FABIANS WEG

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Z serii: Blutbande #1
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„Ich habe den Jungen in einem Internat angemeldet“, wiederholte er. „Ich habe mir einige angesehen und mich am Ende für ein Haus in der Nähe von Hannover entschieden.“ Sein Tonfall machte deutlich, dass er weder Kritik an seinem Verhalten dulden noch die Richtigkeit seiner Entscheidung in Zweifel gezogen sehen wollte. „Es wird Zeit, dass er seine Ausbildung beginnt. Außerdem hat er dort viele gleichaltrige Spielkameraden.“

Nicht wahr, dachte Elisa unterdessen. Das konnte einfach nicht wahr sein!

„Wieso Internat? Und warum so weit weg?“, fragte sie heiser. „Gleich um die Ecke ist eine hervorragende Grundschule. Und außerdem … Er ist ja erst vor drei Monaten fünf geworden und daher noch viel zu jung, um eingeschult zu werden!“

Das hatte man ihm auch im Internat gesagt, erinnerte sich Karl. Dennoch hatte er darauf bestanden, dass man Fabian aufnahm, und dafür dann eine nicht unerhebliche Extra-Summe zusichern müssen, weil ja eine besonders intensive Betreuung für den vermeintlich hochbegabten und daher frühzeitig einzuschulenden Jungen nötig werden würde. Und nun war alles geregelt und so weit festgelegt, dass es peinlich gewesen wäre, hätte er jetzt einen Rückzieher gemacht. Nein, dachte er trotzig, es gab kein Zurück. Elisa würde zwar eine Weile brauchen, um sich an die neue Situation zu gewöhnen. Aber am Ende würde sie sich damit abfinden und wieder die liebevolle und aufmerksame Ehefrau und Geliebte werden, die sie früher gewesen war, und die er sich zurückwünschte.

„Selbstverständlich hätte er hier zur Schule gehen können“, erwiderte er gereizt. „Aber dann würde nix Gescheites aus ihm werden, denn du würdest ihn weiterhin verhätscheln und verweichlichen, so wie du es bisher auch getan hast. Und genau das will ich verhindern.“ Sein herablassender Ton machte deutlich, wie gering seine Wertschätzung für die pädagogischen Fähigkeiten seiner Frau war. „Ich will einen gescheiten und verantwortungsvollen Nachfolger. Und genau das werden die im Internat aus ihm machen. Ob es dir nun passt oder nicht, ist mir gleich.“ Mit diesen Worten wandte er sich brüsk ab und ging zum Bar-Schrank, um sich einen großen Cognac zu genehmigen.

Elisa stand wie vom Donner gerührt und wusste, was auch immer sie jetzt sagte, es würde nichts nützen. Das Einzige, was sie vielleicht mit einem weiteren Widerspruch erreichen würde, wäre ein lautstarker Streit, den man im ganzen Haus hören konnte. Und Karl würde noch mehr trinken! In letzter Zeit bediente er sich nämlich immer öfter aus der hauseigenen Bar, um seinen Ärger hinunterzuspülen. Das wiederum machte ihn dann noch reizbarer und triebhafter, als er ohnehin schon war. Besser, sie hielt den Mund, stellte sie im Stillen für sich fest, während sie sich langsam herumdrehte, um anschließend den Raum zu verlassen. Es kostete sie zwar immer mehr Überwindung, das gehorsam kuschende Weibchen zu spielen, doch blieb ihr keine andere Wahl, wollte sie das Leben ihrer Familie nicht unnötig schwer machen.

Familie. Dieses Wort kreiste immerfort durch Elisas Kopf, während sie die Treppe zum Schlafzimmer hinaufstieg. Karl hatte sich bei der Ankunft des Kindes wie ein Schneekönig gefreut, erinnerte sie sich wehmütig. Die ersten Monate waren zwar ein wenig schwierig, weil das Baby ausschließlich von ihr versorgt wurde und dabei oft krank gewesen war. Doch die folgenden glücklichen Jahre hatten sie für all die Sorgen und Strapazen durchwachter Nächte entschädigt. Fabian war ein überaus liebenswertes und anschmiegsames Kind, das anfangs mit seinem Lachen und seiner Lebensfreude die düstere Atmosphäre des riesigen Hauses vertrieben hatte. Aber nach und nach war der Junge dann immer stiller und ernster geworden, was vermutlich an Karls despotischem Auftreten lag. Dennoch vermittelte er ihr nach wie vor noch das Gefühl, gebraucht und geliebt zu werden, was sie von ihrem Mann leider nicht behaupten konnte. Karl forderte zwar jede Nacht sein Recht, doch schien er mit dem Herzen längst nicht mehr dabei zu sein, was nicht ohne Folgen geblieben war. Sie ließ ihn machen, empfand selbst aber kaum noch Freude an der körperlichen Vereinigung.

Elisa hielt die Klinke der Schlafzimmertür bereits in der Hand, da wurde ihr mit einem Mal klar, dass es längst keine Familie mehr gab. Sie mimte zwar noch Karls Ehefrau, hatte sich aber emotional schon so weit von ihm entfernt, dass es ihr schwerfiel, nachzuvollziehen, wieso sie ihn überhaupt jemals begehrt hatte. Die einzige Erklärung, mutmaßte sie nun im Nachhinein, konnte vielleicht in ihrem jugendlichen Alter begründet gewesen sein. Als sie Karl kennengelernt hatte, war sie erst siebzehn Jahre alt gewesen und gerade im Begriff, eine Ausbildung zur Sekretärin zu beginnen. Er dagegen war bereits ein erfolgreicher Geschäftsmann, der Eindruck machen und sich gegen alle Widrigkeiten durchsetzen konnte. Er hatte es verstanden, ihr das Gefühl zu vermitteln, sie sei der einzige Grund, warum er überhaupt atmete, sodass sie sich in der Tat geliebt wähnte und ihm daraufhin alles schenkte, was sie zu geben imstande war. Aber mittlerweile kannte sie seinen wahren Charakter. Er legte sehr großen Wert darauf, dass man ihn für einen noblen Menschen hielt, dem man allzeit Hochachtung und Respekt entgegenzubringen hatte. Dabei war er in Wirklichkeit ein eiskalter und egoistischer Mann, den die Sorgen und Nöte anderer nicht im Mindesten interessierten.

Einer Eingebung folgend, ließ Elisa die Schlafzimmertür geschlossen und ging stattdessen zum Kinderzimmer, mit der Absicht, nachsehen zu wollen, ob mit Fabian alles in Ordnung war. Doch machte sie kaum die Tür auf, da wurde sie durch den Lichtschein überrascht, der das Zimmer taghell machte.

Davon ausgehend, dass der Junge etwas von der Auseinandersetzung mitbekommen hatte und nun völlig verunsichert und verschreckt in seinem Bett saß, ging sie hinein. Allerdings stand sie kaum drinnen, da wurde sie aufs Neue überrascht, weil er sich nicht wie erwartet unter seiner Decke verkroch, sondern auf dem Teppich hockte. Um ihn herum lagen in einem chaotisch anmutenden Durcheinander verschiedene Papierstücke und einzelne Metallteile.

Karls Geburtstagsgeschenk war eine Variante des Baukastens für Kleinkinder gewesen, erinnerte sich Elisa, während sie das Chaos überblickte, welches auf dem Boden herrschte. Aber herausgekommen war bisher nichts wirklich Befriedigendes, auch wenn Fabian sich täglich mit dem Ding auseinandersetzte. Und nun sah es so aus, als wollte er auch noch die Nacht zum Tage machen, um so mehr Zeit zu haben, damit er die Erwartung des Vaters endlich erfüllen konnte.

„Hallo, Schätzchen.“ Sie tippte ihm vorsichtig auf die Schulter, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. Anschließend ließ sie sich vorsichtig neben ihm nieder. „Was machst du?“, wollte sie wissen. Weil er sie daraufhin bloß völlig verwirrt ansah, erkannte sie, dass er gerade aus sehr konzentrierten Überlegungen herausgerissen worden war, und wiederholte ihre Frage.

„Ich probiere was aus“, erklärte er mit einem zaghaften Lächeln, wandte sich jedoch sofort wieder den verstreuten Papieren zu. „Papa ist böse auf mich, weil ich mit den Sachen aus dem Baukasten nichts machen kann. Darum versuche ich es zu lernen. Es ist nur … Ich kann diese Blätter nicht verstehen!“ Die Baupläne zusammenraffend, hielt er sie gleich darauf mit einer hilflosen Geste der Mutter entgegen.

Elisa konnte ebenso wenig nachvollziehen, wie die Pläne zu deuten waren, wie das Kind, hatte jedoch den Vorteil, dass sie lesen konnte. Und so folgte sie wiederum einer Eingebung, indem sie die Blätter entgegennahm, um sie nach Seitenzahlen zu ordnen. Dabei kam sie einem anderen Umstand auf die Spur, der sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf: Das nötige Vorgehen war Schritt für Schritt bildlich erklärt. Allerdings waren die Pläne mittlerweile so durcheinander, dass es für Fabian unmöglich war, der notwendigen Reihenfolge der Arbeitsschritte zu folgen. Es wäre eigentlich Karls Aufgabe gewesen, sich mit dem Kleinen hinzusetzen und ihm alles zu zeigen, dachte sie ärgerlich. Aber jetzt war es sowieso egal. Würde halt sie dem Jungen Starthilfe leisten.

„Pass mal auf, mein Schatz“, sagte sie im begütigenden Tonfall. „Hier“, sie deutete auf die erste Abbildung des Bauplanes. „Siehst du? Hier steht eine Eins. Das muss der erste Schritt sein. Wenn du diese Teile zusammengefügt hast, kommt das nächste Bild dran.“ Mit dem Zeigefinger zur nachfolgenden Abbildung wandernd, registrierte sie gleichzeitig das neu erwachte Interesse in den kindlichen Augen und lächelte. „Hier, siehst du? Hier steht die Zwei. Dort ist die Drei.“

Fabian folgte mit den Augen den Fingern seiner Mutter und schluckte sichtlich.

„Das … Ich …“, stammelte er am Ende völlig überwältigt. „Das habe ich nicht gewusst. Mama, es ist ja ganz einfach! Warum habe ich das nicht gleich gemerkt?“, rief er aus. Gleich darauf zog er den Karton mit den restlichen Bauteilen zu sich heran und fügte innerhalb weniger Minuten eine kleine mechanische Figur zusammen. Diese hielt er dann wie eine Siegestrophäe hoch. „Schau mal, Mama, so ist es endlich richtig! Das muss ich Papa zeigen!“

Er wollte aufstehen, um zum Vater zu laufen. Aber Elisa hielt ihn sogleich am Ärmel seines Schlafanzuges zurück.

„Bleib’ hier, Schatz. Papa geht es nicht gut.“ Sie fühlte ihre Wangen brennen, denn die Lüge, die sie gerade gebraucht hatte, war ihr überaus peinlich. Dennoch nahm sie sie nicht zurück, sondern beschloss, dass sie gleich mit dem Jungen reden wollte, bevor Karl dies auf seine gefühllose Art tat. Eine grauenhafte Aufgabe, gewiss. Trotzdem musste sie es tun, damit man Fabian nicht womöglich direkt an den Kopf warf, dass er in diesem Hause nicht länger erwünscht war. „Ich muss dir etwas Wichtiges sagen.“ Ihre Stimme zitterte leicht. „Papa hat dich in einer besonders guten Schule angemeldet. Diese Schule ist aber ziemlich weit weg von hier, deshalb musst du auch dort wohnen.“

 

Es dauerte einen Moment, bis Fabian den Sinn der mütterlichen Worte erfasste. Doch dann wurden seine Augen dunkel vor Schreck.

„Aber ... Aber …“ Er schluckte krampfhaft. „Aber ich kann doch die Teile jetzt richtig zusammenbauen.“ Die ersten Tränen kullerten bereits an seinen Wangen hinunter. „Papa braucht mich nicht mehr auf diese Schule schicken“, presste er hervor. „Jetzt kann ich doch die Baupläne richtig verstehen. Er muss mich nicht wegschicken.“ Bevor man ihn erneut aufhalten konnte, rappelte er sich auf und rannte dann zur Tür. „Ich gehe jetzt zu ihm und zeige ihm, dass ich es kann. Ich will nicht weg“, weinte er. „Ich will hierbleiben.“

Elisa konnte gar nicht so schnell folgen, wie er zum Zimmer hinaus und dann die Treppe hinunter hetzte. Endlich im Wohnzimmer angekommen, fand sie den Jungen am Hals ihres Mannes hängend, der in seinem Lieblings-Sessel eingedöst war, und meinte, ihr Herz würde jeden Moment in tausend Stücke zerspringen, als sie dessen verzweifeltes Flehen hörte: „Bitte Papa, ich werde nur noch mit dem Baukasten spielen! Ich kann es jetzt richtig machen, weißt du! Bitte, schick mich nicht weg!“

Karl war durch die unverhoffte Umarmung überrumpelt worden und ließ das Kind zunächst gewähren. Allerdings brauchte er nicht lange, um gereizt aufzufahren, denn das Betteln des Jungen rührte an seinem Gewissen, was ihm ein unangenehmes und höchst unwillkommenes Gefühl von Schuld verursachte. Fabian grob von sich stoßend, stand er gleichzeitig auf und sah den weinenden Jungen dann von oben herab mit angewiderter Miene an.

„Was soll das Theater?“, grollte er angriffslustig. „Hat dir deine Mutter nicht gesagt, dass es eine endgültige Entscheidung ist? Nein? So ist es aber!“ Ungeachtet der Verzweiflung, die ihm aus dem kindlichen Gesicht entgegensprang, fasste er den Fünfjährigen am Arm, um ihn dann ungeduldig zu schütteln. „Hör gefälligst auf zu heulen“, verlangte er barsch. „Dein Geplärr hilft dir auch nicht. Du gehst ins Internat, und das ist mein letztes Wort!“

„Hör auf“, verlangte Elisa, indem sie den Jungen aus dem Griff ihres Mannes befreite, um ihn anschließend hinter sich zu schieben, damit er außer Reichweite des Angetrunkenen sei. „Du bist ja nicht mehr bei Sinnen!“

Für einen Augenblick sah es so aus, als würde Karl nun auf seine Frau losgehen, um sie für ihre Aufmüpfigkeit zu strafen. Am Ende zuckte er aber bloß die Schultern, was mehr als deutlich machte, wie gleichgültig es ihm war, was sie über ihn dachte. Gleich darauf wandte er sich ab und tappte zur Hausbar, um sich einen neuen Drink zu holen.

Elisa nahm unterdessen den völlig verstörten Jungen bei der Hand und brachte ihn zu seinem Zimmer hinauf. In dieser Nacht blieb sie bei ihrem Sohn und damit zum ersten Mal seit ihrer Hochzeit dem Ehebett fern. Nein, sie wollte nicht nur das Kind trösten, gestand sie sich ein, als Fabian endlich schlief. Ihr Wegbleiben diente auch ihrem eigenen Wohlbefinden, denn sie hätte es nicht ertragen, die Hände ihres betrunkenen Mannes auf ihrem Körper zu spüren oder seinen nach Alkohol stinkenden Atem zu riechen, ohne Brechreiz zu bekommen.

Dem regelmäßigen Atem des Jungen lauschend, grübelte sie in der Dunkelheit lange darüber nach, wie sie sich in Zukunft verhalten sollte. Sie könnte die Scheidung verlangen, überlegte sie. Allerdings würde sie damit das Risiko eingehen, dass man ihr das Kind unwiderruflich wegnahm. Karl würde weder ihren Wunsch nach Freiheit noch ihren Anspruch auf Unterhalt einfach so akzeptieren, denn sie konnte in der Tat keinen besseren Beweggrund angeben, warum sie plötzlich nicht mehr mit ihm zusammenleben konnte als die Erkenntnis, dass sie ihn nicht mehr mochte. Nein, er würde nicht versuchen, sie gewaltsam an seiner Seite zu halten. Allein seine Selbstherrlichkeit würde ihm das nicht gestatten! Aber es war ihm zuzutrauen, dass er das alleinige Sorgerecht für den Jungen erstritt, nur um sie von Fabian fernzuhalten und sie damit zu strafen. Und das durfte sie nicht zulassen, entschied sie. Was auch immer man ihr abverlangte, sie musste mitspielen, wollte sie ihrem Sohn eine einigermaßen glückliche Kindheit sichern!

Der Morgen graute bereits, als Elisa endlich zu einem Entschluss kam: Auch wenn es für Fabian grausam erscheinen mochte, war es vermutlich besser für ihn, wenn er nicht mehr Karls Launen und dem Psychoterror ausgeliefert war, der damit einherging. Vielleicht … Es war anzunehmen, dass ihr Mann ein exklusives Internat gewählt hatte, welches über gut ausgebildete Pädagogen verfügte, sodass der Junge in gute Hände kam. Und sie selbst … Sie würde Karl nicht verlassen. Zumindest nicht sofort. Aber sie würde ihn strafen, indem sie ihm fortan mit offen gezeigter Gleichgültigkeit begegnete. Und sie würde dafür sorgen, dass sich Fabian ihrer Liebe stets sicher sein konnte und nie das Gefühl haben musste, sie billige das Verhalten des Vaters.

3

Elisa schloss den Koffer und schaute dann voller Mitleid zu dem Jungen hinüber, der zusammengekauert auf seinem Bett hockte. Er hatte seit dem Abend, an dem sie ihm von dem Internat erzählt hatte, kein Wort mehr gesprochen, erinnerte sie sich bedrückt. Er blickte sie immer nur mit seinen todtraurigen Augen an, sagte aber nichts. Das ehedem rundliche Gesicht, welches noch vor ein paar Tagen von einem Wust brauner Locken umrahmt gewesen war, wirkte jetzt durch den ordentlichen Kurzhaarschnitt spitz und völlig versteinert. Und seine leicht vorgebeugte Körperhaltung erinnerte an einen alten Mann, der sowohl seine gesamte Kraft als auch all seine Lebensfreude verloren hatte. Wenn man ihn so ansah, dachte sie mit schuldbewusster Hilflosigkeit, wollte es einem scheinen, als trüge er eine schier unerträgliche Last mit sich herum und hätte zudem jede Hoffnung auf Beistand aufgegeben.

„Du musst keine Angst haben“, versicherte sie leise, indem sie sich zu ihm setzte, um seine Stirn zu küssen. „Es sind viele andere Kinder dort, weißt du. Mit denen kannst du dann nach Herzenslust spielen und lustige Streiche aushecken. Das wird dir sicher gefallen.“ Mit dem Zeigefinger hob sie sein Kinn an, um ihm in die Augen schauen zu können, und küsste ihn dann erneut auf Stirn und Wangen. „In den Schulferien hole ich dich wieder nach Hause“, versprach sie dabei. „Du wirst sehen, es ist gar nicht lange bis dahin. Und dann machen wir uns eine schöne Zeit. Du kannst dir ja schon mal überlegen, was du dann gerne unternehmen würdest. Ja? Und sobald du das weißt, rufst du mich an. Überhaupt: Wenn du es nicht mehr aushältst, rufst du mich an. Egal, wann und ganz egal wie spät es ist. Ich hole dich dann sofort ab. Versprochen!“ Sie hatte sich fest vorgenommen, nicht zu weinen. Allerdings fühlte sie in diesem Augenblick ihre Augen brennen, was ein sicherer Hinweis darauf war, dass sie verräterisch glänzten, und verwünschte im Stillen ihre Schwäche. Als Fabian sie dann auch noch umarmte, um sich für einen kurzen Moment mit aller Kraft an sie zu drücken, verlor sie fast die Beherrschung. Allein die massige Statur ihres Mannes, die unvermittelt im Türrahmen aufgetaucht war, löste eine Zornwelle in ihr aus, die jegliche Schwäche fortspülte. Es würde der Tag kommen, grollte sie insgeheim, an dem er bereuen würde, die Liebe, die man ihm entgegengebracht hatte, durch Gemeinheit vergolten zu haben!

Karls finsterem Blick ausweichend, schob sich die kleine Frau vom Bettrand. Danach half sie dem Jungen in die leichte Jacke und langte am Ende nach dem eigenen Blazer.

„Wir sind so weit“, verkündete sie, indem sie ihren Mann zum ersten Mal seit vielen Tagen voll ansah, und dabei so viel Kälte in ihren Blick legte, dass dieser sichtlich zusammenfuhr. Die offizielle Aufnahmefeier für die sogenannten Neulinge war am Vortag gewesen, erinnerte sie sich böse. Doch das hatte Karl ihr verschwiegen, sodass sie erst am vergangenen Nachmittag durch die besorgte Nachfrage des Internatsleiters darüber informiert worden war. Ob Karl den Termin verwechselt oder einfach nur vergessen hatte, vermochte sie nicht einzuschätzen, traute ihm aber mittlerweile zu, dass er die Zeremonie bewusst versäumt hatte, weil er den vermeintlich sinnlosen Zeitaufwand gescheut hatte. Also war dem Jungen nicht nur das Erlebnis eines besonderen Tages, sondern auch die Freude an einer prall gefüllten Zuckertüte entgangen! Dass er die Geschenke trotzdem erhalten würde, war keineswegs tröstlich, denn die würden ihm zum Abschied ausgehändigt werden, damit er durch das Auspacken ein wenig abgelenkt sei, während seine Eltern ihn in einem fremden Haus inmitten fremder Menschen zurückließen.

Die Fahrt zum Internat verlief still und ereignislos. Als schließlich die Umrisse des ehemaligen Landgrafen-Sitzes in Sichtweite kamen, machte Karl eine kurze Bemerkung zu den jetzigen Besitzern, erntete dafür aber bloß einen gleichgültigen Blick von seiner Frau. Fabian indes saß immer noch mit gesenktem Kopf im Fond und schien keinerlei Interesse an seiner Umgebung zu haben. Selbst als sie vom Schulleiter empfangen und in dessen Büro gebeten wurden, wo die organisatorischen Dinge des Internat-Alltags, sowie die Hausordnung besprochen werden sollten, blieb der Junge zurückhaltend und stumm. Allein das Mobiliar weckte nach einiger Zeit seine Aufmerksamkeit, sodass er bald nur noch Augen für die Antiquitäten hatte, mit welchen der Raum ausgestattet war. Das waren schöne, gemütliche Sachen, dachte er für sich. Fast wie zu Hause. Und die Schnitzereien waren auch toll. Aber die Bilder in den Rahmen waren scheußlich, denn sie zeigten bloß lauter komisch angezogene Leute, die bestimmt nie Spaß an etwas gehabt hatten, so finster wie sie guckten.

Während seine Eltern mit dem Schuldirektor redeten, schaute Fabian ohne wirkliches Interesse aus einem der großen Fenster. Als er schließlich einen Mann in Arbeitskleidung bemerkte, der sich mit einem merkwürdig aussehenden Werkzeug an einer dicht wachsenden Hecke zu schaffen machte und dabei von einem kleinen struppigen Hundewelpen umsprungen wurde, richtete er sich ein wenig auf, um besser hinaussehen zu können. Für einen kurzen Augenblick vergaß er fast, wo er sich befand, und beobachtete aufmerksam das übermütig spielende Tier. Doch nur einen Atemzug später sank er wieder in sich zusammen, denn die laute Stimme seines Vaters verkündete nun, dass ja wohl alle Fragen geklärt seien und er sich nun verabschieden wollte.

Karl stürmte nicht sofort aus dem Büro des Schulleiters zu seinem Auto. Er nahm sich aber auch nicht mehr Zeit, als notwendig war, um Fabians Koffer in dessen künftiges Zimmer zu bringen und einen kurzen Rundblick durch den gemütlich wirkenden Raum zu schicken. Gleich darauf nickte er in die Richtung des Jungen, schüttelte dann die Hand des Erziehers, der ab sofort für das Kind zuständig sein würde, und war auch schon aus der Tür hinaus, bevor überhaupt jemand etwas sagen konnte.

Elisa war die Situation so peinlich, dass sie sich am liebsten im nächsten Mauseloch verkrochen hätte. Da dies jedoch nicht möglich war, beschränkte sie sich darauf, das mitgebrachte Geschenk an ihren Sohn zu übergeben, damit er es endlich aufmachen konnte. Danach umarmte sie Fabian ein letztes Mal voller Zärtlichkeit, und folgte dann ihrem Mann, der bereits mit laufendem Automotor auf sie wartete.

*

Während der ersten Tage im Internat war Fabian so krank vor Heimweh, dass er weder etwas essen noch mitgehen wollte, um die anderen Kinder kennenzulernen. Das gute Zureden seines Betreuers blieb daher genauso ohne Erfolg, wie die Bemühungen des Internatsleiters, der es mit gut gemeinter Strenge versuchte. Selbst die Aussicht darauf, dass er jederzeit mit dem kleinen Hund des Hausmeister-Ehepaares spielen konnte, wenn er das wollte, vermochte ihn nicht aus seinem Zimmer zu locken. Er vermisste seine Mutter so sehr, dass es ihn körperlich schmerzte. Gleichzeitig wurde jeder Gedanke an sie immer öfter von einem Gefühl tiefer Enttäuschung begleitet, denn die Frage, warum sie das alles zugelassen hatte, ließ sich nicht länger verdrängen. Auch sein Vater fehlte ihm. Allerdings konnte er seine Gefühle für den großen Mann nicht mehr so eindeutig definieren, wie er es nur drei Wochen zuvor getan hatte. Schmerzliche Sehnsucht nach dem poltrigen, meist übel gelaunten Riesen wechselte sich ab mit trotziger Wut, die meist dann in ihm aufwallte, wenn er zu ergründen suchte, was man eigentlich von ihm erwartete. Am Ende glaubte er, begriffen zu haben, dass er nur durch besonders gutes Benehmen das Wohlwollen seines Vaters wiedererlangen und so erreichen konnte, dass man ihn wieder nach Hause holte. Also tat er fortan alles, was man von ihm verlangte, ohne auch nur einmal zu murren.

 

Elisa rief täglich an, um sich nach dem Befinden ihres Sohnes zu erkundigen. Da ihr die Antworten des Betreuers aber nicht wirklich glaubhaft schienen, setzte sie sich an einem Freitagmorgen kurzerhand ins Auto und fuhr zum Internat, um sich selbst ein Bild zu machen.

Die kleine Frau hätte blind sein müssen, um die seelische Not ihres Sohnes nicht zu sehen. Also nahm sie sich kurzerhand ein Zimmer in einer Pension unweit des Internats, und rief anschließend ihren Mann an, um ihn zu informieren, dass sie ein paar Tage lang nicht nach Hause kommen würde. Wo genau sie steckte, sagte sie ihm nicht, auch wenn ihr bewusst war, dass er sich das denken konnte. Sie war nicht seine Sklavin, redete sie sich selbst gut zu. Auch, wenn er dies vielleicht glaubte. Sie war nicht sein Eigentum, sondern ein mündiger Mensch, der für sich selbst entscheiden konnte!

Fabian indes nahm die Anwesenheit seiner Mutter mit sehr gemischten Gefühlen auf, denn sie sprach weder bei ihrer Ankunft noch während der folgenden beiden Tage den ersehnten Satz aus. Selbstverständlich freute er sich darüber, dass sie da war und ihre Zeit ausschließlich mit ihm verbrachte. Auf der anderen Seite wollte er, dass sie gleich wieder nach Hause fuhr, damit er den grausamen Moment der Trennung schnellstmöglich hinter sich bringen konnte.

„Du musst dir gar keine Sorgen machen“, versicherte er bei der letzten gemeinsamen Mahlzeit am Sonntagabend bewusst munter. „Mir geht’s hier ganz gut. Ich habe Freunde, weißt du. Und ich kann mit Tobi spielen. Ist alles gar nicht so schlimm wie ich am Anfang dachte.“

Elisa spürte, dass man ihr nicht die ganze Wahrheit sagte, nahm die Aussage des Jungen aber trotzdem mit einiger Erleichterung auf. Nichtsdestotrotz plante sie schon ihren nächsten Besuch und freute sich darauf.

*

Regeln zu befolgen fiel Fabian genauso leicht, wie das Lernen im Unterricht, was seinen Lehrern außerordentlich gut gefiel. Bei seinen Mitschülern und den Erziehern wurde sein angepasstes und höchst zurückhaltendes Verhalten jedoch nur zu Beginn des ersten Schuljahres als eine normale Reaktion geduldet. Doch nach und nach wurde er gezwungen, sich der Erkenntnis zu stellen, dass er es nicht jedem recht machen konnte. Gehorchte er den Forderungen seiner meist älteren Mitschüler, die ihn zu allerlei Streichen anstifteten, wurde er von der Lehrerschaft mit empfindlichen Strafen belegt. Folgte er den Anweisungen der Pädagogen, wurde er von seinen Altersgenossen als Streber angesehen und im besten Fall nur gemieden. Also ging er schließlich dazu über, den Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen, indem er zum Einzelgänger wurde, der ausschließlich seine Bücher im Kopf hatte. Lieber wollte er von seinen Mitschülern gehänselt werden, als sich Ärger mit den Lehrern einzuhandeln. Obwohl er noch sehr jung war, hatte er bereits begriffen, dass sie letztlich die Macht besaßen, ihn wieder nach Hause zurückkehren zu lassen. Wenn er nämlich gute Noten und nur positive Beurteilungen bekam, glaubte er, würde sein Vater sicher mit sich reden und ihn zurückkommen lassen.

*

Die ersten Ferien im Haus seiner Eltern begannen für Fabian in hoffnungsvoller Erwartung. Doch schon beim ersten Zusammentreffen mit Karl wurde ihm klargemacht, dass er sich keinerlei Illusionen bezüglich einer Meinungsänderung vonseiten des Vaters machen durfte.

„Hoffe nur, die reguläre Schulzeit reicht trotz der vielen Pausen aus, um euch alles beizubringen, was ihr fürs Leben braucht“, quetschte Karl statt einer Begrüßung hervor. „Zwei Wochen“, er schüttelte missbilligend den Kopf, „man soll’s nicht glauben.“ Das Gesicht zu einer verächtlichen Miene verzogen, musterte er den Jungen einmal kurz von Kopf bis Fuß. „Dir schmeckt es wohl nicht im Internat, nein? Na, deine Mutter wird bestimmt dafür sorgen, dass du ein paar Pfund zunimmst, bevor sie dich wieder zurückbringt. Sie tut einfach alles für ihren kleinen Schatz. Gibt ja sonst nix wichtigeres für sie.“ Damit ließ er sowohl Fabian als auch seine Frau einfach stehen.

Elisa gab sich alle Mühe, das hässliche Verhalten ihres Mannes vergessen zu machen und ihren unglücklichen Sohn aufzumuntern, indem sie Ausflüge mit ihm unternahm oder einfach nur für ihn da war. Aber es wollte ihr einfach nicht gelingen, ein Lächeln auf das schmale Jungengesicht zu bringen.

Karls allgegenwärtige Präsenz schüchterte Fabian tatsächlich so sehr ein, dass er wie ein geprügelter Hund durchs Haus schlich, sobald er den Vater in der Nähe wusste. Allerdings war es nicht nur der Anblick des großen, stets finster dreinblickenden Mannes, der ihn auf Distanz hielt. Der Junge war sich plötzlich ganz sicher, dass er von seinem Vater niemals wirklich akzeptiert, geschweige denn geliebt werden würde. Nichtsdestotrotz hatte er ihn gerne und wollte nichts anderes als ihn zufriedenzustellen.

*

Fabian selbst merkte es nicht, aber in seinem Inneren vollzog sich allmählich eine grundlegende Wandlung. Menschliche Zuneigung hing offenbar davon ab, ob er gehorsam war oder nicht. Und selbst wenn er alles tat, was man von ihm verlangte, war dies keineswegs eine Garantie dafür, dass er von Enttäuschungen verschont wurde. Also schien es ihm besser, wenn er niemanden mehr so nahe an sich heranließ, dass man ihm wehtun konnte.

Die erste Person, die diese Veränderung zu spüren bekam, war Elisa. Sie wurde zwar bei ihrem nächsten Besuch voller Freude begrüßt, bemerkte aber sofort, dass Fabians Umarmung längst nicht so fest und liebevoll war, wie sonst. Selbst schuld, gestand sie sich ein. Hätte sie mehr Courage bewiesen und sich offen gegen Karl aufgelehnt, ihr Sohn besäße nun ein anderes Bild von ihr.

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