüllend, an dessen schmaler Klinge die Spitze abgebrochen war, und das bisher unter einem Tuch auf seiner Schreibtischplatte gelegen hatte, wies Herr Raake zusätzlich mit dem Zeigefinger seiner anderen Hand auf das beschädigte Werkzeug.

„Ja.“ Fabian konnte sich einfach keinen Reim darauf machen, was das Ganze sollte. Doch dann sah er genauer hin, entdeckte neben dem beschädigten Messer die grob heraus gekratzten Strichmännchen in der ansonsten glatt polierten Holzoberfläche des Möbelstückes, und erkannte mit einem Mal, dass da etwas ganz Übles im Gange war. Er wollte etwas sagen, brachte jedoch keinen Ton hervor, so schockiert war er, angesichts der blanken Zerstörungslust, welcher eine nahezu unbezahlbare Antiquität zum Opfer gefallen war. Oh ja, er kannte den Wert des Schreibtisches. Antike Möbel faszinierten ihn nicht weniger als moderne Holzskulpturen zeitgenössischer Künstler. Daher konnte er gut nachvollziehen, welcher Schaden da angerichtet worden war. Als ihm dann auch noch aufging, dass diese gemeine Tat ihm selbst angelastet werden sollte, schluckte er erschrocken.

 

„Das … Sie glauben doch nicht …“ Er stockte mitten im Satz, unfähig weiterzusprechen. Der Schulleiter war bisher einer der wenigen Menschen gewesen, die ihm mit einer gewissen Sympathie begegnet waren, ja hin und wieder sogar echtes Interesse an seinem Befinden gezeigt hatten. Außerdem war er stets darum bemüht gewesen, ein gerechter Mann zu sein. Doch jetzt schien alles anders. Für ihn war der Fall offenbar schon geklärt.

„Ist das dein Messer?“, wollte Herr Raake wissen.

„Ich … Vielleicht. Ich weiß nicht“, stammelte der Gefragte heiser. „Jemand war in meinem Zimmer …“, wollte er erklären, brach dann aber unvermittelt ab, weil man ihm mit einer herrischen Handbewegung das Wort abschnitt.

„Du willst dich also herausreden, ja?“ Das Gesicht des Direktors rötete sich noch ein bisschen mehr, was deutlich machte, dass auch sein Zorn wuchs.

„Nein! Ich …“ Fabian wollte schwören, dass er unschuldig war, wurde jedoch auf ein Neues zum Schweigen angewiesen.

„Man hat mir gesagt“, herrschte der Schulleiter sein Gegenüber böse an, „dass die Werkräume des Schul-Traktes verschlossen waren, sodass in den Ferien niemand an solches Werkzeug hätte herankommen können, ohne sich vorher den Schlüssel aushändigen zu lassen. Nur du hättest solche Dinge in deinem Zimmer und würdest auch in deiner Freizeit damit arbeiten. Stimmt das?“

„Ja. Aber …“ Fabian war erneut versucht, von dem Einbruch in sein Zimmer zu berichten, ließ es dann aber doch sein, wohl wissend, dass man ihm ohnehin nicht glauben würde. Egal, stellte er im Stillen für sich fest, er würde sowieso nicht mehr lange hier sein. Also brauchte es ihn auch nicht mehr zu kümmern, wer wie über ihn dachte. Das Einzige, was ihm zu schaffen machte, war die Tatsache, dass ein kostbarer Gegenstand beschädigt worden war, allein um ihm eins auszuwischen. Außerdem machte es ihn wütend, dass Karl die Folgekosten für diesen Streich würde bezahlen müssen, weil er selbst nicht die Mittel besaß, um für die Reparatur aufzukommen. Dabei hatte er sich doch gerade erst geschworen, dass er dem Mann, der ihn adoptiert hatte, ab sofort nicht mehr als unbedingt notwendig auf der Tasche liegen wollte!

Weil der vermeintliche Übeltäter jetzt nur noch stumm dastand, betrachtete Herr Raake dies als Schuldeingeständnis. Immer noch am Rande eines Wutausbruches, schickte er die beiden anderen Jungen hinaus und befahl dann Fabian, er sollte vor seinem Schreibtisch Platz nehmen.

„Warum?“, wollte er wissen, sobald dieser saß. „Wieso, um alles in der Welt, hast du das getan?“

„Ich war es nicht“, erklärte der Beschuldigte mit steinerner Miene, wohl wissend, dass man ihm nicht glaubte, und dass er sich nun eine Standpauke von mindestens fünf Minuten Länge würde anhören müssen.

Wie erwartet, folgte tatsächlich ein wortgewaltiger Ausbruch vonseiten des Schulleiters, an dessen Ende wiederum die Frage nach dem Warum stand.

„Ich kann das gar nicht gewesen sein, denn ich war während der Ferien nicht ein einziges Mal in diesem Raum hier.“ Fabians Stimme klang ruhig und beherrscht, obwohl in seinem Inneren ein wahrer Sturm der Entrüstung tobte. „Wenn Sie aber meinen, dass ich der ideale Sündenbock bin, dann bitte. Ich kann Ihnen nicht vorschreiben, was Sie denken sollen. Aber ich war’s trotzdem nicht.“ Kaum zu Ende gesprochen stand er auf. „Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich jetzt gerne gehen. Ich möchte meine Eltern informieren, dass ich nicht länger hierbleiben will. In einem Haus, in dem allein die Denunziation nach einem gemeinen Streich ausreicht, um aus einem Unschuldigen einen Verbrecher zu machen, kann ich nicht leben.“ Woher er den Mut nahm, so unverfroren aufzutreten, wusste er selbst nicht so genau. Aber mit einem Mal fühlte er sich ganz ruhig und gelassen, so als gäbe es in der Tat nichts, was er zu fürchten hätte.

Währenddessen starrte Herr Raake mit finsterem Blick auf seinen Schützling, und wusste augenscheinlich nicht, wie er sich nun weiter verhalten sollte. Sein Zorn war beileibe nicht weniger geworden, doch rumorten in seinem Hirn jetzt ein paar Gedanken, die sich nicht länger ignorieren ließen. Was, fragte er sich nun, wenn Fabian wirklich unschuldig war. Konnte er sich tatsächlich auf die Aussage zweier Schlitzohren verlassen, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit andere für ihr eigenes Fehlverhalten verantwortlich machen wollten? Nein, entschied er, während er zustimmend nickte, um Fabian anzuzeigen, dass dieser gehen durfte. Man konnte ihm Strenge und auch eine gewisse Kompromisslosigkeit nachsagen, aber nicht Dummheit oder gar blinde Vergeltungssucht. Die beiden, die angeblich beobachtet hatten, wie Fabian aus dem Fenster des verschlossenen Büros kletterte, waren zu schnell zur Stelle gewesen, um ihren Schulkameraden anzuschwärzen. Er selbst hatte den Schaden gerade erst entdeckt, da waren sie schon da gewesen, um von ihrer angeblichen Beobachtung zu berichten. Nun, er würde sich die Sache noch einmal durch den Kopf gehen lassen, nahm er sich vor, während er dem hoch aufgeschossenen Jungen nachsah, der nun sein Büro verließ. Und sobald er zu einem brauchbaren Ergebnis gekommen war, würde sich der wahre Schuldige nicht nur vor ihm, sondern auch vor den eigenen Eltern verantworten müssen.

In der folgenden Nacht geschah etwas höchst Seltsames: Die silbernen Strahlen eines hell scheinenden Vollmondes machten den Gebrauch anderer Lichtquellen überall dort überflüssig, wo sie ungehindert in das Hausinnere eindringen konnten. Und so waren nicht nur die Flure dank fehlender Gardinen an den Fenstern gut zu überblicken, sondern auch viele Schlafräume, weil man dort die Zeit bis zum Einschlafen mit der Betrachtung des ungewöhnlich groß erscheinenden Erdtrabanten überbrückt hatte. Nun, gegen Mitternacht erschien plötzlich ein Wesen auf der Bildfläche, das noch nie zuvor so deutlich sichtbar in Erscheinung getreten war. Junker John – so wurde das ortsansässige Gespenst allseits genannt – hatte einst mit seinem Pferd eine alte Kräuterfrau über den Haufen geritten, weil sie nicht schnell genug aus dem Weg getreten war, was dazu geführt hatte, dass sie ihn wegen seiner Boshaftigkeit verfluchte und wenig später starb. Und so spukte er seit seinem eigenen Tod auf seinem ehemaligen Besitz herum. Es gab keine Erlösung für ihn, denn er hatte in den vergangenen vierhundert Jahren nichts dazugelernt. Im Gegenteil. Je länger sein Gespenster-Dasein währte, umso schlimmer führte er sich auf. Entsprechend seinem garstigen Wesen sah auch seine Gestalt ziemlich übel aus.

In dieser besonderen Nacht trug Junker John also eine so grässliche Fratze zur Schau, dass einem das Blut in den Adern gefrieren wollte bei seinem Anblick. Seine hohe hagere Gestalt war vollständig in dunkle Gewänder gehüllt und wurde von einem Schatten begleitet, dessen Form noch bedrohlicher wirkte als er selbst. Der Geist bewegte sich nahezu lautlos durch die mondhellen Flure des Jungen-Wohntraktes, nur hin und wieder kurz stehenbleibend, um zu lauschen. Ungeachtet der vielen, interessanten Opfer, die hinter den einzelnen Türen in ihren Betten lagen und friedlich schliefen, hatte die Spukgestalt ein bestimmtes Ziel. Und so fanden sich gleich nach Mitternacht zunächst ein Bursche und kurze Zeit später auch ein anderer einem gemeinen Ungeheuer ausgeliefert. Von jetzt auf gleich durch ein zusammengeknülltes Papiertaschentuch geknebelt und dann so schnell ins eigene Bettzeug eingewickelt, dass sie sich nicht mehr rühren konnten, mussten die Heimgesuchten das Kommende wehrlos über sich ergehen lassen. Das Gespenst sprach nicht eine Silbe, doch meinten die Angegriffenen, den fauligen Atem des Monsters zu riechen, während es ihre Gesichter mit seinen messerscharfen Klauen bearbeitete.

Inne książki tego autora