Marathon Woman

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Arnie kennt diesen Irren, dachte ich panisch. Das einzige Geräusch, das ich wahrnahm, war das surrende Klicken der Kameras, dazu kam das Durcheinander des Handgemenges und der leise Schrei eines japanischen Kameramannes: »Eeechai yawoow«, oder so ähnlich. Mir rutschte das Herz in die Hose; noch nie war mir etwas so peinlich gewesen, noch nie hatte ich eine solche Angst gehabt, noch nie war ich derart grob angefasst worden, nicht mal als Kind, und die physische Kraft und die Schnelligkeit der Attacke verblüfften mich. Ich war nicht imstande, die Flucht zu ergreifen, ich stand wie angewurzelt da, was stimmte, denn der Mann, dieser Jock, hielt mich am Pullover fest. Dann zuckte ein orange-gelber Blitz vorbei und riss Jock zur Seite. Es war Big Tom in seinem orange-gelben Sweatshirt. Ich hörte einen dumpfen Stoß – Rumms! – und Jock flog durch die Luft. Er landete am Straßenrand wie ein Haufen zerknitterter Klamotten. Jetzt geriet ich erst recht in Panik. Wir haben diesen Jock umgebracht, es war meine Schuld, auch wenn Tom, dieser Hitzkopf, zugeschlagen hatte. Mein Gott, wir würden ins Gefängnis kommen. Und dann sah ich Arnies Gesicht – es war auch angsterfüllt. Seine Augen waren weit aufgerissen, und er schrie: »Lauft so schnell ihr könnt!« Und das taten wir auch. Ein Adrenalinschub setzte ein und wir rannten die Straße entlang, vorbei an dem Pressewagen, wir rannten wie Kinder, die aus einem Geisterhaus flohen.

Ich war benommen und verwirrt. Noch nie war ich bedroht worden. Die Gewalt ängstigte mich, und ich war schockiert, wie hilflos ich mich ihr ausgeliefert fühlte. Toms präzise Handhabung des Problems, die Art, wie er Jock ausgeschaltet hatte, und zwar nur Jock, war sportlich gekonnt gewesen, aber ich war ihm für die Rettung nicht dankbar. Mein Herz war schwer, er hatte etwas Schlimmes getan. Er war zu weit gegangen. Ich wünschte, Tom wäre nicht mitgekommen, ich wünschte, ich wäre nicht mitgefahren.

Alles schrie durcheinander. Ich hörte die Journalisten auf der Ladefläche des Lasters hinter uns, sie riefen: »Fahrt ihr hinterher. Fahrt ihr hinterher!« Der Fahrer beschleunigte, ließ die Kupplung kommen, ich hörte, wie der Truck einen Satz nach vorn machte und die Kameras, die Stative und die Kurbeln unter den Flüchen der Fotografen durcheinandergewirbelt wurden.


Jock Semple versuchte, mir die Start­nummer vom Rücken zu reißen. Er schaffte es beinahe, da er die rechte obere Ecke zu fassen bekam und sie von der Sicherheitsnadel löste. Die Zahl 261 ist jetzt ein Symbol für Furchtlosigkeit angesichts widriger Umstände – für mich selbst wie für viele andere Frauen.

Alle fluchten, am lautesten Arnie, dieser sanftmütige Freund, der verkündete, er würde diesen Jock Semple umbringen. Der es besser wissen sollte, weil er selbst ein Läufer war! (Arnie lief sogar mit diesem Irren?) Tom sah aus, als käme ihm Qualm aus den Nüstern. Er war immer noch in Kampflaune, und jeder seiner Flüche wurde von einem Hieb in die Luft oder einem drohenden Blick über die Schulter begleitet. John wirkte bestürzt. Mir war übel, ich hatte Angst, dass wir diesen Jock Semple ernsthaft verletzt hätten, vielleicht sollten wir uns nach ihm erkundigen. Denn es war sonnenklar, dass Jock ein Funktionär war und dass er die Kontrolle verloren hatte, und jetzt war er verletzt, und wir hatten ein Problem. Man würde uns verhaften. Diese Angst hatte ich, und ich fühlte mich zutiefst gedemütigt. Einen winzigen Augenblick lang überlegte ich, ob ich aussteigen sollte. Ich wollte nicht, dass dieses Desaster den Ruf des Rennens beschädigte. Aber der Gedanke flackerte nur kurz in mir auf. Wenn ich jetzt aufhörte, würde nie jemand glauben, dass eine Frau fähig war, einen Marathon zu laufen. Wenn ich ausstieg, würde jeder sagen, es sei eine Nummer, nur für die Presse gestellt. Wenn ich jetzt aufhörte, würde ich den Frauenlaufsport zurückwerfen und zwar um Jahre, statt ihn zu fördern. Wenn ich jetzt ausstieg, würde ich nie wieder in Boston laufen. Wenn ich jetzt ausstieg, hätten Jock Semple und seinesgleichen gesiegt. Meine Angst und meine Demütigung verwandelten sich in Wut.


Nach dem Zwischenfall stieg Jock Semple wieder in den neben uns fahrenden Bus und schrie uns an. Arnie Briggs (Startnummer 490) schrie zurück. Mannschafts­kamerad John Leonord (mit Brille) ist bestürzt, mein Freund Tom Miller (390) kocht vor Wut, und ich starre einfach zu Boden. Hinter uns läuft Everett Rice (225), kein Mitglied unserer Mannschaft, aber ebenfalls ein Freund aus Syracuse.

Der Pressewagen holte uns wieder ein und fuhr mit dröhnendem Motor dicht neben uns. Von der Ladefläche aus feuerten die Journalisten nun aggressive Fragen ab, die Fotografen lehnten sich weit vor, schossen Nahaufnahmen. Es kam mir absurd vor, ihre Fragen zu beantworten, während die Kameras mir direkt in die Nasenlöcher fotografierten. Und wie sich ihr Ton plötzlich geändert hatte! Jetzt hieß es »Was willst du damit beweisen?« und »Wann steigst du aus?« Folglich änderte sich auch mein Ton. Ich war zwar höflich, aber nicht mehr freundlich. Ich stellte klar, dass ich nichts »beweisen«, sondern einfach nur laufen wollte, dass ich mich auf die Distanz vorbereitet hätte, dass ich nicht aussteigen würde. Sie notierten, was sie notieren wollten. Sie glaubten mir offensichtlich nicht und fuhren weiter neben uns her, auch als ich ihre Fragen nicht mehr beantwortete und versuchte, sie zu ignorieren. Sie dachten, es handele sich um einen Studentenstreich und wollten den Punkt, an dem ich aufgab, nicht verpassen. Das bestärkte mich nur noch mehr. Und es machte mich noch wütender.

Dann kam der Bus. Auf dem Trittbrett stand Jock Semple, der sich am Außengriff der Tür festhielt! Gott sei Dank, er lebt, dachte ich ­erleichtert. Doch der Bus wurde langsamer, fuhr dann neben uns her, und Jock fletschte wieder die Zähne, schüttelte die Faust und schrie uns in seinem harten schottischen Akzent entgegen: »Ihr werdet großen Ärger bekommen!« Die Männer um uns herum zeigten ihm den Stinkefinger und bedachten ihn mit Obszönitäten. Und Arnie rief: »Hau ab, Jock! Lass uns in Ruhe!« Ich senkte den Kopf – ich würde kein Wort sagen. Meine Mutter hatte mir beigebracht, mit uneinsichtigen oder aggressiven Leuten nicht zu reden, und das hatte sich bis jetzt immer als richtig erwiesen. Der Bus beschleunigte wieder, blies eine stinkende Abgaswolke in unsere Gesichter und fuhr schnell nach vorn, hupte, damit die Läufer Platz machten.

Nach fünfzehn Minuten gab auch der Pressewagen auf, weil die Journalisten kapiert hatten, dass ich nichts mehr sagen und ihnen auch nicht die Befriedigung verschaffen würde, auszusteigen, nur damit sie ein gutes Foto schießen könnten. Die Stimmen versiegten, und ohne die Geräusche des Motors und der Kameras wurde es sehr still. Wir hingen alle unseren Gedanken nach. Ich dachte über alles Mögliche nach, auch darüber, warum wir Frauen uns von Auseinandersetzungen gleich einschüchtern lassen und erst später wütend werden, Männer aber sofort reagieren. Darauf war ich ein bisschen neidisch und ich war froh, dass ich jetzt wütend war, denn ich war sicher, dass es noch nicht ausgestanden war, bei Weitem nicht. Leise sagte ich zu Arnie: »Du weißt schon, dass dieser Jock vorgefahren ist und jetzt möglicherweise dafür sorgt, dass uns einer dieser bulligen ­irischen Polizisten festnimmt, wenn gerade niemand hinsieht?« Ich hatte bisher keinen dieser Iren zu Gesicht bekommen, neben denen sogar Tom klein wirkte. »Wenn das geschehen sollte, werde ich mich wehren, okay? Und noch etwas.« Ich drehte mich und sah Arnie in die Augen. »Arnie, ich weiß nicht, wo genau du jetzt stehst. Aber egal, was passiert, ich muss dieses Rennen beenden. Selbst wenn dir das nicht gelingen sollte, ich muss es schaffen, notfalls auf allen vieren. Wenn ich nicht ins Ziel komme, werden sie behaupten, dass Frauen dazu nicht in der Lage sind, sie werden sagen, dass ich es nur aus Publicity-Gründen getan hätte. Du kannst machen, was du willst, aber ich werde bis zum Ziel laufen.«

»Gut, dann sollten wir jetzt langsamer werden. Denk nicht an die Zeit, nur an das Ziel!« Arnie war nun ganz der Army-Sergeant. »Okay. Alle mal herhören!«, sagte er zu allen in Hörweite. »Lauft langsamer, entspannt euch. Wir haben noch einen langen Weg vor uns. Lockern. Lockert euch!« Wir wurden langsamer und ließen die Arme hängen, schüttelten die Hände aus. Meine linke Hand war eiskalt. Schade, dass ich den Handschuh nicht mehr hatte. Viele Körperstellen brauchen während eines langen Laufs nicht bedeckt zu sein, man friert trotzdem nicht, aber wenn die Hände kalt sind, geht es einem schlecht. Ich versuchte, den Ärmel meines Sweatshirts über die Hand zu ziehen, aber er war nicht lang genug.

Wir passten uns gerade dem von Arnie vorgegebenen Schritt an und entspannten uns allmählich, als Tom, immer noch vor Wut schäumend, plötzlich herausplatzte und mich anschrie: »Du bringst mich in alle möglichen Schwierigkeiten!«

Das kam völlig unvermittelt.

»Wieso denn, Tom?«

»Ich habe einen Funktionär geschlagen, jetzt werden sie mich aus der AAU ausschließen. Ich werde es nie in die Olympiamannschaft schaffen, und das ist deine Schuld.«


Big Tom (Nr. 390) kocht vor Wut, John (dunkles Hemd) ist ebenfalls erregt, Arnie (hinter John) sagt, wir sollten uns beruhigen, und ich denke, dass ich den Lauf unbedingt beenden MUSS. Es war sehr kalt; viele Läufer tragen lange Hosen, Mützen und Handschuhe.

 

Das machte mich traurig und wütend zugleich. »Ich habe den Funktio­när nicht angegriffen, das hast du gemacht, Tom«, sagte ich ruhig. Es war mir peinlich, mich mit ihm vor John und Arnie und den anderen Läufern zu streiten. Ich fand es außerordentlich grob von Tom, mit mir, seiner Freundin, in aller Öffentlichkeit einen Streit anzufangen. Alle waren peinlich berührt.

»Toll. Ja, vielen Dank für diesen Mist. Ich hätte nie nach Boston mitkommen sollen«, schrie er.

»Ich habe dir gesagt, dass du nicht mitkommen sollst! Es war deine Idee.« Jetzt flüsterte ich, damit mich nicht alle um uns herum hörten. Mir wurde wieder schlecht, mir war, als taumelte ich von einem Albtraum in den nächsten.

»Hört sofort auf, ihr beiden!«, sagte Arnie.

Tom riss sich die Startnummern ab, zerfetzte sie, warf sie auf das Pflaster und brüllte: »Ich werde es nie in die Olympiamannschaft schaffen, und das ist nur deine Schuld!« Dann senkte er die Stimme und zischte: »Außerdem lauft ihr mir zu langsam«, und damit lief er los und verschwand zwischen den Läufern vor uns.

Ich konnte mich nicht beherrschen. Ich schämte mich und fing zu weinen an. Wieder einmal hatte Tom mich davon überzeugt, dass ich nur ein Mädchen war, eine Joggerin, und einem Naturtalent wie ihm den Lebens­traum von Olympia versaut hatte. Ich hatte gedacht, ich sei seine Freundin, die er ernst nahm, und ich schätzte, damit war jetzt auch Schluss. Bisher war das Rennen ein Lauf durch die Hölle gewesen, und wir hatten noch zwanzig Meilen vor uns.

»Lass ihn doch. Lass ihn doch einfach. Denk nicht mehr dran. Schüttle es ab!«, schimpfte Arnie. Gehorsam ließ ich die Arme fallen, so wie ich es tausendfach im Training getan hatte und schüttelte die Hände aus. Mit gesenktem Kopf blickte ich zu Boden. Ich wollte nicht, dass jemand mich ansah, und nur so konnte ich meine Wunden in der Öffentlichkeit lecken. Ich spürte, dass ich an einem Tiefpunkt angekommen war. Das ging uns allen dreien so, ich fühlte direkt, wie die Müdigkeit uns hinunterzog. Selbst ich wusste, dass der Adrenalinschub vorbei war. Gott, was würde ich darum geben, einfach ein wenig zu schlafen, dachte ich. Mir war inzwischen alles egal, auch Tom, ich wollte nur noch ankommen. Mir war auch egal, wie groß und wie anhaltend der Schmerz sein würde und ob ich ihn aushalten könnte, ob ich ins Gefängnis käme oder sterben müsste. Ich würde ankommen, egal wie. Wir schwiegen lange.

Ein paar Meilen später nahmen wir nach und nach wieder etwas wahr, wie beim Erwachen aus einer Narkose. Die Energie kam zurück; wir waren durch ein Tief gelaufen und hatten uns dabei erholt, jetzt wurden wir wieder stärker. Ein erstaunliches Gefühl. Nun hörten wir manchmal schwachen Beifall, das war wirklich sehr angenehm, und wir winkten zurück. Es gab kaum Zuschauer, denn das Wetter war so schlecht, dass niemand auf die Letzten des Läuferrudels wartete. Ich spürte, dass meine durchweichte Trainingshose mich behinderte, also zog ich sie am Straßenrand aus und warf sie weg. Ein etwa achtjähriger Junge stürzte sich auf die Hose, hob sie hoch, schwenkte sie über seinem Kopf und schrie vor Freude über sein Souvenir. Wir drei sahen uns an und in unseren Gesichtern stand: »Könnt ihr euch vorstellen, was seine Mutter sagt, wenn er die mit nach Hause bringt?«

Wir sahen jetzt viele Orangenschalen auf der Straße, ein sehr seltsamer Anblick. Als ich Arnie danach fragte, sagte er, »Oh, die waren für die Spitzen­läufer.«

»Heißt das, die besten Läufer bekommen Orangenscheiben?!« Ich war erstaunt über dieses Privileg. »Warum haben sie nicht für alle Läufer Orangen?«

»Die sind nur für die Schnellsten, für die richtigen Wettkämpfer.«

»Du hast also, als du in den Fünfzigern Rennen gelaufen bist, auch Orangen­scheiben bekommen?«

»Ja, und Schwämme und Wasser.«

»Das müssten alle Teilnehmer bekommen. Sollte ich je einen Lauf organisieren, werde ich dafür sorgen.«

»Naja, am Ziel bekommt jeder Eintopf mit Rindfleisch«, sagte Arnie.

John und ich lachten. »Warum, Arnie«, sagte ich, »weiß ich, dass wir keinen Eintopf bekommen werden?«

Er grinste verlegen. »Er ist sowieso nicht gut, weil er aus der Dose ist.«

»Igitt! Ich hasse Doseneintopf!«, sagte John.

»Wer will denn Eintopf nach einem Marathon?«, fragte ich. »Wer kommt denn auf solche Ideen?«

»Es hat was mit Tradition zu tun«, sagte Arnie, »aber du hast recht, an heißen Tagen bekommen viele davon Bauchschmerzen.«

Es gab so manches an diesem großartigen Rennen, was mir einfach schrullig vorkam.

Nach ungefähr zehn Meilen, in Natick Center, ging es uns wieder gut, wir rissen sogar Witze und erzählten uns Geschichten. Am Straßenrand parkte ein Lastwagen mit einer großen Aufschrift an der Seite: SNAP-ON TOOLS. Mir fiel dazu ein schmutziger und ausgesprochen kindischer Witz ein, den ich irrsinnig komisch fand, und John und ich mussten so lachen, dass wir Seitenstiche bekamen. Arnie verstand ihn nicht, was wir noch komischer fanden. Aus der Zuschauermenge auf dem Seitenstreifen rannte ein jüngerer Mann auf uns zu und rief: »Arnie, Arnie!« Er joggte in Leder­schuhen und Regenmantel mit uns mit. Er hieß Jimmy Matthews und war vor wenigen Jahren Arnies Schüler gewesen, als er noch in Syracuse am Lemoyne College studiert hatte. Jimmy wohnte jetzt in der Nähe von ­Wayland, und er himmelte Arnie an, so als würde Jesus Christus persönlich die Main Street von Natick entlangjoggen. Trotzdem schalt er Arnie, weil er ihm nicht Bescheid gesagt hatte, dass wir nach Boston kämen, und dann schlug Jimmy vor, uns am Ziel abzuholen und uns zu unserem Auto zurückzufahren. Das war in jeder Hinsicht ein großzügiges Angebot, das wir bereitwillig annahmen, schon allein deswegen, weil Arnie offenbar keinen Plan hatte, wie wir nach Hopkinton zurückkommen würden. Dann rannte Jimmy vor, drehte sich um und machte einen Schnappschuss.


Auf halber Strecke ließen wir Tom hinter uns. Ein paar Meilen später, wir waren völlig durchnässt und uns war kalt, ist John müde. Hier schimpfe ich mit ihm: Er habe zu viele lange Trainingsläufe ausgelassen. Wir kannten die Startnummer 690 nicht, Patrick Mahady, aber er war sehr freundlich und lief eine Zeit lang mit uns.

Jetzt waren wir an den berühmten Wellesley Bergen angekommen, wo, laut Arnies Theorie, »das Rennen begann«. Ich überlegte, wie ich mich auf dieser hügeligen Strecke verhalten würde – ob diese Studentinnen vom Wellesley College uns zujubelten und was sie von mir hielten – , als ich auf der Kuppe des nächsten Hügels vor uns etwas Orangefarbenes aufblitzen sah. Nein, das konnte nicht sein … oder doch? Auf diesem Streckenabschnitt verlief die Straße mal bergauf, dann wieder bergab, und die Landschaft war so grau und nass, dass die einzigen Farben von den Schildern der Geschäfte kamen oder von der Regenkleidung eines Zuschauers. Und es gab nicht viele Zuschauer. Die Farbe Orange stach mir jedenfalls ins Auge. Ich konnte an nichts anderes denken als daran, was passieren würde, wenn ich bei der nächsten Steigung oben ankäme, und ehe ich mich versah, waren wir schon dort. Wir blickten hinunter auf die Läufer vor uns, und einer, ein großer, in einem orangefarbenen Sweatshirt, lief nicht, er ging.

»Mist«, dachte ich. »Die nächste Katastrophe.«

»Hey! Ist das nicht Tom da vorne?«, zirpte Arnie.

»Das sieht ganz nach Tom aus«, ergänzte John geradezu trällernd.

Ich sagte nichts. Natürlich ist das Tom, ihr Trottel, ich habe ihn längst gesehen.

Da ich nichts sagte, schrie Arnie, als wäre ich taub: »Hey, ich wette, das ist Tommy!«

Herrgott noch mal, Arnie! Ich hätte ihm am liebsten eine gescheuert. Doch ich sagte noch immer nichts. Sie verstanden und wurden still. Schlapp, schlapp, schlapp machten unsere Füße. Das orangefarbene Sweatshirt kam näher und näher.

Arnie hielt es nicht mehr aus. Schließlich erklärte er: »Ja, das ist Tom. Definitiv.« Ich warf Arnie einen langen Blick zu, der besagen sollte: oh, bitte, bitte. Und er sagte: »Okay, okay!« Die nächste halbe Meile rannten wir, ohne ein Wort zu wechseln, und dann waren wir bei Tom, liefen an ihm vorbei.

»Hey, Tom, wie gehts dir?«, sagten wir und versuchten, ganz normal zu klingen.

Tom machte einen Satz, als hätten wir ihn mit einer Elektrode berührt. Dann rannte er los und tat so, als wäre er die ganze Zeit gelaufen. Ich hätte beinahe laut gelacht, er wusste nicht, dass wir ihn schon lange beobachtet hatten.

Dann ging er wieder und sagte: »Puh! Ich bin müde! Ich muss einfach ein bisschen gehen.«

»Ja, es ist sehr weit«, sagte ich trocken. Die Männer sagten nichts. Da wir weiterliefen, musste Tom wieder joggen, um mit uns mitzukommen.

»He«, sagte er atemlos. »Geht mit mir ein Stück. Ich bin in einer Minute wieder okay.«

»Nicht gehen. Du gehst nicht!«, flüsterte Arnie mir wütend zu.

»Um Himmels willen, nein. Ich werde nicht gehen, Arnie«, flüsterte ich zurück. Tom ging wieder. Ich lief vor ihm.

»Hey, Tom. Ich kann nicht mit dir gehen«, sagte ich entschuldigend.

»Oh, mach schon, ich fange mich wieder!«

»Tom, ich kann nicht gehen. Ich laufe zwar sehr langsam, aber ich habe meinen eigenen Schritt.« Da ich den letzten Satz sehr sarkastisch gesagt hatte, fügte ich etwas freundlicher hinzu: »Du bist ein talentierter Athlet, und du kannst dich wieder fangen. Wenn ich jetzt gehe, werde ich mich nicht mehr fangen können.« Selbst das klang herablassend und das sollte es auch. Offen gesagt: Wenn einer bei Meile 13 eines Marathons bereits gehen muss, sollte er ein Taxi rufen. Er wird sich nicht wieder fangen.

Tom versuchte, wieder zu laufen, und dann sagte er: »Pffffft.« Ich lief jetzt rückwärts, redete weiter mit ihm, sagte: »Hör mal, es gibt einen Besenwagen, der die Verletzten und die Lahmen einsammelt. Aber da du ein sportliches Naturtalent bist«, ich konnte nicht widerstehen, es noch einmal auszusprechen, »wirst du dich möglicherweise wieder fangen und uns wieder überholen. Aber falls aus irgendeinem Grund nicht, nimm den Besenwagen, und wir sehen dich im Ziel!« Ich drehte mich um und holte Arnie und John ein. Ich blickte über die Schulter zurück. Tom ging am Straßenrand und sah aus wie ein bockiges Kind. Dann, schwupps, waren wir weg. Etwas später hörte ich wie aus weiter Ferne seinen Ruf: »Ich wäre immer bei dir geblieben!«

Den Rest des Laufs sah ich wie durch ein Verkleinerungsglas, als ferne Vignetten, denn ich hing meinen Gedanken nach und gab mich dem Rhythmus der Bewegung hin. Ich brauchte diese Meilen, um mir über alles klar zu werden. Ich spürte, wie meine Wut verrauchte, je länger ich lief – man kann nicht laufen und wütend bleiben. Wie immer drehte und wendete ich die Ereignisse in meinem Kopf, bis ich eine Antwort fand. Warum hat Jock Semple dermaßen auf mir herumgehackt? Nur weil ich eine Frau bin, oder war er einfach müde und hatte überreagiert? Nein, ­sicher hatte er gedacht, ich wollte, wie andere verrückte Typen, eine Posse abziehen und sein Rennen lächerlich machen. Er hätte es besser wissen müssen. Ich war eine Läuferin, hatte kein Reklameschild mit, auf dem »Wenn ­Pizza, dann Joe’s« stand, oder dergleichen. Und wenn er wirklich außer sich vor Wut gewesen war? Wir könnten von einem dieser

Polizisten an einem Punkt geschnappt werden, an dem wir zu müde waren, um uns zu wehren. Er würde diesen Punkt kennen. Ich musste also höllisch aufpassen. Dann überlegte ich, warum ich die einzige Frau in dem Rennen war. Frauen ­verstehen es eben nicht. Sie sind einfach nicht daran interessiert, deshalb gibt es zwischen Syracuse und anderen großen Colleges keine sportlichen Wettkämpfe für Frauen. Und deshalb bekommen wir auch keine Sportstipendien und keine Preisgelder. Herrgott noch mal, das macht mich verrückt! Wenn Frauen noch nicht mal an Fitness interessiert sind, dann werden sie mit Sicherheit auch nicht scharf darauf sein, einen Marathon zu laufen. Ach, wenn sie doch nur wüssten, wie herrlich Laufen ist, dann würden sie damit anfangen. Und wenn wir viele wären, könnten wir unsere ­eigenen Laufveranstaltungen haben! Ja. Genau. Wie kommt es also, dass ich mich dafür interessiere, wie kommt es, dass ich meine physischen Fähigkeiten ausloten will und sie nicht? Warum bin ich so verdammt einzigartig? An dem Tag jedenfalls fühlte ich mich nicht einzigartig.


Alle Männer, die uns überholten oder an denen wir vorbeiliefen, gaben uns viel Zuspruch.

 

Wir hatten gerade die Steigung bei Meile 16 passiert, die die Route 128 kreuzt. Ich wurde aus dem Strom meiner Gedanken gerissen, denn der Anstieg ist steil. Ich sagte: »Mist, und das ist noch nicht mal Heartbreak Hill«, und Arnie erwiderte: »Nein, in keiner Weise.«

Oft wurden wir von Männern überholt oder wir überholten welche, mit denen wir uns kurz freundschaftlich unterhielten. Alle freuten sich über uns, auch wenn es nicht ihr Tag war und es ihnen schlecht ging. Manchmal legten wir eine Meile gemeinsam zurück; meistens sprachen wir uns gegenseitig Mut zu, und jeder hatte ein aufmunterndes Wort für mich. Ihre positive Ernsthaftigkeit war anrührend. All diese Männer empfand ich als beste Freunde, denen ich mein Leben anvertraut hätte, so stark waren meine Gefühle. Weil sie mich verstanden. Vielleicht war es wie in einem Kampf. Mit dem Unterschied, dass wir niemanden verletzen konnten. Es war viel besser. Es war wie eine Suche, genau, es war wie die Suche nach dem Heiligen Gral. Ich konnte es nicht genau benennen, aber diese Bezeichnung kam meinen Gefühlen am nächsten. Ich habe bis heute keinen passenden Begriff gefunden, aber jeder Läufer wird wissen, was ich meine.


Direkt nach der ­Feuerwache in Newton, etwa bei Meile 18, laufen wir auf die berüchtigten Newton Hills zu. Heartbreak Hill kommt gleich nach Meile 20.

Hin und wieder applaudierte ein unermüdlicher Zuschauer frenetisch und riss mich aus meinen Träumen. Ganz selten war es eine Frau, die schrie: »Weiter so, Liebes, lauf für uns alle!« Meistens aber sahen die Zuschauerinnen erstaunt aus, als wüssten sie nicht, wie sie auf mich reagieren sollten. Die Männer neben ihnen applaudierten enthusiastisch, aber die Frauen hielten im Klatschen inne, als fürchteten sie, ihrer Meinung Ausdruck zu verleihen. Ich wollte ihnen zurufen: »Ja, wir sind bei Meile 18, und ich bin bis hierher gelaufen. Und ja, ich laufe die ganzen sechsundzwanzig Meilen. Frauen können es.« Doch ich fragte mich, warum machen sie nicht selbst mit? Die Gesichter der Frauen drückten ein ganzes Bündel von Emotionen aus – Angst, Wut, Zurückhaltung, Ungläubigkeit, Freude, Inspiration, Hoffnung. Und dann kam die Erleuchtung. Diese Frauen nahmen an dem Rennen nicht teil, weil sie tatsächlich an den Mythos von der Schwäche und der begrenzten Leistungsfähigkeit der Frauen glaubten. Sie glaubten es, weil sie keine Gelegenheit hatten, etwas dagegenzusetzen. Deshalb musste ich ihnen wie ein Wesen von einem anderen Stern vorkommen. Ich führte ihnen etwas Unvorstellbares vor. Und war doch eine von ihnen.

Herrgott noch mal, ich war gar nichts Besonderes! Wie dumm von mir, das überhaupt je gedacht zu haben! Geradezu unglaublich dumm. Ich hatte einfach Glück gehabt. Glück, dass ich in Amerika lebte und nicht an einem Ort, wo sich Frauen von Kopf bis Fuß verschleiern müssen! Glück, weil mein Vater mich zum Laufen ermutigt hatte und meine Mutter einen Beruf ausübte. Glück, weil es in meiner Highschool ein Feldhockeyteam für Mädchen gab. Glück, weil man mich in Lynchburg gebeten hatte, eine Meile zu laufen. Und sehr großes Glück, weil ich Arnie kennengelernt hatte. Denn den meisten fast zwanzigjährigen Frauen würde es nie einfallen, sich auf eine sportliche Herausforderung zu konzentrieren, weil man ihnen schon mit acht Jahren eintrichterte, dass sie von nun an nicht mehr auf Bäume klettern sollten, und wenn sie zwölf waren, flüsterte ihnen irgendjemand zu, dass sie nun aufpassen müssten, sich beim Sport nicht zu verletzen, und schließlich würde irgendjemand ihnen weismachen, dass es cooler sei, um Jungs herumzuscharwenzeln, statt etwas für sich selbst zu tun. Sie brauchten lediglich die Gelegenheit, aktiv zu werden. Sie mussten diese Freiheit, diese Kraft einfach kennenlernen, sie mussten sie spüren, sie mussten diese Geheimwaffe selbst spüren, es genügte nicht, darüber zu sprechen, da kann man reden, bis man schwarz wird. Wenn es für Frauen ein Laufereignis gäbe, das Frauen ganz selbstverständlich willkommen hieße, sie nicht einschüchtern würde, unabhängig davon, wie schnell oder wie langsam sie liefen, dann würden sie daran teilnehmen. Das muss ich erreichen, dachte ich.

Das Laufen hat mir sehr viel gegeben. Das wollte ich den Frauen erzählen! Es ist wichtig, diese Erfahrung weiterzugeben. Dad ist der Meinung, etwas Gutes weiterzugeben, das sei die beste Art, sich zu bedanken. Außerdem fühlte ich mich dazu verpflichtet, ich fühlte mich verantwortlich. Das könnte einen Wirbel verursachen. Ich hatte es nicht beabsichtigt, aber es hatte sich so entwickelt, und jetzt würde ich es einlösen, indem ich diesen Lauf beendete und dann nach Möglichkeiten suchte, Frauen zum Laufen zu bringen. Es würde nicht leicht sein, weil Frauen nicht wissen, dass sie diese Chance brauchen. Sie sehen ihre Chancen in anderen Bereichen – zum Beispiel in der Arbeitswelt –, aber Laufen ist eine todsichere Möglichkeit, etwas schnell und instinktiv zu begreifen. Ich würde zu einem Johnny Appleseed werden müssen, jenem sagenumwobenen amerikanischen Pionier des achtzehnten Jahrhunderts, der als Missionar durch den Mittleren Westen zog, Apfelbäume pflanzte und mit Indianern und Sklaven Freundschaft schloss.

Obwohl mein Körper jetzt langsam Schmerzen empfand, gingen mir so viele Gedanken durch den Kopf, als hätte ich literweise Kaffee getrunken. Erinnerungsfetzen blitzten wie in einer Diashow in mir auf, lang vergessene Kindheitserinnerungen oder erfundene Szenarien. Heute war alles anders. Während ich den Tag sezierte, stürmten neue Bilder auf mich ein, zukünftige Möglichkeiten, erstaunlich schicksalhaft. Mein Leben breitete sich vor mir aus wie eine Straßenkarte.

Ich fühlte mich gleichzeitig beschwingt und sehr alt. Ich hatte die Lösung gefunden, was wunderbar war, aber ich wusste, dass viel Arbeit vor mir lag. Zu der auch gehörte, dass ich eine bessere Läuferin wurde. Niemand würde mich mit meinem jetzigen Tempo als Sportlerin ernst nehmen, und ich müsste viel trainieren, um meine Zeit zu verbessern. Arnie versicherte mir immer, dass aus mir eine gute Läuferin werden könnte, aber das war nur Arnies Meinung, der mich anfeuern wollte. Ich glaubte nicht, dass ich sehr gut laufen könnte, aber ich könnte besser laufen und verdammt, das würde ich versuchen! Ich war schon zwanzig, und man behauptete, ich sei damit zu alt für den Leistungssport. Obwohl ich das keine Minute glaubte, wusste ich doch, dass ich nicht mehr viel Zeit hatte.

Jimmy Matthews kam noch einmal mit seinem Fotoapparat auf die Laufstrecke, fotografierte und bejubelte uns. Wir lachten und winkten. Ich war wieder zurück in der Gegenwart und spürte, dass sich in meinen Hüften jetzt dieser stechende Schmerz ausbreitete. Meine Fußgewölbe waren butterweich, und ich wusste, dass einige große Blasen bald aufgehen würden. Aber ich kam damit klar. Der Schmerz war ein Nichts. Ein Nichts. Es machte mich zur Heldin, dass ich lief, dass ich den Schmerz überwand, ihn als nebensächlich einstufte, um eines höheren Zieles willen. Arnie hatte erzählt, dass Emil Zátopek, der legendäre tschechische Läufer, trainierte, bis er umfiel. Das war beeindruckend, aber warum eigentlich? Blödsinn. Wie weit war es noch? Ich wollte nicht fragen, um nicht als Jammerlappen zu gelten. Deshalb fragte ich: »Arnie, wann kommen wir zum Heartbreak Hill?« Arnie wirkte erstaunt. »Wieso, den haben wir schon lange hinter uns!«

»Wirklich? Himmel, den habe ich verpasst. Warum hast du uns nicht darauf aufmerksam gemacht?« Ich war richtig enttäuscht. Ich hatte gedacht, oben würde jemand wie ein Herold mit der Trompete stehen. Tatsächlich gibt es heutzutage einen Typen, der als selbst ernannter Erzengel mit ­einem Megafon dort steht und verkündet: »Du hast es geschafft, du hast den Gipfel von Heartbreak Hill erreicht!« Aber damals kam mir der Hügel nicht anders vor als die anderen Steigungen.

Arnie lächelte und schüttelte den Kopf: »Du bist der erste Mensch, der nicht merkt, dass er gerade über den Heartbreak Hill gelaufen ist!« Es klang, als wäre er sehr stolz auf mich. In Wahrheit war Heartbreak Hill, wo immer er gewesen sein mochte, mickrig, verglichen mit den Steigungen, die wir im Training in der Gegend von Pompey gelaufen waren oder im Vergleich zu der bei Meile 16.

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