BETTINAS ENTSCHEIDUNG

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Z serii: Blutbande #2
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8

Bettina hatte bereits damit gerechnet, dass ihr zukünftiges Heim eine gewisse Größe habe würde. Dennoch verschlug ihr der Anblick der Graumann-Villa im ersten Moment die Sprache, weil ihr das Anwesen im Vergleich zu den Appartements, die sie bisher bewohnt hatte, unglaublich groß erschien. Das strahlend weiß gestrichene Gebäude stammte aus den frühen Fünfzigerjahren und lag inmitten eines parkähnlichen Gartens abseits der viel befahrenen Hauptstraße unmittelbar am Waldrand. Es wurde nicht nur durch einen Zaun, sondern auch durch eine moderne Alarmanlage sowie diverse Bewegungsmelder auf dem gesamten Grundstück vor Eindringlingen geschützt. Man erreichte sowohl den Hauseingang als auch die große Garage mit einer darüber liegenden Zweizimmerwohnung über eine gepflasterte Einfahrt, die in einem kreisrunden Hof endete. Das Erdgeschoss unterteilte sich in einen weitläufigen Wohn-und Essbereich, sowie eine großzügig bemessene, sehr funktionell eingerichtete Küche. Überdies fanden sich hier auch noch zwei Gästezimmer, die durch ein Bad getrennt waren. Gegenüber der Haustür befand sich eine breite Treppe, die jeweils in einem großen Bogen zum Unter-und Obergeschoss führte. Unter dem ausladenden Walmdach mit den breiten Gauben gab es weitere fünf Räume, von welchen drei als Schlafzimmer dienten und das vierte zum Arbeitszimmer des Hausherrn bestimmt worden war. Das Bad war hier sehr groß, da es neben einer Badewanne und einer Duschkabine auch eine Sauna enthielt. Außer im Keller und in der Küche bedeckten dicke Teppiche den Fußboden. Die Terrasse, die man sowohl vom Wohnraum als auch von den Gästezimmern aus erreichen konnte, wurde auf der Ostseite von einer hochwachsenden Ligusterhecke begrenzt, während sie im Norden mit der Wand der Garage abschloss.

Bettinas allererste Begegnung mit Ines, Haralds sechsjähriger Tochter, hätte sie eigentlich darauf vorbereiten sollen, dass sich ihre Beziehung nicht unbedingt freundschaftlich gestalten würde. Doch zu diesem Zeitpunkt machte sie sich keine Gedanken darüber, ob ihre zukünftige Stieftochter sie mochte oder nicht. Sie vertraute einfach darauf, dass das Mädchen die Wahl des Vaters respektieren und die neue Frau an seiner Seite akzeptieren würde, weil es ja dadurch eine weitere Bezugsperson bekam. Das bläulich schimmernde schwarze Haar, welches in reicher Lockenfülle über den Rücken des Kindes fiel, und die dunklen Augen ihres Gegenübers bewundernd, erfasste sie schließlich den Widerwillen in dem kindlichen Blick, und nickte leicht. Eine ganz normale Reaktion, dachte sie für sich. Da war plötzlich jemand, der künftig die Aufmerksamkeit des Vaters und dessen ohnehin knappe Zeit für sich in Anspruch nehmen wollte, sodass man fürchten musste, selbst zu kurz zu kommen. Wäre sie selbst an Ines’ Stelle, sie würde vermutlich ähnlich reagieren. Es lag also nun an ihr, dafür zu sorgen, dass die Ängste der Kleinen verscheucht wurden.

„So eine süße kleine Tochter hab’ ich mir schon immer gewünscht“, erklärte sie im schmeichelnden Ton, sobald die eigentliche Begrüßung vorbei war.

„Ich bin nicht süß“, stellte das Mädchen sichtlich verärgert klar. „Und klein bin ich auch nicht mehr. Ich geh schon zur Schule!“

„Warum so unfreundlich, mein Schatz?“, mischte sich Harald mit sanfter Stimme ein. „Meinst du nicht, dass Bettina zumindest Höflichkeit verdient hat, wenn du schon keine netten Worte für sie findest?“

Darauf gab Ines keine Antwort. Die hochgewachsene blonde Frau an der Seite ihres Vaters mit einem kurzen, undefinierbaren Blick betrachtend, biss sie sich einmal heftig auf die wohlgeformte Unterlippe. Dann drehte sie sich abrupt um, um zu gehen.

„Ines …“

„Lass sie“, unterbrach Bettina ihren sichtlich verärgerten Verlobten. „Sie braucht Zeit, um sich an mich zu gewöhnen. Außerdem muss sie erst noch herausfinden, dass ich nicht den Platz ihrer Mutter in deinem Herzen einnehmen will, denn ich habe einen eigenen bekommen.“ Sie hatte zwar keine Ahnung von der Psyche eines Kindes, konnte sich aber gut vorstellen, wie es jetzt in der Kleinen aussah. Harald hatte ihr schon zu Beginn ihrer Bekanntschaft erzählt, dass die Mutter seiner Tochter bei deren Geburt gestorben sei, sodass Ines bisher in der Obhut seiner Haushälterin aufgewachsen war, während er seiner Arbeit nachging. Er hatte aber auch deutlich gemacht, dass die Kleine fast schon besessen davon war, das Andenken der verstorbenen Mutter nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Nun, sie – Bettina – konnte gut damit leben, dass das Porträt der schönen Spanierin in nahezu jedem Raum der großen Villa an der Wand hing. Und es machte ihr auch nichts aus, dass Harald öfter als notwendig von seiner ersten Frau sprach. Allerdings setzte sie große Hoffnung darauf, dass sie nicht bis zum Ende ihrer Tage in Estrellas Schatten leben musste.

Während der gesamten Vorbereitungsphase für ihre Hochzeit dachte Bettina nicht ein einziges Mal an ihre Angehörigen. Als ihr jedoch einfiel, dass es vielleicht vonnöten wäre, auch an die Eltern eine Einladung zu schicken, geriet sie in einen nervenaufreibenden Zwiespalt. Es gehörte sich einfach, auch die eigene Familie dabei haben zu wollen, gestand sie sich ein. Andererseits graute ihr bei der Vorstellung, ihren Vater, der seit ihrem Weggehen nicht ein einziges Mal nach ihr gefragt hatte, um sein Erscheinen bitten zu müssen. Nein, entschied sie am Ende, sie wollte niemanden dazu drängen, an einem Fest teilzunehmen, dem er lieber fernbleiben wollte. Sie wünschte sich eine schöne und unbeschwerte Feier mit fröhlichen Gästen, denn schließlich heiratete sie nur einmal und wollte daher diesen besonderen Tag in guter Erinnerung behalten. Vielleicht … Nein, ihre Mutter würde bestimmt nicht alleine kommen wollen. Außerdem wäre es ein Unding, nur sie einzuladen und die anderen nicht zu berücksichtigen! Was also war zu tun? … Nun, sie würde eine schlichte Mitteilung an die elterliche Adresse schicken, nahm sie sich vor. Was man letztlich damit anfing, sollte ihr dann egal sein. Wer von sich aus meinte, ihr bei diesem besonderen Anlass zur Seite stehen zu wollen, war jedenfalls herzlich willkommen.

*

Dass keine Verwandten von Bettina bei ihrer Hochzeit dabei sein würden, stimmte Harald ein wenig traurig um ihretwillen. Da sie ihm aber erzählt hatte, man habe sich Jahre zuvor im Streit getrennt und seither keinen Kontakt mehr gewollt, gab er sich damit zufrieden, dass die Feiergesellschaft ausschließlich aus Angehörigen, Freunden und Bekannten von seiner Seite bestand.

Bettina hatte nie davon geträumt, einmal ein klassisches Brautkleid zu tragen oder gar in einem Gotteshaus heiraten zu wollen. Daher war sie auch nicht traurig darüber, dass der katholisch getaufte und schon einmal kirchlich getraute Harald ihr sein Jawort nicht vor einem Priester geben konnte. Also trug sie am Tag ihrer Trauung ein Designerkostüm in einem sanften Lindgrün, sowie eine Bluse und hochhackige Pumps in Woll-Weiß.

Nachdem die Ringe getauscht und die Heiratsurkunde unterschrieben waren, zog Harald ein langes Etui aus seiner Anzuginnentasche und legte seiner frisch angetrauten Frau ein Collier aus sieben in schweres Weißgold gefassten Saphiren um den Hals. Zudem wollte er am nächsten Morgen mit ihr in die Südsee fliegen, um sie dort zwei Wochen lang ganz alleine für sich zu haben. Dass ihre Stieftochter unterdessen daheimbleiben und von der Haushälterin beaufsichtigt werden sollte, fand Bettina indes nicht wirklich gut, denn sie fürchtete, diese Entscheidung könnte das Mädchen nicht dem Vater, sondern ihr selbst übel nehmen. Sie ahnte nicht, wie richtig sie mit ihrer Vermutung lag, während sie die finster anmutende Miene des Kindes betrachtete und dabei die konsequente Ablehnung bedauerte, mit welcher ihr Ines seit dem ersten Aufeinandertreffen begegnete.

*

Bettina stürzte sich in ihr neues Leben wie eine Verdurstende in einen See. Weil sich Harald tagsüber in seiner Schreinerei aufhielt, und neben seiner organisatorischen Arbeit auch noch die Restaurationsaufträge erledigen musste, die er in den letzten Monaten vernachlässigt hatte, blieb ihr viel Zeit, um sich den Dingen zu widmen, die bisher unbeachtet geblieben waren. So sorgte sie als Erstes dafür, dass das gemeinsame Schlafzimmer renoviert und mit neuen Möbeln ausgestattet wurde, weil ihr die alten weder vom Stil noch von der Holzart her gefielen. Und sobald Ines aus der Schule heimkam, widmete sie sich ganz der Kleinen. Sie gab sich wirklich große Mühe, die Sympathie ihrer Stieftochter zu gewinnen, weil sie das bildhübsche Kind in der Tat sehr mochte. Allerdings wurde sie immer wieder enttäuscht, weil das Mädchen sie partout nicht an sich herankommen ließ. Die mittlerweile Siebenjährige war wahrhaft winzig im Vergleich zu anderen Kindern ihres Alters, aber so vorlaut und altklug, dass es in der Tat sehr viel Selbstkontrolle erforderte, um nicht aufzufahren, wenn sie wieder einmal mit aller Gewalt das letzte Wort haben musste.

Dass das Verhalten ihrer Stieftochter für dieses Alter typisch war, wusste Bettina durchaus, denn sie hatte sich mittlerweile entsprechende Literatur besorgt und darin nach hilfreichen Verhaltensempfehlungen gesucht. Dennoch war sie meist rat-und völlig hilflos, angesichts Ines’ oft sehr aggressiv anmutender Ausbrüche, sowie der fehlenden Akzeptanz für die Regeln des menschlichen Miteinanders vonseiten des Mädchens. Es sah fast so aus, als würde die Kleine es absichtlich darauf anlegen, dass man die Geduld verlor und etwas tat, was sie hernach als ungerechte Bestrafung oder gar gemeine Misshandlung anprangern konnte.

Kurz vor dem ersten gemeinsamen Weihnachtsfest im Hause Graumann, kam es schließlich zu einer hässlichen Auseinandersetzung zwischen Stiefmutter und Stieftochter, welche für Bettina die Gewissheit bringen sollte, dass jeder weitere Versuch, ein harmonisches Miteinander erreichen zu wollen, vollkommen sinnlos war: Sie wollte das Mädchen mit in die Stadt nehmen und bestand darauf, dass es sich ordentlich anzog, weil sie kein Schmuddelkind an ihrer Seite haben wollte. Ines indes sträubte sich mit Händen und Füßen dagegen, das ausgewaschene Sweatshirt und ihre heiß geliebte, aber schon sehr fadenscheinig aussehende Jeans gegen ein Kleid einzutauschen, weil sie nicht wie eine Modepuppe ausstaffiert werden wollte.

 

„Findest du es denn nicht toll, dich schönzumachen?“, versuchte Bettina es ein letztes Mal im schmeichelnd klingenden Tonfall. „Schau, ich hab’ ja auch ein schickes Kleid an. Wäre es nicht klasse, wenn wir zwei wie feine Damen durch die Stadt spazieren würden?“

„Ich finde Kleider doof“, erwiderte Ines mit geringschätziger Miene. „Und dich und dein albernes Gehabe mit den Klamotten find ich ganz besonders blöd.“

„Warte nur“, drohte Bettina, die mittlerweile am Ende ihrer Geduld angelangt war. „Ich werde mit deinem Vater reden. Es wird wirklich höchste Zeit, dass er erfährt, was für eine freche kleine Göre seine Tochter ist!“ Sie war kaum fertig, da sah sie das kindliche Gesicht vor Schreck erstarren, wobei die schönen dunklen Augen plötzlich ungemein groß erschienen, und fühlte sogleich Bedauern über die Drohung, die ihr in ihrem Ärger entschlüpft war. Also beeilte sie sich, ihren Worten die Schärfe zu nehmen: „Ich wollte wirklich keine Petze sein, weißt du. Aber du lässt mir keine andere Wahl.“

„Du kannst machen, was du willst“, presste die Kleine hervor. „Ich werde das blöde Kleid trotzdem nicht anziehen. Und zum Friseur will ich auch nicht! Meine Mama hat auch lange Haare gehabt. Und ich will so sein, wie sie! Ist mir egal, was du Papa erzählst. Ich mag dich nicht! Ich wünschte, Papa hätte dich nie getroffen! Ja, ich wünschte, du wärst tot und meine Mama dafür hier!“ Bevor man sie zurückhalten konnte, warf sie sich herum und rannte davon.

Bettina war im ersten Moment ziemlich bestürzt, weil sie solch einen hasserfüllten Ausbruch nicht erwartet hatte. Doch dann stieg erneut Ärger in ihr auf. Sie hatte keine Lust mehr, weiterhin völlig vergeblich um den Respekt oder gar die Sympathie des Mädchens zu kämpfen, dachte sie gereizt. Sollte sich Ines doch die Haare von jetzt an selbst kämmen. Vielleicht kam sie dann endlich zur Vernunft, denn es war in der Tat nicht einfach, jeden Morgen und Abend die wilde Flut unbezähmbarer Locken zu bändigen. Außerdem war es momentan gar nicht so wichtig, ob Ines sie mochte oder nicht. Schließlich war sie nur ein Kind, das seine Meinung ganz schnell wieder ändern konnte. Vielleicht wurde es ja besser, sobald sie ein gewisses Alter erreichte? Möglicherweise brauchte sie einfach nur noch ein bisschen mehr Zeit, um zu begreifen, dass es die Stiefmutter nur gut mit ihr meinte?

In der Folgezeit gingen sich Bettina und Ines tunlichst aus dem Weg. Die Siebenjährige verbrachte wieder viel Zeit in der Gesellschaft der Haushälterin, derweil sich die Frau ihres Vaters nur noch um ihre eigenen Interessen kümmerte. Selbst wenn sie mal gezwungen waren, mehr Zeit miteinander zu verbringen, als unbedingt notwendig war, weil ein Familienausflug oder Ähnliches anstand, übersahen sie einander geflissentlich.

„Was ist denn nur los mit euch?“, wollte Harald eines Abends wissen.

„Sie kann mich nicht leiden“, erwiderte Bettina mit einem gleichmütigen Schulterzucken.

„Unsinn“, erwiderte er sichtlich irritiert. „Warum sollte sie dich nicht mögen? Du hast ihr doch gar nichts getan.“

„Doch“, wandte sie ein. „Ich hab’ mit ihr geschimpft, weil sie nicht auf mich hören wollte. Und seitdem kann sie mich nicht mehr ausstehen.“

„Aber … Aber …“ Er wusste nicht weiter.

„Alles halb so wild“, winkte Bettina ab. „Lass sie. Möglicherweise hat sie schon morgen wieder aus geschmollt und wird wieder normal. Kinder sind manchmal so.“ Damit war das Thema für sie erledigt. Sicher, sie würde Ines niemals abweisen, wenn diese von sich aus käme, um Frieden zu schließen. Dennoch wollte sie selbst nichts mehr tun, um das angespannte Verhältnis zu entkrampfen. Es war noch nie ihr Ding gewesen, sich irgendjemandem aufzuzwingen. Und sie würde sicher nicht bei ihrer Stieftochter damit anfangen!

Um sich abzulenken, konzentrierte sich Bettina auf das Haus selbst. Weil die vorhandene Inneneinrichtung in einem sehr gediegenen, um nicht zu sagen, erzkonservativen Stil gehalten war, glaubte sie zunächst, sie könne durch hellere Tapeten und neue Gardinen eine andere Atmosphäre hineinbringen. Weil das aber im Hinblick auf die klassischen Möbel aus den frühen Achtzigern nicht sehr vielversprechend war, entschied sie, dass auch sie weichen sollten. Und so wälzte sie tagelang verschiedene Kataloge, fuhr anschließend von einem Geschäft zum nächsten, und legte Harald dann einen detaillierten Plan vor, aus dem er ersehen konnte, was sie vorhatte.

„Ich seh’ ja ein, dass hier Handlungsbedarf besteht.“ Sein Blick glitt zunächst über das gepflegte Mobiliar des Wohnzimmers und heftete sich dann sichtlich zweifelnd auf die Aufstellung, die vor ihm auf dem Tisch lag. „Aber muss es wirklich gleich das ganze Haus sein?“

„Es muss doch alles zusammen passen“, erklärte sie. „Ich kann doch drüben kein modernes Esszimmer hinstellen und hier alles unangetastet lassen. Wie sieht das denn aus? In einem Raum Edelstahl und Glas und im nächsten ein Monstrum vom Eiche-Schrankwand und Sitzmöbel wie zu Uromas Zeiten!“

„Und wieso willst du auf einmal ein eigenes Schlafzimmer?“, wollte er wissen.

„Weil du wie ein Grizzlybär schnarchst und ich deshalb kaum ein Auge zubekomme.“ Dass das nur die halbe Wahrheit war, sagte sie nicht. Es war jedoch in der Tat so, dass sie seine ständige Anwesenheit in ihrem Bett zwar begrüßte, weil sie seine körperliche Nähe genoss, sich durch ihn aber auch irgendwie gestört fühlte, ohne ihr Unbehagen näher begründen zu können. Also hoffte sie nun darauf, dass die räumliche Trennung die richtige Lösung dieses Problems war.

„Aber Ines’ Zimmer lässt du so, wie es ist, ja“, verlangte er. „Sie hat sich die Sachen erst letztes Jahr selbst herausgesucht.“

„Ich hatte ja auch gar nicht vor, ihr etwas Anderes aufzuzwingen“, wehrte sich Bettina. „Sie soll sich ja in ihrem Reich wohlfühlen!“

Harald ließ seine Frau gewähren, denn er wollte, dass sie sich in ihrem neuen Zuhause wohlfühlte. Er bezahlte die Rechnungen, hielt sich aber aus allem raus, weil er ohnehin wenig Zeit hatte. Als er jedoch nach sechswöchigem Einrichtungs-Chaos das Ergebnis der Arbeiten betrachtete, war er sprachlos. Sein ehemals urgemütliches Heim wirkte nun wie ein Ausstellungsstück aus einem Einrichtungskatalog, denn in den Räumen dominierten ausschließlich moderne Designermöbel und kühle Farben. Auch wenn er bereits im Vorfeld über die Veränderungen informiert worden war, fühlte er sich nun in seinen eigenen vier Wänden völlig fremd und deplatziert. Trotzdem verbiss er sich jedweden Kommentar, weil er Bettina mit seiner Kritik nicht vor den Kopf stoßen wollte.

9

Kurz nach ihrem zweiten Hochzeitstag begriff Bettina plötzlich, dass sie zwar oft unterwegs war, im Grunde aber keine produktive Beschäftigung nachweisen konnte. Verschiedene Sportarten zu treiben, oder ihre Schönheit zu pflegen, kam allein ihrem Äußeren zugute. Aber sonst gab es nichts für sie zu tun. Heidi – Haralds Haushälterin – besorgte die Hausarbeit und das Kochen. Ines war entweder in der Schule oder bei einer ihrer Freundinnen. Und ihr Mann war kaum noch zu Hause, weil er einen Großauftrag nach dem anderen zu erfüllen hatte, sodass er sich nahezu rund um die Uhr in seiner Werkstatt oder bei einem Kunden aufhielt.

Warum sie sich auf einmal so kribbelig und gereizt fühlte, konnte Bettina zunächst nicht verstehen. Doch dann ging ihr der wahre Grund auf: Es war nicht nur das eintönige Einerlei des Alltages, das ihr auf die Nerven ging. Es war auch Haralds übergroßes Bedürfnis nach Harmonie und Ruhe, was im krassen Gegensatz zu ihrem eigenen Verlangen nach Trubel und Abwechslung stand. Außerdem hatten sie nicht mehr so oft Sex, wie zu Anfang ihrer Ehe, weil er meist todmüde von der Arbeit kam und nach einem leichten Abendessen schon auf der Wohnzimmercouch einschlief. Dass er darüber hinaus nur wenig Fantasie entwickelte, wenn er sich dann doch einmal in ihr Schlafzimmer verirrte, ließ ihr eigenes Verlangen meist schnell wieder abflauen, sodass sie am Ende kaum erwarten konnte, dass er wieder ging. Selbstverständlich hätte sie ihm ihre Wünsche und Bedürfnisse erklären können. Und bestimmt wäre ihr Intimleben danach wieder ein wenig aufregender geworden. Doch sie sagte nichts, weil sie im Grunde gar nicht traurig darüber war, dass er immer seltener zu ihr kam. Er wollte ein Baby. Sie hingegen mochte gar nicht über einen Familienzuwachs nachdenken. Auch wenn es ihr eigenes Fleisch und Blut sein würde, fürchtete sie, dass Harald das gemeinsame Kind genauso verhätscheln und verziehen würde, wie er es momentan mit Ines tat. Und sie selbst würde kaum etwas dagegen unternehmen können, weil er sich von seiner Frau weder in Erziehungsfragen noch in anderen Dingen etwas sagen ließ. Natürlich fragte er sie um ihre Meinung, machte dann aber meist genau das Gegenteil von dem, was sie ihm geraten hatte. Nein, bekräftigte sie es noch einmal, sie konnte sich Besseres vorstellen, als noch ein Kind in die Welt zu setzen, welches womöglich bloß zum Zankapfel zwischen ihnen werden würde!

Um ihre beständig größer werdende innere Unruhe zu dämpfen, machte Bettina immer häufiger ausgedehnte Einkäufe. Als schließlich sowohl ihr Kleiderschrank als auch der Schuhschrank so gefüllt waren, dass in der Tat kein einziges Stück mehr hineinpassen wollte, entschied sie, dass es allerhöchste Zeit sei, etwas Vernünftiges zu tun. Sie musste wieder arbeiten gehen. Genau! Sobald ihr nämlich die Hektik der alltäglichen Arbeitswelt um die Nase wehte, würde sie genug Abwechslung haben. Außerdem wollte sie neue Bekanntschaften schließen, die ausnahmsweise nichts mit Harald oder seinen Geschäften zu tun hatten.

Da ihre Entscheidung bereits feststand, wollte sie das Gespräch mit ihrem Mann nicht lange aufschieben. Und so wartete sie bis in den späten Abend hinein voller Ungeduld darauf, dass er endlich heimkam. Als er dann da war, ließ sie ihm gerade so viel Zeit, dass er seine Mahlzeit beenden und seinen Lieblingsplatz auf der Couch einnehmen konnte, bevor sie ihr Anliegen zur Sprache brachte.

Hätte Bettina den Wunsch geäußert, am kommenden Tag zum Nordpol umziehen und dort bis zu ihrem Lebensende in einer primitiven Schneehütte leben zu wollen, Haralds Verständnislosigkeit wäre nicht größer gewesen.

„Aber wieso denn?“, wollte er wissen. „Hast du hier nicht mehr genug zu tun?“

„Machst du Witze?“, brauste sie auf. „Was bleibt mir denn schon zu tun, wo Heidi alles so gut im Griff hat.“

„Dann genieße einfach die Zeit, die du für dich hast. Immerhin bist du in der beneidenswerten Position, keinen Finger rühren zu müssen, während ich mich vor Arbeit kaum retten kann.“

„Aber genau das ist ja der Punkt“, verteidigte sie ihren Plan. „Ich habe zu viel Zeit für mich! Und genau darum möchte ich wieder etwas Vernünftiges machen. Ich bin nicht für das Leben eines faulen Modepüppchens geboren! Bitte Harald, es ist doch heutzutage gang und gäbe, dass eine Frau arbeiten geht.“

„Ja, wenn sie finanziell dazu gezwungen ist“, erwiderte er ungeduldig. „Aber doch nicht dann, wenn sie alles hat, was sie sich nur wünschen kann. Oder … Brauchst du etwa mehr Geld für dich? Wenn das der Fall sein sollte … Warum hast du nichts gesagt? Du weißt genau, es ist kein Problem.“

„Nein“, wehrte sie ab. „Das ist es nicht.“

„Was ist es dann?“, fragte er.

„Abwechslung“, gab sie endlich zu.

Harald schwieg, weil er einfach nicht wusste, was er darauf sagen sollte. Wenn sie endlich schwanger werden würde, hätte sie keine Langeweile mehr, schoss es ihm kurz durch den Sinn. Doch war der Gedanke kaum aufgetaucht, das schob er ihn auch schon wieder von sich. Sie konnte nichts dafür, dass es nicht klappte, ermahnte er sich. Und vielleicht war ihr vermeintliches Versagen mit ein Grund dafür, warum sie sich jetzt an anderer Stelle die Anerkennung holen wollte, die ihr als Mutter versagt blieb? Andererseits wäre eine Herausforderung dar, die bloß in Angriff genommen werden müsste.

„Was ist mit Ines?“, fragte er vorsichtig.

 

„Was soll denn mit ihr sein?“, reagierte Bettina mit einer unwirschen Gegenfrage. „Sie kann mich weder leiden noch braucht sie mich wirklich. Ganz zu schweigen davon, dass sie sich von mir ohnehin nichts sagen lässt. Ich … Also wenn du mich fragst, dann denke ich, dass es für sie besser wäre, wenn sie in die Hände erfahrener Pädagogen käme. Vielleicht … In einem Internat hätte sie möglicherweise …“

„Nein!“, unterbrach er erschrocken. „Das kommt überhaupt nicht infrage. Es würde für sie so aussehen, als ob ich sie abschieben wollte. Nein, das geht nicht!“

„Das ist doch albern“, erwiderte Bettina. „Du würdest etwas Gutes für sie tun. Schließlich willst du doch auch, dass sie zu einer gebildeten jungen Frau heranwächst, die ihr Leben selbst in die Hände nehmen kann.“

„Das kann sie auch hier“, wehrte Harald ab. „Die Schule, die sie momentan besucht, hat einen ausgezeichneten Ruf. Außerdem bin ich der Meinung, dass ein Kind zu Hause am besten aufgehoben ist.“

Bettina wollte zu einer Erwiderung ansetzen, wurde jedoch durch eine ungeduldige Handbewegung ihres Mannes zum Schweigen angehalten.

„Ich werde meine Tochter nicht wegschicken, nur weil du dich nicht mit ihr befassen willst“, stieß er verärgert hervor.

„So denkst du also von mir, ja?“ Bettina war ehrlich gekränkt. Sie hatte es nur gut gemeint, rechtfertigte sie sich. Ines war ein verwöhntes und mittlerweile völlig verzogenes Kind, weil im Grunde niemand da war, der ihr die Grenzen aufgezeigt hätte. Sicher, die mittlerweile Neunjährige brachte durchweg gute Noten nach Hause. Und Heidi zeigte ihr, was im Haus und Garten zu erledigen war. Aber auch die einst als Mutterersatz fungierende Hauswirtschafterin war nunmehr hilflos, wenn es darum ging, dem Mädchen klarzumachen, dass es sich an gewisse Benimmregeln zu halten hatte. Durch die völlig übertriebene Rücksichtnahme und inkonsequente Nachgiebigkeit des Vaters immer wieder darin bestärkt, dass sie ja machen konnte, was auch immer ihr einfiel, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen, weil sie ja ein mutterloses und daher höchst bedauernswertes Kind war, scheute Ines auch nicht mehr davor zurück, der Stiefmutter selbst im Beisein von anderen mit offener Feindseligkeit zu begegnen. Bei dem Gedanken an den letzten Ausbruch ihrer rotzfrechen Stieftochter, in dessen Verlauf sie selbst als dumme Kuh bezeichnet worden war, schluckte Bettina hart.

Harald indes war ehrlich bestürzt, angesichts der Tränen, die mit einem Mal in den Augen seiner Frau schimmerten, und vergaß darüber augenblicklich, dass er tatsächlich gemeint hatte, sie wolle Ines aus dem Wege haben, damit sie sich nicht länger mit ihr auseinandersetzen musste.

„Verzeih.“ Bettina in eine liebevolle Umarmung ziehend, küsste er sie zärtlich auf die Wange. „Es tut mir leid, Liebes“, fuhr er anschließend fort. „Es war nur … Ich könnte Ines nie wegschicken, auch wenn es noch so gut für sie wäre. Sie würde es nicht verkraften. Nicht in diesem Alter. Sie würde denken, ich liebte sie nicht mehr.“

„Schon gut.“ Sanft, aber bestimmt schob sie ihn von sich. „Entschuldige mich jetzt bitte. Ich bin müde.“ Damit stand sie auf und verließ den Raum.

Seiner sichtlich geknickten Frau mit bedrückter Miene nachschauend, nahm sich Harald vor, in Zukunft mehr mit ihr unternehmen zu wollen. Nun, ein Partylöwe war er nicht und auch kein guter Tänzer. Aber es gab ja auch noch andere Veranstaltungen, die man gemeinsam besuchen konnte. Das Kulturprogramm der Stadt bot eine gute Auswahl. Er musste sich nur angewöhnen, ein oder zwei Tage in der Woche früher nach Hause zu kommen.

*

Obwohl ihr plötzlich mehr Zeit und Aufmerksamkeit vonseiten ihres Mannes geschenkt wurde, suchte Bettina nach einer geeigneten Arbeitsstelle, schrieb dann eine Bewerbung und brachte diese schließlich persönlich zum Empfänger. Da sie nicht nur gute Referenzen vorweisen konnte, sondern auch einen sehr kompetenten Eindruck machte, bekam sie sogleich eine Zusage.

„Ich hoffe, das ist nicht nur so eine Laune von Ihrer Seite“, sprach der Hotelmanager seine Befürchtung kurz vor der Verabschiedung offen aus. „Es würde mir nämlich für die andere Kandidatin leidtun, wenn Sie in ein paar Wochen keine Lust mehr hätten.“

„Keine Sorge“, winkte Bettina mit einem unverbindlichen Lächeln ab. „Ich leide keineswegs an der Langeweile reicher Unternehmergattinnen, die alles ausprobieren, um ihrem Dasein einen Sinn zu geben. Mir geht es wirklich um den Job an sich, weil ich im Grunde ein Arbeitstier bin.“

„Na dann.“ Er reichte ihr die Hand. „Auf Wiedersehen. Und schöne Grüße an Ihren Mann!“

„Werde ich ihm gerne ausrichten“, erwiderte sie beim Hinausgehen.

Stolz, und zum ersten Mal seit langer Zeit wirklich zufrieden mit sich selbst, wartete Bettina voller Ungeduld auf Harald, weil sie ihm die schöne Neuigkeit so bald als möglich erzählen wollte. Als es jedoch immer später wurde, ohne dass er heimgekommen wäre oder zumindest angerufen hätte, beschloss sie spontan, dass sie nicht länger dahocken und vergeblich auf sein Erscheinen hoffen wollte, sondern allein ausgehen würde, um ihren Erfolg zu feiern. Während sie sich dann umzog und ihr Make-up auffrischte, dachte sie einen Moment lang daran, Heidi herüberzurufen, damit diese auf Ines achtgab. Doch schon im nächsten wischte sie diese Überlegung wieder beiseite, weil sie die Frau nicht unnötig belästigen wollte. Das Mädchen schlief bereits tief und fest, redete sie sich ein. Also würde die Kleine gar nicht bemerken, dass man sie allein gelassen hatte. Und selbst wenn Ines wach wurde, sollte das kein Problem werden, denn sie kannte sowohl die Telefonnummer des Vaters als auch die der Haushälterin auswendig.

Sie hatte schon die Hälfte der Strecke zum Stadtzentrum hinter sich, da wurde Bettina schlagartig klar, dass sie unmöglich alleine in eine Bar gehen konnte, weil man sie dort bestimmt erkennen und aufgrund ihrer fehlenden Begleitung falsche Schlüsse ziehen würde. Und Freunde, die sie hätten anrufen können, um sich mit ihnen zu verabreden, besaß sie nicht.

Beim letzten Gedanken biss sich Bettina so heftig auf die Unterlippe, dass es wehtat. Sicher, sie hatte nie jemanden um sich haben wollen, der ihr ständig auf den Fersen klebte und dauernd alle möglichen Probleme mit ihr durchhecheln wollte. Dennoch traf sie die Erkenntnis jetzt wie ein Schlag ins Gesicht, dass sie im Grunde eine Einzelkämpferin war, die zwar einen Ehemann vorweisen konnte, ansonsten aber wie eine Aussätzige dastand, mit der niemand wirklich etwas zu tun haben wollte. Natürlich war Haralds Bekanntenkreis mittlerweile auch der ihre. Trotzdem fand sich nicht eine einzige Person unter den vielen Leuten, die sie als echten Freund hätte bezeichnen können. Man war nett und zuvorkommend zueinander, wenn man sich bei diversen Geschäftsessen oder sonstigen Veranstaltungen traf. Aber aufrichtiges Interesse hegte keiner wirklich für den anderen, denn jeder war mit sich selbst und seinem eigenen Leben so beschäftigt, dass weder Zeit noch Kraft für Anderes blieb. Aber das war nie anders gewesen, erinnerte sie sich bitter. Schon in der ersten Schulklasse hatte ihre überdurchschnittliche Intelligenz sie zur Außenseiterin gemacht. Und später war es ihr gutes Aussehen gewesen, was sie von den anderen Mädchen unterschieden und letztlich auch abgesondert hatte. Allein ihre Arbeitskollegen waren ihr immer freundlich und zuvorkommend, ja, im Grunde fast freundschaftlich begegnet. Und genau das war auch der Grund, warum sie sich mit jeder Faser ihres Herzens danach sehnte, wieder ins Berufsleben einzusteigen!

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