Marathon Woman

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Ich war also an dem Abend, als wir die Schuhe kauften, überrascht und geschmeichelt, als Big Tom mich fragte, ob er mich noch zum Dinner einladen dürfe, und er war plötzlich zugänglicher, weniger unerreichbar und sehr interessant. Er schüchterte mich immer noch ein, schließlich war er die Sportskanone, vier Jahre älter als ich und wusste mehr über Sport als alle Menschen, die ich kannte. Er erzählte mir von seinen Plänen, an den Olympischen Spielen teilzunehmen, das war sein ehrgeiziges Ziel, aber er fühlte sich von der AAU, der nationalen Sportkommission, eingeschränkt. Die AAU organisierte die Wettkämpfe, in denen die Sportler sich für Olympia qualifizierten, wir hatten nur diese eine Stimme in der IAAF, dem internationalen Leichtathletikverband der Amateure, und dieser Verband wiederum war als einziger stimmberechtigt im Internationalen Olympischen Komitee (IOC). Die AAU war übermächtig, und ihre Regeln für Amateure hielten Tom davon ab, mehr mit seinem Sport zu verdienen als ein studentischer Assistenztrainer in Syracuse. Er erzählte mir Horror­geschichten von der AAU, die Sportler nach der geringfügigsten Übertretung ausgeschlossen hatte. Man musste die Regeln haargenau einhalten, um nicht als Profisportler eingestuft zu werden und nie wieder als Amateur­wettkämpfer antreten zu dürfen. Das war wirklich tragisch, denn niemand hatte so viel Geld, um zu Wettkämpfen anreisen oder sich eine anständige Ausrüstung kaufen zu können oder, und das war das Schlimmste, so viel Zeit zu haben, um richtig trainieren zu können. Sein Traum, sagte er, sei es, ein paar Jahre zu haben, in denen er einfach nur trainieren dürfte, dann wäre er mit Sicherheit ein Olympionike. Wow, ich war beeindruckt. Innerhalb weniger Wochen wurden wir ein »Paar«.

Kurz vor den Weihnachtsferien kam ich eines Tages nach meiner letzten Vorlesung um 16.05 Uhr aus dem Hörsaal und war so müde, dass ich vor dem Abendessen nur noch ins Bett fallen und ein bisschen schlafen wollte. Es war schon fast dunkel und es schneite heftig. Arnie stand mit dem Auto vor der Tür, er parkte im absoluten Halteverbot und hielt unruhig nach mir Ausschau. Er hoffte, mich unter der Menge der Studenten zu finden, ehe die Campuspolizei ihn zum Weiterfahren auffordern konnte.

Ich hasste seine Beharrlichkeit. Ich hasste sogar ihn. Wir hatten uns nicht für heute verabredet, er war einfach gekommen, weil er wusste, wann meine letzte Vorlesung zu Ende war und ich ihm nicht entkommen konnte. Missmutig stieg ich ein, er dagegen war bestens gelaunt. »Hast du deine Sachen dabei?« Er war immer bereit, so wie ein Hund, der immer begeistert nach dem Stöckchen rennen will. Ich schämte mich sofort für diesen Gedanken, aber ich wollte nicht weich werden. »Ich laufe heute Abend nicht, ich bin einfach zu müde«, erklärte ich schnippisch. »Ich habe meine Sachen auch nicht mit, sie sind im Wohnheim.« »Ohhh, oh«, lamentierte er, als ob ich ihm eine große persönliche Enttäuschung bereitet hätte! Ich mochte es nicht, wenn Arnie jammerte, und er jammerte ständig. Es war seine Entscheidung gewesen, im Auto weiß Gott wie lange zu warten, nicht meine. »Wie wäre es mit einem lockeren 6-Meilen-Läufchen, damit bist du im Handumdrehen fertig«, schlug er vor.

Ich zankte mich mit ihm, bis ich merkte, wie kindisch ich mich verhielt und wie viel Zeit ich verschwendete. Ich konnte genauso gut Laufen gehen, ich würde sowieso keinen Schlaf mehr bekommen, da die Studenten schon in den Speisesaal strömten, also schnappte ich mir meine Lauf­sachen, und wir fuhren zur Sporthalle, um uns umzuziehen. Wegen meines Zögerns hatten wir fast eine Stunde verloren, und ich war nicht nur beschämt, sondern auch wütend auf mich selbst, weil ich immer zu wenig Zeit hatte. Wir würden uns beeilen müssen, damit der Speisesaal nicht schloss, bevor wir vom Laufen zurückkamen, und so wie die Dinge jetzt standen, würden sowieso nur noch die letzten festgebackenen Reste ­irgendeines Auflaufs in den Töpfen übrig sein. Das machte mich noch wütender auf Arnie.

Als wir aus der Hintertür der Sporthalle in die Colvin Street kamen, lag der Schnee bereits zehn Zentimeter hoch, und die Reifenspuren der Autos waren trotz der Rushhour fast sofort wieder zugeschneit. Zunächst bahnten wir uns auf einer einzigen Spur am Straßenrand den Weg, fanden unseren Rhythmus neben den vorbeisausenden Autos und Scheinwerfern entlang der Kurven und Unebenheiten der Straßen, die wir nicht mehr sehen konnten, die uns aber sehr vertraut waren. Der Schnee trieb hinter uns her, wurde über unsere Köpfe geweht und wogte vor uns wie ein flatterndes Segel, das von den Straßenlaternen herunterhing. Die Autos fuhren in den Schneesturm hinein und ich wusste, dass sie weder deutlich sahen, wohin sie fuhren, noch uns rechtzeitig bemerkten. »Was für ein blödsinniger Abend zum Laufen, wir werden möglicherweise umgefahren, aber das kann mir jetzt auch egal sein!«, dachte ich damals.

Als wir uns dem Golfplatz näherten, wurde die Straße ländlicher, es gab kaum noch Verkehr, wir rannten Seite an Seite, im Gleichschritt. Wir konnten ein paar Meter weit sehen, deshalb hatten wir Zeit, die Straße zu verlassen, wenn ein Auto sich näherte. Ich fühlte mich sicherer, war aber immer noch sehr nervös und lief verkrampft. Der beste Teil des Laufens war, wenn die Anspannung verschwand, wenn sie verflog in dem Strom der unzusammenhängenden Gedanken und Ängste und ich frei und ­locker lief. Das geschah immer dann, wenn ich es zuließ oder einfach nur lange genug lief. Aber an jenem Abend hatte ich schlechte Laune, und aus ­irgendeiner selbstzerstörerischen Anwandlung heraus wollte ich auch schlecht gelaunt sein. Ich rannte und schlug auf die Luft ein wie ein Boxer. Arnie spürte das und wollte eine Unterhaltung in Gang bringen, hörte von mir aber nur einsilbige Antworten oder ein Grunzen. Trotz dieser weißen grenzenlosen Weite fühlte ich mich wie in einem Gefängnis, in dem ich unerträglich lange mit diesem Mitgefangenen eingesperrt war. Doch statt einfach den Mund zu halten und zu laufen, machte Arnie das, was bei mir unter Garantie ankam: Er erzählte noch eine Geschichte von einem seiner fünfzehn Boston-Marathon-Rennen. Es war seine Art, mir zu verstehen zu geben, dass es kein guter Abend für einen Lauf war, dass er wusste, wie müde ich war, aber schau, jetzt sind wir hier, also lass uns das Beste daraus machen.

Als wir uns der Ecke am oberen Ende der Peck Hill Road näherten, blies uns der Sturm ins Gesicht. Der Schnee lag jetzt an die fünfzehn Zentimeter hoch und war nass. Nicht pulvrig-griffig, wie Schnee für einen guten Lauf sein kann. Noch schlimmer war, dass die Straße wieder schmal war, ohne einen richtigen Randstreifen, und wenn Autos kamen, mussten wir zur Seite springen und rutschten in den Straßengraben. Die Flocken waren so dick und nass, dass sie an Nase und Wimpern kleben blieben. Es war fast dunkel, und die Welt sah aus wie in Gaze verpackt. Scheinwerfer, die näher kamen, wirkten wie diffuse Streifen. Wir rannten wieder hintereinander, kullerten übereinander, wenn es bergab ging, und traten uns bergauf in die Hacken. Wenn Autos kamen, war Arnie so intensiv in seine Geschichte von Boston vertieft, dass er nicht zur Seite sprang. Im Gegensatz zu mir. Als ob ich plötzlich zum Leben erwacht wäre und doch noch nicht sterben wollte. Dann musste ich ihm schlitternd hinterherrennen; meine neuen Schuhe waren noch nicht eingetroffen, und meine schwarzen Stofftennisschuhe waren wie Wasserflugzeuge. Die Autofahrer, die uns begegneten, fuhren hektisch. Nun ja, ich mache euch Schwächlingen keinen Vorwurf, dachte ich im Stillen. Jeder, der an diesem Abend unterwegs ist, aus welchem Grund auch immer, ist dumm, aber bei diesem Wetter zu laufen, das ist unfassbar dumm. Und neben mir lief Arnie und plapperte vergnügt vor sich hin, als gäbe es keine Krise. Schließlich schrie ich ihn an: »O ­Arnie, wir wollen jetzt nicht mehr von diesem Marathon reden, lass uns das verdammte Ding laufen!«

Er war so überrascht, dass er sich zu mir umdrehte und allen Ernstes sagte: »Oh, eine Frau kann den Boston Marathon nicht laufen.«

»Und warum nicht?«, fragte ich.

»Ein Marathon ist sechsundzwanzig Meilen und dreihundertfünfundachtzig–«

»Ich WEISS, wie lang ein Marathon ist, Arnie. Warum soll eine Frau ihn nicht laufen können?«

»Auf Frauen trifft das Gesetz vom abnehmenden Ertrag zu.«

»Und was bedeutet DAS genau?« Arnie konnte mich wirklich auf die Palme bringen. Er benutzte häufig Begriffe wie Die Theorie der Osmose oder Die Lehre der Thermodynamik, um mir etwas zu erklären, was ich meistens ziemlich witzig fand, da das eine nichts mit dem anderen zu tun hatte, aber an diesem Abend war ich nun mal schlecht gelaunt.

»Weil ein Marathon immer schwerer wird, je länger er dauert.« Jetzt behandelte er mich wie eine Dumpfbacke.

»Und?«

»Frauen schaffen diese Entfernung nicht, sie können nicht so weit laufen«, sagte er. Er meinte das weder entschuldigend noch herablassend noch einschüchternd. Es war einfach eine Tatsache.

»Aber ich laufe jeden Abend sechs Meilen mit dir! Du erzählst mir ständig, wie gut ich deiner Meinung nach bin, was für Fähigkeiten ich habe! Und jetzt willst du mir weismachen, dass ich physisch nicht in der Lage bin, einen Marathon zu laufen?«

»Ja, das will ich, denn zwischen zehn Meilen und sechsundzwanzig Meilen liegt ein großer Unterschied.«

»Tja, Arnie, da liegst du falsch. Im vergangenen April ist eine Frau in Boston die Strecke gelaufen, sie heißt Roberta Bingay, und sie war sehr gut. Sie lief etwa drei Stunden und zwanzig Minuten«, sagte ich schroff. Ich hatte meine Trumpfkarte ausgespielt, war aber auf seine Reaktion nicht vorbereitet. Arnie explodierte, und das jagte mir ein wenig Angst ein, denn ich hatte ihn noch nie wütend erlebt. Er blieb stehen (was er sonst nie machte) und brüllte: »Keine Dame ist je den Boston Marathon gelaufen! Dieses Mädchen ist erst in Wellesley eingestiegen.«

 

»Sie ist ihn doch gelaufen. Das weiß ich, weil ich es in Sports Illustrated gelesen habe.« Ich betonte den Namen der Zeitung, denn was in Sports ­Illustrated stand, war für mich so, als stünde es in der Encyclopaedia Britannica.

»Ich sage es noch mal, keine Frau ist je einen Marathon gelaufen.« Schweigen. Wir schneiten immer mehr ein, und ein paar Autofahrer, die uns zu spät sahen, rutschten fast in uns hinein. »Okay, weiter«, sagte er mürrisch.

»Ich laufe erst wieder mit dir, wenn du glaubst, dass eine Frau Marathon laufen kann«, sagte ich ruhig.

»Los, lass uns weiterlaufen.«

»Nein, Arnie. Du musst doch zugeben, dass Frauen körperlich dazu in der Lage sind. Vielleicht traust du es Bingay nicht zu, schön und gut. Aber IRGENDEINER Frau. Ich kann mit dir nicht mehr laufen, wenn du nicht davon überzeugt bist, dass eine Frau es schaffen kann. Das ist wichtig.«

Arnies Antwort kam schnell und unmissverständlich. Ich war überrascht. Später kam mir der Gedanke, dass er darüber schon viel nachgedacht haben musste, vielleicht schon seit Monaten.

»Wenn eine Frau den Marathon laufen kann, dann bist du es, denke ich. Aber selbst du müsstest es mir beweisen. Wenn du mir im Training zeigst, dass du die Distanz schaffst, also ich wäre der Erste, der mit dir zum Boston Marathon fährt!«

»Okay«, sagte ich und grinste. »Du bist wieder dabei!« Und wir machten uns auf den Heimweg. Müdigkeit und schlechte Laune waren verflogen. Auf dem Rückweg machte Arnie nur noch Pläne, er skizzierte grob, wie wir trainieren würden, dass wir nur drei Monate Zeit hätten, es aber vielleicht schaffen könnten. Ich grinste nur. »Heilige Sch...«, dachte ich. »Ich habe einen Trainer, einen Partner, einen Plan und ein Ziel – das größte Rennen der Welt. Boston! Boston!«

Kapitel 5 »Du wirst das Mädchen noch ruinieren, Arnie!«

Am nächsten Sonnabend, bevor ich zu Weihnachten nach Hause fuhr, machten Arnie und ich den ersten »langen Lauf« unseres Plans für Boston. Elf Meilen. Ich war wie in Ekstase. Zum ersten Mal war ich über zehn Meilen gelaufen, was mir ein riesiger Sprung nach vorn zu sein schien, als wäre ich in die nächste Liga vorgestoßen. Es ist merkwürdig, was Laufen bewirkt. Nur eine Meile mehr kann einem das Gefühl geben, etwas ganz Besonderes zu sein.

Der Trainingsplan für Boston war ganz einfach: Wir liefen weiterhin täglich sechs bis zehn Meilen und machten dann am Sonnabend oder Sonntag einen »langen Lauf«. Wir hatten uns vorgenommen, die Strecke jeden Sonntag um zwei Meilen zu steigern. Wenn ich aus den Weihnachts­ferien zurück wäre, hatten wir noch zwölf Wochen, was bedeutete, dass wir auch mal ­einen Tag auslassen könnten. Wenn ich heute zurückblicke, wird mir klar, dass ich damals nie richtig über unseren Plan nachgedacht habe, nicht über die Anzahl der vor uns liegenden Wochen, nicht darüber, dass ich mich verletzen oder dass es Rückschläge geben könnte. Ich war auf ­einer aufregenden Entdeckungsreise, und der Plan war der Kompass. Meine größte Sorge war, dass am Tag des Marathons meine Periode einsetzen könnte, aber ich überlegte mir, dass ich die Antibabypille ohne Pause weiternehmen würde, wenn es sein müsste. Was mich daran erinnerte, dass ich die Pillen aus der kleinen Scheibe nehmen und in ein Aspirinfläschchen stecken musste, damit meine Mutter sie nicht entdeckte, wenn ich Weihnachten zu Hause war. Tom und ich schliefen inzwischen zusammen, was riskant und aufregend war, und ich wollte kein Risiko eingehen, weder mit meiner Mutter noch mit Mutter Natur. Ich würde meinen Eltern nach und nach von Tom erzählen.

Aber meine Liebesgeschichte mit Tom war nicht das Wichtigste, was ich meinen Eltern verschwieg, sondern es waren die elf Meilen, die mich immer noch in Ekstase versetzten. Als sie mich in Washington am Flughafen abholten, sagte ich: »Hi, Mommy und Daddy! Ohhh, wie schön, euch wiederzusehen! Ihr kommt nie darauf. Ich bin vor ein paar Tagen elf Meilen gelaufen!«

»Ganz schön weit«, sagte mein Vater, der sich konzentriert in den Verkehr einfädelte. Ich merkte, dass ihn Laufen derzeit nicht so sehr interessierte, was mir recht war, und in dem Moment beschloss ich, den Bostonversuch Arnies und mein Geheimnis bleiben zu lassen. Ich wollte nichts ankündigen, was ich nicht auch wirklich machen würde. Ich fand es immer peinlich oder zumindest überheblich, wenn Menschen, die am Anfang eines großen Vorhabens standen, verkündeten: »Ich schreibe ein Buch!«, »Ich sitze an meiner Doktorarbeit!«, oder, am schlimmsten: »Ich bin schwanger!«, obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass etwas schiefgeht, am Anfang sehr hoch ist. Und die Niederlage wurde noch dadurch verschlimmert, dass man sie dann wieder allen Leuten gegenüber zugeben musste. Wenn man schließlich gar nicht mehr wusste, wem man alles vorher davon erzählt hatte und die Wunde fast verheilt war, fragte jemand: »Hey, wann promovierst du nun?!« Ich beschloss also, von Boston nichts zu erzählen.

Anfang Januar war ich nicht mehr ungeduldig mit Arnie. Ich hörte mir mit neu erwachtem Interesse die endlosen Wiederholungen seiner Geschichten an, über seine Fehler, seine Siege, versuchte, sie auf mich zu übertragen. Ich konnte mir trotzdem nie vorstellen, einen Marathon schnell zu laufen. Oder auch nur mit dem Vorsatz, ihn als WETTKAMPF anzugehen. Ich glaubte nicht, dass für mich mehr drin war, als einen Marathon einfach nur durchzustehen. Das war zu meinem Ziel geworden. Außer der vagen Vorstellung, dass ich mein ganzes Leben lang stark und gesund sein und laufen wollte, hatte ich keine sportlichen Ziele, die ich mit diesen 26 Meilen und 385 Yards verband.

Wir sind nie auf Zeit gelaufen, wir maßen noch nicht mal die Zeit, wenn wir unterwegs waren. Arnie hatte die 3-, 6- und 10-Meilen-Runden mit dem Auto ausgemessen, und unter der Woche liefen wir einfach Variationen dieser Strecken. Immer öfter schloss sich uns an den Wochentagen John Leonard an, ein Läufer aus dem Crosslaufteam. Aber wofür Arnie und ich lebten, waren die Läufe am Wochenende. Die Woche war dazu da, die Form zu halten. Ich freute mich auf die langen Läufe in einer ­Mischung aus aufgeregtem Entdeckerdrang und Bauchschmerzen verursachender Beklemmung. An den Wochentagen hielten sich berauschende Gefühle, etwas zu erreichen, und die Erregung, unentdecktes Gebiet gegen alle Widerstände zu erforschen, die Waage: Würde ich es schaffen, die neue Strecke zu laufen? Was, wenn es wirklich wehtun würde? Könnte ich damit fertig werden? Gab es einen physischen Punkt, den zu überwinden ich vielleicht nicht in der Lage wäre? Und wenn ich ihn erreichte, hätte ich dann den Mut, darüber hinauszugehen?

Ich sagte mir immer, dass ich es schaffen würde und dass es mir nicht schaden könnte, weil ich mich so wohlfühlte. Um wirklich sicher zu sein, musste ich es eben versuchen. Ich sah nicht schlechter oder besser aus als sonst, im Gegenteil. Je weiter ich laufen konnte, umso besser fühlte ich mich und zwar in jeder Hinsicht. Für mich war es logisch, dass eine kontinuierlich gesteigerte Anstrengung Mensch wie Tier stärker werden lässt. Ich hatte mich immer darin gesonnt, beides zu sein: eine Frau und eine Sportlerin. Jetzt war ich mir meiner Attraktivität und meiner Sexualität mehr denn je bewusst, beides schien sich in dem Maß zu entwickeln, in dem ich meine Ausdauer und Stärke erkannte, die ich nach einem langen Lauf spürte. Arnie hatte seine eigenen Beweggründe: Er liebte einfach das Laufen, und wenn er diese langen Strecken langsam mit mir lief, schien er seine alten Verletzungen auszuheilen oder zumindest in Schach zu halten. Er war froh, nach so langen Jahren seine Sportlichkeit wieder aufleben zu lassen, Gesellschaft zu haben, gebraucht zu werden und – was er nie aussprach – eine Zeit lang aus dem Haus zu sein und seiner kritischen Frau zu entkommen. Aber gleichzeitig hatte Arnie, ohne dass ich etwas davon merkte, seine eigenen Untergangsfantasien: Wir waren auf unbekanntem Gebiet, und er war der Kapitän. Was, wenn die Erde doch eine Scheibe war und ich auf der anderen Seite herunterfiel? Wer konnte sagen, wie weit eine Frau ohne gesundheitliche Schäden laufen konnte? Was, wenn ich mich beim Laufen schwer verletzte oder davon krank würde; oh, die Vorwürfe, die er sich selbst und die die Kollegen ihm machen würden! Schon jetzt machten sie ihm bei der Post die Hölle heiß und äußerten Bedenken wie: »Du wirst das Mädchen noch ruinieren, Arnie. Sie wird dicke Beine kriegen, ein Mann werden.« »Hübsches Mädchen, Arnie, zu schade, wie es mit ihr weitergehen wird.« »Hey, überlegst du dir überhaupt, was du da machst?« Arnie fühlte sich verantwortlich, aber wem gegenüber und wofür? Darauf hatte er auch keine Antwort.

Die Kunde, dass Arnie mit einem Mädchen meilenweit lief, sprach sich schnell bis zu Arnies Frau herum. Das Laufen, diese jahrelange Liebe, mit der sie nicht konkurrieren konnte, hatte plötzlich ein Gesicht und einen Namen. Sie hasste Laufen. Punkt. Ob allein, mit Männern, in einem Team. Und jetzt mit einer jungen Frau? Das war zu viel! Sie konnte absolut nicht glauben, dass unsere Beziehung rein platonisch war. Dass uns Kameradschaftlichkeit verband, dass ich seine Schülerin und seine Trainingspartnerin war, weiter nichts. Erst viel später hatte ich den Verdacht, dass sie ihm das Leben zur Hölle machte. Arnie war der sanfteste Mensch der Welt, mir fällt sogar das Wort Weichling ein, aber sein Laufen – und besonders das Laufen mit mir – war über jede Kritik erhaben. Schließlich kam er zum gleichen Schluss wie ich: Solange ich mich steigerte und es mir gut ging, musste es okay sein.

Arnies Frau war nicht die einzige Frau, die mich hasste. Es schien eine ganze Armada von Frauen zu geben, die uns am liebsten von der Straße gejagt hätten. Es fehlte ihnen der Mut, es zu sagen, wenn wir in Hörweite waren, oder uns direkt anzusprechen. Nein, sie brauchten den Schutz und die Anonymität ihrer Autos. Wenn Arnie und ich um unser Leben springen mussten, war es immer wegen einer Frau am Steuer, nie wegen eines Mannes. Wir sahen sie für gewöhnlich kommen. Ihre Autos wirkten gefährlich, wenn sie wie mit gesenktem Kopf auf uns zurasten, und wenn wir zur Seite sprangen, sahen wir kurz ein giftiges Gesicht hinter der Windschutzscheibe.

»Shit!«, schrie ich dann. »Verdammt, Arnie, warum ist es immer eine Frau?«

»Na, sie ist eifersüchtig.«

»Eifersüchtig. Also wirklich. Sie hätte uns umbringen können. Worauf sollte sie eifersüchtig sein?«

»Weiß ich nicht. Vielleicht weil du läufst und sie nicht.«

»Zum Teufel noch mal, Arnie, sie braucht doch nur ihre Turnschuhe anzuziehen.«

»Ich weiß das. Du weißt das. Sie weiß es eben nicht.«

Es passierte so oft, dass ich wütend wurde und mir verraten vorkam und allmählich befürchtete, diese Autofahrerinnen repräsentierten möglicherweise die Gefühle der meisten Frauen in Bezug auf Frauen wie mich, die so offenkundig stark und frei war. Sie verstanden es einfach nicht – und ich hatte mit ihnen ebenfalls kein Mitleid. Dann aber passierte plötzlich genau das Gegenteil. Manchmal rief uns eine dicke Dame aus ihrem Vorgarten zu: »Hey, Honey! Weiter so, oder du siehst eines Tages aus wie ich!« Andere Frauen hielten inne, applaudierten und sagten: »Super, Hurra!« Und dann hatte ich wieder Hoffnung für die Frauen dieser Welt.

Ich liebte den langen Lauf am Sonnabend oder Sonntag bei Tageslicht. Es klingt so banal, aber ein sonniger Tag und tropfende Schneewehen am Straßenrand nach wochenlangem Training in endloser Dunkelheit ermutigten und inspirierten uns. Alles war möglich. Wir könnten ewig so weiterlaufen. Es mag kitschig klingen, aber an sonnigen Tagen war ich so zuversichtlich und hoffnungsfroh, dass mir das Herz aus der Brust zu springen schien.

Sobald ich die langen Strecken lief, merkte ich tatsächlich, dass mich die Kirche oder jedwede Religionsrichtung nicht mehr interessierten. Ich wurde zu einer großen Zweiflerin an deren Regeln und Ritualen, die ich plötzlich als unnatürlich empfand. Ich spürte jeden Tag: Wenn ich lief, war ich in Kontakt mit Gott, oder Gott war im Kontakt mit mir. Und deshalb erschien mir die Vorstellung absurd, Gott nur an einem Tag in der Woche in einem Haus zu begegnen. Auf meinen Meilen durch weite Ebenen und urwüchsige Landschaften spürte ich Gott überall. Ich war frei, beschützt und angenommen. Der Rhythmus des Laufens und meines Herzschlags eröffneten mir eine nie gekannte universelle Verbindung zu meiner Umwelt, ich war durchdrungen von dieser neu gefundenen Religion, beschwingt und gleichzeitig demütig.

Ich bin mir sicher, dass dieser Zustand auch durch die Endorphinausschüttung bewirkt wurde, eine Empfindung, die ich in diesem Maße bisher nicht gekannt hatte. Es kommt auch zu einem spontanen Mitteilungsbedürfnis über alles und jedes, tatsächlich vertrauen sich Menschen während des Laufens ihre tiefsten Geheimnisse an. Wenn ich trainierte, fühlte ich mich in einem umfassenden Sinn in der Nähe Gottes, so erging es auch Arnie, einem konvertierten Katholiken. Arnie musste am Sonntag immer sehr früh laufen, um rechtzeitig zur Messe wieder zu Hause zu sein. Das machte mich fertig, weil ich, wie alle Studenten, nur am Wochenende den versäumten Schlaf nachholen konnte. Arnie wusste, dass mich der frühe Aufbruch belastete, und deshalb versuchte er, mich auf unseren langen Trainingsläufen zu dem »einzig wahren Glauben« zu bekehren. Er war wohl der Meinung, dass ich, wenn ich religiös wäre, kein Problem mehr damit hätte, so früh zu starten – ein Lauf war ja so etwas wie der Pass zum Himmelreich. Zumindest war das seine Erklärung. Ich vermute auch, dass er einen Geheimpakt mit Tom geschlossen hatte, der ebenfalls Katholik war, und wenn ich nicht unter dem Einfluss der Endorphine so menschenfreundlich gestimmt gewesen wäre, hätte ich ein Komplott gewittert. Das Aufeinanderprallen der Religionen bewirkte jedenfalls hitzige und oft urkomische Debatten während des Laufens, wenn Arnie seine missionarischen Fähigkeiten einsetzte, um mich zu seinem Glauben zu bekehren, und die Meilen flitzten nur so vorbei.

 

Wir trainierten nach Plan. Es ging Schlag auf Schlag: zwölf Meilen, vierzehn, sechzehn. Es war fantastisch. An einem Sonntag im März wollten wir unseren 18-Meilen-Lauf (knapp 29 Kilometer) machen, und es ging mir gut, doch als wir bei der dreizehnten Meile (21 Kilometer) in einer unbewohnten Gegend waren, sagte Arnie: »Warum wirst du langsamer?«

»Langsamer?«, fragte ich überrascht.

»Ja. Geht es dir gut?«

»Klar geht es mir gut«, sagte ich. Es ging mir sehr gut, und ich versuchte, etwas zu beschleunigen. Im Training hielten wir immer das gleiche Tempo. Und der Versuch, ein wenig schneller zu laufen, fiel mir deshalb sehr schwer. Nach einer weiteren Meile sagte Arnie scharf: »Hey! Warum gehst du jetzt?«

Ich blickte auf meine Beine hinunter. »Himmel, das habe ich gar nicht gemerkt.« Aber es war eindeutig, ich ging nur noch. Ich war überrascht und gleichzeitig sehr schläfrig. Ich wollte wieder loslaufen und konnte nicht. Ich ging. Arnie sagte: »Okay, wir joggen einfach bis zu diesem Telegrafenmast, und dann gehen wir bis zum nächsten, dann joggen wir zum übernächsten und so weiter, bis es dir besser geht.«

Ich fing an zu joggen, sah auf meine Füße hinunter. Sie bewegten sich schlurfend, dann gingen sie.

Ich klatschte mir auf die Schenkel. »Los, laufen!« Ich schimpfte mit ihnen wie mit ungezogenen Kindern. Beunruhigt merkte ich, dass ich tatsächlich mit meinen Beinen redete. Ich gab mir Mühe, schnell zu gehen. Arnie umkreiste mich joggend, lief vor, kam wieder zurück.

»Bitte, Arnie, ich bin so müde, ich kann mich einfach nicht mehr bewegen. Ich setze mich jetzt hier eine Minute hin und schlafe ein bisschen.« Ich setzte mich ins Gras am Straßenrand und schlief sofort ein.

Arnie schrie los: »Hey, das geht nicht. Du kannst hier nicht mitten in der Pampa einfach schlafen!«

»Arnie, in zehn Minuten geht es mir wieder gut, nur ein kleines Schläfchen, okay, okay … «

Dann war ich weggesackt und fest eingeschlafen.

Als ich zu mir kam, bugsierten Arnie und noch jemand mich in ein Auto. Mir war alles egal, ich wollte nur schlafen, und dann lag ich lang ausgestreckt auf dem Rücksitz eines schönen warmen Autos und hörte ­Arnies Stimme, und dass er sich unablässig beim Fahrer entschuldigte. Ich fühlte mich wohl, spürte in mir ein warmes Schnurren wie von einem Heiz­lüfter. Der Unbekannte fuhr uns den weiten Weg zur Sporthalle zurück, wo ­Arnies Auto stand. Als wir ankamen, wachte ich auf und fühlte mich taufrisch, aber es war mir alles sehr peinlich. Mein Dank an den Autofahrer fiel entsprechend knapp aus. Zu Arnie sagte ich schnippisch: »Siehst du, ich musste nur ein bisschen schlafen.« Ich habe mich in den folgenden Jahren oft dankbar gefragt, wer unser Retter gewesen sein mag.

In der nächsten Woche reduzierten wir auf sechzehn Meilen, und dann versuchten wir wieder die achtzehn Meilen und hatten keinerlei Probleme. Wir liefen an drei Wochenenden hintereinander achtzehn Meilen, davon die letzten drei auf einem harten Kurs mit unglaublichen Steigungen, nur um sicher zu sein. In dieser letzten Einheit liefen wir durch die ländliche Umgebung von Syracuse und Manlius, die ich noch nicht kannte. Die Strecke führte uns durch viele kleine Dörfer mit italienisch klingenden Namen wie Pompey und Fabius, entlegene hübsche Ortschaften, in denen an ­einigen Stellen noch Schnee lag. Am Straßenrand türmte er sich im Schatten immer noch zentimeterhoch und erinnerte an die Schaumkrone einer schmutzig-weißen Welle. Selbst ich konnte mir nicht vorstellen, wie diese Straße im Winter ausgesehen haben musste.

Jetzt war es Ende März, die Sonne schien fahl, die Landschaft war trostlos, einfach nur braun und schwarz, der Boden wurde an manchen Stellen sumpfig. Wir trugen Shorts, obwohl es noch kühl war, und immer noch hatten wir Sweatshirts und Handschuhe an. Ich hatte das Gefühl, als wäre das graue Sweatshirt, auf dessen Vorderseite in blauen Buchstaben »TRACK« stand, zu einem Teil meines Körpers geworden. Es schien nie nass zu werden oder zu schwer, weil ich nicht schwitzte. Wir schwitzten beide nicht. Dafür war es zu kalt und wir liefen zu langsam, und so wusch ich täglich nur das T-Shirt, das ich direkt auf der Haut trug.

Da wir nicht schwitzten, hatten wir auch keinen Durst und machten uns kaum Gedanken über die Zufuhr von Flüssigkeit. Heute klingt das verwunderlich, aber damals sprach niemand über die Bedeutung von Wasser, und wenn man nicht durstig war, was sollte das Gerede? Doch auf unserem letzten 18-Meilen-Lauf hatten wir dann Durst. Die Sonne schien, ich sah am Ende eines matschigen Feldes einen Fluss und sagte zu Arnie, dass ich ihn mir mal aus der Nähe ansehen würde. Arnie sagte, lass es sein, das sei kein Trinkwasser, weil hier auch Pferde weideten. Aber da war ich schon über den Zaun gesprungen und hopste durch den Modder und das sprießende Gras, und als ich den Fluss erreichte, erklärte ich das Wasser für klar und rein, denn es strömte schnell dahin, und am Flussufer wuchs Brunnenkresse. Mein Dad hatte gesagt, dass ein Fluss, an dem Brunnenkresse wuchs, rein sei; Brunnenkresse würde nicht an verdreckten Gewässern gedeihen. Arnie war skeptisch, aber als er mich so unerschrocken trinken sah, machte er es mir nach und murmelte, dass wir wahrscheinlich Tetanus oder Typhus oder so etwas kriegen würden. Das Wasser war eiskalt und ausgesprochen köstlich. Wir bekamen nicht mal Bauchkrämpfe, und Jahre später erzählte ich diese Geschichte meinem Vater, weil ich dachte, er wäre stolz, dass ich mich an seinen Ausspruch erinnert hatte.

Er sah beunruhigt aus. »Das mit der Brunnenkresse habe ich nie gesagt«, behauptete er.