Marathon Woman

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Die Arbeit für die Schülerzeitung bot sich an, weil es so wenig Berichterstattung über den Mädchensport gab (manche Dinge ändern sich nie), und ich wollte unser Team etwas hochjubeln. Ich liebte mein Team! Manche der Mädchen waren burschikos, andere Abschlussballköniginnen, und ich verlor meine Vorurteile gegen jungenhafte Mädchen. Wir spielten uns alle die Seele aus dem Leib, und trotz der unterschiedlichen sozialen und finanziellen Verhältnisse, aus denen wir stammten, unternahmen wir auch jenseits des Sportplatzes viel miteinander, gingen zusammen zum Tanzen, zu Fußballveranstaltungen oder zu Pyjamapartys und waren unerreichbar für all die stutenbissigen Cliquen der Highschool.

Meine Freundinnen nannten mich Kathy, aber für meine besten Kumpel war ich Switz. Ich fand, dass Kathy ein bisschen zu unbedeutend als Verfasserin eines Sportartikels klang, aber die Studienberaterin der Fakultät ­erlaubte mir nicht, einfach als Switz zu unterzeichnen, was ich sehr cool gefunden hätte. Aber dank meinem Vater wurde »Kathrine« von den ­Typografen (ja, damals wurde noch mit Lettern gesetzt) immer in ­»Katherine« geändert, und ich ärgerte mich, wenn ich meinen falsch buchstabierten Namen sah. Also unterzeichnete ich oft einfach mit K. V. Switzer. Damals schwelgte ich in der Lektüre von Der Fänger im Roggen. J. D. Salinger war wie ein Gott für mich, und gleich danach kamen T. S. Eliot und E. E. Cummings. K. V. Switzer, die Sportreporterin, zu sein gefiel mir.

Als mein Freshman-Jahr zu Ende war, hatte ich es satt, ein dünnes kleines Mädchen zu sein. In einer der vielen Illustrierten meiner Mutter, die sich im Haus stapelten, fand ich einen faszinierenden Artikel über den Kaloriengehalt von Nahrungsmitteln. Die beiden Lebensmittel mit den meisten Kalorien waren Erdnussbutter und Schokolade, die man möglichst vormittags essen sollte, um leichter abzunehmen. Das leuchtete mir ein, und deshalb aß ich jeden Abend vor dem Schlafengehen ein Sandwich mit Erdnussbutter und trank ein großes Glas Kakao. In den nächsten zwölf Monaten nahm ich sieben Kilo zu und wuchs zehn Zentimeter. Ob mir die Erdnussbutter geholfen hat, in die Pubertät zu kommen, oder ob sich das Frausein sowieso anbahnte, werde ich nie erfahren, aber plötzlich war ich eine Frau. Ich werde nie den Gesichtsausdruck meines Vaters vergessen, der mich eines Tages musterte und dann ins Nebenzimmer ging, um sich mit meiner Mutter zu unterhalten. Ich bekam nur einen Teil ihres Gesprächs mit, nämlich seinen Satz: »Heiliger Strohsack, wann ist denn das passiert?«

Da ich jeden Tag lief, gewöhnte ich mich problemlos an meinen neuen Körper. Tatsächlich schien mir mein neues Gewicht mehr Kraft zu verleihen, und ich fügte Liegestütze und Kniebeugen zu meiner täglichen Routine hinzu. Mein Bruder sagte, die echten Profis würden Kniebeugen auf einem Bein machen, deshalb fing ich an, jeweils zehn Kniebeugen auf ­einem Bein zu üben, und hangelte mich an dem dicken Kletterseil hinauf, das mein Vater im hinteren Teil des Hofs für uns angebracht hatte.

Obwohl ich mich hingebungsvoll meiner Fitness widmete, war die Leidenschaft doch nicht groß genug, um mir eine Karriere als Leistungssportlerin zu wünschen. Erstens gab es eine derartige Möglichkeit überhaupt nicht, und zweitens sehnte ich mich gar nicht so sehr danach, wie beispielsweise die Tennisspielerin Billie Jean King es tat, die als Kind Profibasketballer werden wollte. Das wäre vielleicht anders gewesen, wenn es damals schon professionelle Läuferinnen gegeben hätte. Davon abgesehen strebte ich einen Beruf an, der meiner Ausbildung entsprach. Als ich aufwuchs, war man noch der Ansicht, dass Leute, die ihren Lebensunterhalt mit körperlicher Arbeit verdienten – und dazu gehörten nun mal Leistungssportler –, bemitleidenswert waren. Denn entweder hatten sie keine gute Ausbildung, oder sie waren nicht intelligent genug, um in leitenden Positionen zu arbeiten. Ich wollte Ausgewogenheit: Der Satz des Römers Juvenal, der vom mens sana in corpore sana sprach, kam mir sehr entgegen.

Und eine Römerin nahm mich gefangen. Mit großen Augen betrachtete ich die Statue der Jägerin Diana und genoss es, wie mein neuer Körper aussah, wie ich mich in ihm fühlte. Ich verglich mein nacktes Spiegelbild mit ihrer Statue und staunte über die Ähnlichkeit unserer Körper und – ja – unserer Geisteshaltung. Diana war athletisch, weiblich und selbstbewusst, und auch sie hatte kleine Brüste. So wurde sie zu meinem neuen Vorbild. Ich fühlte mich in meinem Körper so sicher wie sie sich in ihrem. Und als die Jungen in der Schule jetzt anfingen, mir nachzulaufen, war ich keine leichte Beute. Ich brauchte ihre Aufmerksamkeit für mein Selbstwertgefühl nicht. Obwohl es in der Schule keinen Sexualkundeunterricht gab, vermittelte mir das Laufen körperliches Selbstvertrauen genug, um die kleinen Langweiler auszubremsen.

Vielleicht klingt es abwegig, dass ich mir eine Göttin der römischen Antike zum Vorbild wählte, tatsächlich aber gab es bis zu den Olympischen Spielen im Jahr 1960 für mich keine modernen sportlichen Vorbilder. Doch trotz der anmutigen Bilder von Wilma Rudolf, der Siegerin in den Sprintwettkämpfen, werde ich nie die abstoßenden Fotos der sowjetischen Kugelstoßerin Tamara Press vergessen, die sie mit Armen wie Schinkenschlegel, einer schwabbeligen Rolle in der Taille und mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht zeigen. War das der Inbegriff einer weiblichen Athletin? Ich kann mir vorstellen, dass solche Bilder viele Tausend Leserinnen der Illustrierten Life entmutigten und junge Mädchen dem Sport für ewig abschwören ließen.

Damals erfuhr ich es nicht, aber die Olympischen Spiele in Rom boten noch einen weiteren Reibungspunkt für die Wahrnehmung weiblicher Kraft im Sport. Zum ersten Mal seit zweiunddreißig Jahren gab es bei den Spielen einen 800-Meter-Lauf für Frauen. Bei den Spielen in der Antike war Frauen allein schon das Zusehen unter Androhung der Todesstrafe verboten, und im Jahr 1896 wurden sie von der Teilnahme an den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit ausgeschlossen. Nach massiven Protesten ließ man Frauen 1900 für die Sportarten Golf, Tennis und Krocket zu. 1928 kam die Leichtathletik hinzu. Längster Lauf war der 800-Meter-Lauf (zwei Runden auf der Bahn), und nachdem sich die ersten drei Frauen eine erbitterte Schlacht um den Sieg geliefert hatten und Lina Radtke einen neuen Weltrekord aufgestellt hatte, taumelten die Teilnehmerinnen keuchend in den Innenkreis des Stadions, so wie jeder Mensch, der so schnell wie möglich 800 Meter läuft. Diese »Zurschaustellung von Erschöpfung« entsetzte die Zuschauer, die Veranstalter und – das war das Schlimmste – die Medien. Harold Abraham, der Respekt einflößende Olympiasieger, inzwischen Sportjournalist, dessen große Leistungen später in dem Film Die Stunde des Siegers gewürdigt werden sollten, nannte die öffentliche Zurschaustellung von Erschöpfung eine »Schande für die Weiblichkeit« und eine »Gefahr für alle Frauen«. Er empfahl, diese Strecke für künftige Veranstaltungen zu streichen. Und so geschah es.

In den kommenden zweiunddreißig Jahres mussten Frauen, die längere Distanzen als die Sprintstrecken liefen, immer wieder beweisen, dass sie weder zu schwach noch zu zart dafür waren, weder sich selbst gefährdeten noch der Weiblichkeit Schaden zufügten. Während für die Männer die 1.500 Meter, 3.000 Meter Hürden, 5.000 und 10.000 Meter und der Marathon (26,2 Meilen beziehungsweise 42,195 Kilometer) hinzukamen, wurde jeder längere Lauf für Frauen weiterhin als gefährlich bezeichnet. Es war ein schwerer Kampf, für die Olympiade 1960 die 800 Meter für Frauen durchzusetzen, und jeder Gedanke an eine noch längere Strecke löste eine heftige Kontroverse in den Medien aus.

Damals wurden viele andere Sportarten für Frauen abgeändert, um sie davor zu bewahren, sich selbst Schaden zuzufügen. Interessanterweise blieb das harte Feldhockey unangetastet, nicht aber Basketball: Schon in den Sechzigerjahren spielten Mädchen eine Basketballversion, die das Laufpensum reduzierte, indem sechs Spielerinnen eingesetzt wurden, die nur dreimal dribbeln und die Mittellinie nicht übertreten durften. Als ich die Trainerin des Mädchenteams für unsere Schülerzeitung interviewte und fragte, ob wir je nach denselben Spielregeln wie die Männer würden spielen dürfen, sagte sie: »Niemals.« Das viele Springen könnte die Gebärmutter verrutschen lassen. Ich hätte fast laut losgelacht. Zehn Jahre später erhielten Mädchen an Universitäten Vollstipendien, um dort in einer der ältesten Universitätssportligen nach »Männerspielregeln« Basketball zu spielen.

Im zweiten Jahr in der Oberstufe hatte ich einen Freund, Dave, und ich besuchte eine neue Schule, die George C. Marshall High School in Falls Church, Virginia. Mit Dave hatte ich eine gute Zeit. Er war Mittelstürmer in der Footballmannschaft, und da sein Dad den gleichen Offiziersrang in der Navy innehatte wie mein Dad in der Armee, hatten wir viel gemeinsam. Jeden Freitagabend nach dem Footballspiel kamen Dave und sein Freund Larry müde, glücklich, zerschunden und angeschlagen zu mir nach Hause, wir machten uns eine Pizza und besprachen das Spiel. Oft berichtete ich von meinen Erfahrungen beim Hockey oder Basketball, und sie nahmen mich und meinen Sport immer ernst. Wir prahlten damit, wer mehr Liegestütze konnte, aber sie staunten jedes Mal, dass ich mehr Sit-ups und Kniebeugen schaffte als sie. Ich lebte für den alljährlich stattfindenden President’s Council of Physical Fitness and Sports Fitness, wo auch getestet wurde, wie viele Sit-ups wir in der Minute schafften (ich schlug Dave und Larry mit dreiundsechzig in der Minute) und wie schnell wir auf der 600-Yards-Strecke (548,64 Meter) waren. Ich war das schnellste Mädchen, aber nicht so schnell wie Dave und Larry, was mich ärgerte. Eines Abends provozierte ich sie mit der Frage, bis zu welcher Grenze sie Kraftanstrengungen bei Frauen akzeptieren würden. Sie taten sich schwer mit der Definition, aber schließlich einigten sie sich darauf, dass sie es nicht mochten, wenn Frauen trainierten, bis ihr T-Shirt am Rücken durchgeschwitzt war. Ich nahm das ohne ein Gefühl von Zustimmung oder Ablehnung auf, ich behielt es lediglich als eine interessante Beobachtung im Gedächtnis. Ich selbst schwitzte nicht sehr beim Sport. Noch nicht.

 

Am Ende meines letzten Schuljahres waren Dave und ich fest zusammen, wir waren verliebt, tauschten Klassenringe aus, versprachen uns alles Mögliche und machten Pläne für die Hochzeit nach dem Studium. Diese Zwangsläufigkeit finde ich heute unvorstellbar, schließlich entwarfen wir diesen Lebensplan bereits mit sechzehn. Dave wollte Marineoffizier werden, und sein Ehrgeiz in der Highschool war, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und zunächst in die U. S. Marineakademie von Annapolis einzutreten. Als Dave dort im Frühling angenommen wurde, jubelten wir. Er trat eine Woche nach seinem Schulabschluss die Ausbildung an, und ich war seltsamerweise glücklich, eine Zeit lang wieder allein zu sein.

Meine Eltern hatten die Universität von Illinois abgeschlossen, und ich hatte den Ehrgeiz, ebenfalls eine große Universität zu besuchen. In Anbetracht der Tatsache, dass meine Mutter eine fortschrittliche und beliebte Leiterin der Studienberatung der größten Highschool unseres Countys war, hätte man annehmen können, dass ich Insidertipps für die passende Auswahl eines College bekam, aber der Plan für mich lautete anders. Dad bevorzugte aus finanziellen Gründen ein College in unserem Heimatstaat Virginia und riet mir, an einem College mit Koedukation zu studieren. Frauenuniversitäten waren in seinen Augen wirklichkeitsfremd. Es ist mir peinlich zuzugeben, dass ich ihm damals zustimmte. Kaum zu glauben, dass es zu jener Zeit in Virginia nur zwei Colleges mit Koedukation gab – William and Mary, die mich mit meinen mittelmäßigen SAT-Noten nicht aufnehmen würden, und Lynchburg College, eine Schule, kleiner als meine Highschool! Ich wollte an eine große Universität wie die von Michigan! Heimlich bewarb ich mich dort und wurde abgelehnt. Ich hätte sie trotzdem besuchen können, aber der Bewerbungsprozess schüchterte mich ein. Dad wusste von meiner Enttäuschung, und wie üblich schlug er mir einen Kompromiss vor: Da er die Ausbildung in den ersten beiden Jahren bezahlte, würde er die Auswahl treffen, und er entschied sich für Lynchburg. Für die darauffolgenden zwei Jahre könnte ich entscheiden, ob ich wechseln wollte. Ich willigte ein, zumal es in Lynchburg ein Frauenhockeyteam gab. Es schien ein bisschen pervers zu sein, dass große Universitäten keinen Frauensport boten, wohl aber die kleinen Colleges. Ich sagte mir, dass ich mich auf mein neues Team vorbereiten müsse, und verlängerte meine Laufstrecke. Wenn mich eine Meile täglich ins Highschoolteam gebracht hatte, müsste ich zulegen, um es ins Collegeteam zu schaffen. Ich erfuhr, dass die Jungen im Crosslaufteam der Highschool drei Meilen täglich liefen. Ich kannte bis jetzt niemanden, der noch mehr lief, also steckte ich mir das Ziel, drei Meilen täglich zu laufen. Wenn ich das schaffte, würde meine Geheimwaffe zur Superwaffe werden.

Jeden Abend ging ich nach meinem Sommerjob auf die Bahn in der Highschool und lief meine Runden, jede Woche lief ich eine Runde mehr. Ich staunte, wie leicht mir das fiel, und wahrscheinlich hätte ich die drei Meilen auf Anhieb geschafft. Aber das war mir nicht klar, und ich hielt es für besser, die Laufstrecke vorsichtig zu erhöhen, um eine Verletzung zu vermeiden. Instinktiv tat ich das Richtige: Eine schrittweise Steigerung ist ein Schlüsselprinzip im Training und der Aufbau eines sicheren Fundaments. Ich hatte auch viel Zeit zum Nachdenken, und während eines dieser Hochgefühl-Momente, die während des Laufens eintreten oder unter der Dusche, erkannte ich, was ich beruflich machen wollte. Das, was ich neben dem Laufen am liebsten machte, war Schreiben für die Schülerzeitung. Ich hatte nie daran gedacht, Journalismus zu studieren und so meine beiden Leidenschaften zu verbinden. Ende Juli lief ich drei Meilen täglich. Ich war schweißgebadet. Ich fühlte mich wie eine Königin.

Kapitel 3 »Könnt ihr eine Meile laufen?«

Ich traf mit einem leichten Groll, aber auch überglücklich, von zu Hause fortzukommen, im Lynchburg College ein. Überrascht entdeckte ich, dass es dort sehr schön war, freundlich, und – ich gebe es ungern zu – es gefiel mir dort fast auf Anhieb. Ich hatte befürchtet, der ganze Campus wäre von unerträglicher Religiosität geprägt, aber es stellte sich heraus, dass nur die Theologiestudenten die Religion forcierten. Der Rest der Schule war erstaunlich ausgewogen, wenn man bedenkt, dass sie mitten in den fundamentalistischen Süden eingebettet war.

Ein paar der »heiligen« Studenten, die Priester werden wollten, waren aber kleine Teufel! Sie luden Mädchen ins Kino ein und bogen dann stattdessen in eine kleine Landstraße ein und versuchten, dort den Abend zu verbringen. Als mir das zum ersten Mal passierte, blieb ich vor dem Auto auf der Straße stehen und weigerte mich, wieder einzusteigen, bis der Student mir versprach, mich ohne Umweg direkt in mein Studentenwohnheim zurückzubringen. Nach diesem Erlebnis war ich sprachlos, als er mich fragte, ob er mich am nächsten Tag zur Kirche begleiten dürfe, so als sei er die Unschuld in Person!

Die akademische Atmosphäre in Lynchburg gefiel mir. Sie war anspruchsvoll, aber nicht einschüchternd, und die Seminare waren klein genug, um sich als Individuum fühlen zu können. Da ich überzeugt war, Journalistin werden zu wollen – obwohl mein militärischer Vater Journalisten verabscheute, sie »schwatzende linke Typen« nannte, »die nie dem Feind gegenübergestanden hätten« – , studierte ich zum ersten Mal mit Leib und Seele.

Begeistert ging ich zur ersten Sitzung meines Englischseminars am College. Ein Tag, den ich nie vergessen werde. Der Professor hieß Charles Barrett, ein leicht skurriler und bezaubernder Mensch. Er trug uns auf, ­einen Essay über eine Kurzgeschichte von Orwell zu schreiben. Dann schmunzelte er und referierte über die Schwierigkeit, einem Essay einen guten Titel zu geben. Ein fabelhafter Titel beinhalte entweder »Schlangen« oder »Sex«. Diese beiden Begriffe würden Leser sofort gefangen nehmen. Noch nie hatte ich im Unterricht von einem Lehrer das Wort »Sex« gehört, und ich fand es herrlich verrucht. Ich arbeitete lange an meinem Essay, unterzeichnete ihn mit K. V. Switzer, und in einem mutigen Moment setzte ich den Titel »SEX« darüber. In der nächsten Woche sagte Dr. Barrett, er wolle einen Essay laut vorlesen, und begann mit »Sex«. Ein kollektives Schnappen nach Luft folgte, und ich duckte mich auf meinem Platz. Dann las er die ganze Arbeit vor, erklärte, warum sie gut sei und er die beste Note gegeben habe. Ich war völlig fertig. Als wir den Seminarraum verließen, sagte ein Mitschüler: »Kannst du dir vorstellen, dass jemand diesen Titel gewählt hat?!« Und ich sagte nur: »Ja. Nein.« Ich belegte schließlich alle Englischkurse von Charles Barrett, ebenso Kurse für Kreatives Schreiben und Journalismus, und bald schrieb ich für die College­zeitung Critograph.

Das einzig wirklich Enttäuschende am LC war das Niveau der Frauenhockeymannschaft – und dann noch der Südstaatenakzent und die Hüfthalter. Wenn man sich einen Dialekt angewöhnt hat, ist es schwer, ihn wieder loszuwerden, und ich fand, dass Frauen mit diesem langsamen Südstaatenakzent weniger ernst genommen wurden als Frauen ohne Akzent. Vor lauter Angst, mir diese sirupsüße Sprache anzugewöhnen, bemühte ich mich um eine hochgestochene Ausdrucksweise. Ich muss wie eine arrogante Ziege geklungen haben, aber ich glaube wirklich, dass mir das später bei meiner Radio- und Fernseharbeit geholfen hat.

Die Hüfthalter – anscheinend trugen alle Mädchen diese grässlichen Gummidinger, die sie von der Taille bis zu den Oberschenkeln versiegelten – waren vordergründig dazu da, die Strümpfe oben zu halten und die Hüften schlanker wirken zu lassen, aber auch schmale Mädchen trugen sie. Warum irgendjemand überhaupt ein Kleidungsstück trug, das den Muskeltonus beeinträchtigte und Pinkeln zu einer zehnminütigen Tortur machte, war mir unbegreiflich, bis ich »den Code« begriff. Irgendwann fiel mir auf, dass meine simplen Baumwollstrumpfhalter gerümpfte Nasen und Kopfschütteln bei meinen Mitbewohnerinnen hervorriefen. Denn der dreifach gewirkte Hüfthalter signalisierte, dass man nicht »leicht zu haben« war. Wie sich später zeigen sollte, waren am Ende des ersten Semesters etliche dieser Latexjungfern schwanger, und ich kann mir absolut nicht vorstellen, wie sie es geschafft haben, diese Dinger auf dem Rücksitz eines Autos auszuziehen und vor der mitternächtlichen Ausgangssperre wieder anzubekommen.

Ich hatte gehofft, auf stärkere Feldhockeyspielerinnen zu treffen, um meine Technik zu verbessern. Aber wie sich herausstellte, war ich eine der besseren Spielerinnen. Es schmeichelte meinem Ego nicht, es war frustrierend. Als einige Spielerinnen nach einem Sprint außer Atem eine Pause machen mussten, war mir klar, dass wir nie ein erfolgreiches Team sein würden. Und als einige Abwehrspielerinnen darauf bestanden, ihren ­Longline-BH samt Hüfthalter zu tragen, wusste ich, dass es keine Hoffnung gab.

Das Spielfeld war ein Witz. Es war mit Steinen und Unkrauthügeln und kahlen Stellen übersät, der Ball rollte überall hin, nur nicht in die Richtung, in die er sollte. Ab und an errangen wir dennoch einen Heimsieg, weil niemand sonst auf diesem Feld spielen konnte. Die Mannschaften, die uns besuchten, besonders die aus den schicken Schulen, wie zum Beispiel Hollins, waren daran gewöhnt, auf traumhaften Anlagen zu spielen, die wie Golfplätze waren. Unser Platz brachte sie völlig durcheinander.

Eines Tages besuchte uns die legendäre Engländerin Constance ­Appleby, die Feldhockey im Jahr 1901 nach Amerika gebracht hatte, und hielt mit uns eine Trainingseinheit in Theorie und Praxis ab. Ich betete sie an und schätzte sie auf ungefähr achtzig Jahre. Man kann sich mein Erstaunen vorstellen, als ich herausfand, dass sie dreiundneunzig war. Sie wirkte nicht im Mindesten gebrechlich, war ziemlich kräftig um die Mitte herum und hatte sich mit einer schokoladenbraunen Tunika und farblich passender Schärpe und Schienbeinschützern angetan.

Nach einer kurzen Ansprache schockierte uns Miss Appleby, indem sie uns aufs Spielfeld jagte und mit uns spielte. Wir griffen gerade das Tor an, als Miss Appleby nicht weit von mir entfernt über einen großen Maulwurfshügel stolperte und lang hinschlug. Ich rannte zu ihr und schrie: »Oh, Miss Appleby, ist Ihnen etwas passiert? Oh, oh, oh!« O Gott, dachte ich, wir haben Miss Appleby umgebracht, aber als ich ihr aufhelfen wollte, sprang sie auf die Füße, wies mit ausgestrecktem Arm wie ein General auf das Spielfeld und rief mit ihrem unnachahmlichen britischen Akzent: »­Weiterspielen!«

Von diesem Moment an wusste ich, dass ich Sport machen würde, um mein Leben lang in Form zu bleiben. Miss Appleby war eine fitte, lebhafte alte Schachtel, und so wollte ich im Alter auch sein. Das Problem war nur, dass Frauen keinen Mannschaftssport außerhalb der Universität treiben konnten, es sei denn, man wurde Trainerin und konnte auf diese Weise dabei sein. Ich wollte nicht Trainerin werden, und ich wollte nicht nur dabei sein. Ich wollte eine Sportlerin sein, aber auch mehr als das. Ich wollte einen Beruf haben, einen journalistischen Beruf. Ich wollte sein wie die griechischen Athleten, die auch Philosophen waren: Ich wollte heraus­gefordert werden und an der Herausforderung wachsen.

Ich hatte dies oft mit mir selbst diskutiert, meistens beim Laufen, was ich weiterhin fast täglich nach dem Hockeytraining machte. Laufen war unglaublich befriedigend, selbst wenn es nur um den Sportplatz herum ging oder hin und wieder in einer großen Schleife um den Campus. Die Strecken hielten sich in Grenzen, sie gaben mir das Gefühl, etwas zu schaffen, und es war eine angenehme Art, die Frustrationen des Trainings mit der Mannschaft abzubauen, bei dem ich kaum außer Atem geriet. Ich fürchtete, mit der Mannschaft meine Form zu verlieren – was für eine Ironie! –, und ich wusste, dass Laufen mich stark und selbstsicher machte, bis ich die Lösung gefunden hatte.

An einem herrlichen Nachmittag im Herbst spielten wir beim nahen Sweet Briar College. Noch nie hatte ich ein so gepflegtes Spielfeld gesehen, und entsprechend schnell war auch das Spiel. Unsere Mädchen waren nicht in Form, und die Spielerinnen von Sweet Briar hatten uns in der Hand. Unsere Hüfthalter tragende Verteidigerin ließ die Gegnerin vorbei, und lachte dabei auch noch. Da spurtete ich los, um ihre Position einzunehmen, und versuchte, ein Tor zu verhindern. Verärgert, weil ich sowohl ihre Arbeit als auch meine verrichten musste, schrie ich sie an: »Das ist nicht lustig. Renn ihr nach!« Und ich schwöre, sie blieb stehen, stemmte die Hände in die Hüften und sagte: »Das ist nur ein Spiel, Kathy.« (Spiel sprach sie wie »Spie-hiel« aus.)

 

Nach dem Spiel schien niemand in unserem Team etwas dabei zu finden, dass wir verloren hatten. Sie waren begeistert, mit den Sweet-Briar-Mädchen Tee zu trinken. Ich war so wütend, dass ich mich verkrümelte, die sanften Linien der Blue Ridge Mountains betrachtete und mich fragte, warum es für mich nicht nur ein »Spie-hiel« war, warum ich es wichtig fand. Die Trainerin kam zu mir und sagte: »Du verlierst nicht gern, stimmt’s?« Es war viel komplizierter als das, aber ich war nicht gewandt genug, um ihr zu erklären, wie mir zumute war. Ich konnte lediglich sagen: »Nein, ich verliere nicht gern«, aber ich fing immerhin an, mich zu fragen, ob ich das Zeug zur Mannschaftssportlerin hatte. Vielleicht brauchte ich einen individuellen Sport. Dann musste ich nur auf mich selbst wütend sein. In drei Jahren würde ich sowieso keinen Mannschaftssport mehr betreiben können, weil es damals keinen Mannschaftssport für Frauen gab.

Heute – vierzig Jahre später – träume ich manchmal, dass ich Feld­hockey spiele. Dann habe ich die Schnelligkeit und die Ausdauer, die ich damals hatte, bin aber so erfahren und gewieft wie heute. Meine Mannschafts­kolleginnen und ich arbeiten zusammen, wir bauen brillante Spiele und Spielzüge auf, die ich mir mit achtzehn nie hätte ausdenken können. Dann ­wache ich lachend auf und frage mich, wie anders mein Leben verlaufen wäre, wenn Feldhockey schon damals eine olympische Disziplin gewesen wäre.

Dave und ich hatten uns darauf geeinigt, im College auch mit anderen auszugehen, aber weiterhin fest zusammenzubleiben. Da er ein Erstsemester in der Marineakademie in Annapolis war, würden wir uns sowieso nur sechsmal im Jahr sehen können, warum sollten wir da nicht auch mit anderen ausgehen? Die wichtigsten Feierlichkeiten im College wurden June Week genannt, sie fanden am Ende des Ausbildungsjahres statt, und in der Akademie wurde jeden Abend getanzt. Meiner Mutter lag es besonders am Herzen, dass ich, ihre Tochter, daran teilnahm. Sie gab, was nicht oft vorkam, ihren weiblichen Fantasien Ausdruck, und ihre Geschenke zu Weihnachten in jenem Jahr bestanden aus Abendkleidern und allgemeinen Accessoires zur Gestaltung der June Week.

Das erste Weihnachten zu Hause in den Collegeferien war eine Entzauberung für mich, weil Dave sich so verändert hatte beziehungsweise weil die Marineakademie ihn verändert hatte. Er war nicht mehr der fröhliche Junge, den ich gekannt hatte, er kommandierte herum, sagte, ich müsse vom Lynchburg College zum Goucher College wechseln, um näher bei ihm und der Akademie zu sein, es sei egal, wo ich den Abschluss mache, ich würde sowieso nicht zu arbeiten brauchen. Darüber musste ich laut lachen, denn wir hatten unsere Berufswünsche in der Highschool besprochen.

»Wenn ich Marineoffizier bin, wird meine Frau nicht arbeiten«, eröffnete er mir.

»Aha«, sagte ich. »Und was soll ich in den sechs Monaten im Jahr machen, in denen du auf See bist?«

»Meine Mutter hat auch nicht gearbeitet, und sie war glücklich und zufrieden damit, für ein schönes Heim zu sorgen.«

»Nun, meine Mutter hat immer gearbeitet, und sie ist auch glücklich und zufrieden. Sie verdient ihr eigenes Geld, sie ist anerkannt in ihrem Beruf, und ich habe auch vor zu arbeiten, also mach dich darauf gefasst.«

Unsere strahlende Beziehung verdüsterte sich. Ich wollte immer noch zur June Week gehen – ich hatte schließlich diese schönen Abendkleider! –, aber ich war aus zwei weiteren Gründen von Dave immer weniger begeistert. Erstens lehnte er es plötzlich ab, dass ich lief, weil es mich in seinen Augen zur Außenseiterin machte. Das sagte er mir auf einer Party, und ich wurde so wütend, dass ich mich ohne ihn auf den sieben Meilen langen Heimweg machte. Es war spät, und ich wusste, dass es dumm von mir war. Als ein Freund im Auto vorbeikam und anbot, mich nach Hause zu fahren, willigte ich ein. Als ich eingestiegen war, merkte ich, dass ich mich geirrt hatte, der Mann war kein Freund, nicht mal ein Bekannter. Während der Fahrt dachte ich, o Gott, das ist sehr gefährlich! An einem Stoppschild sprang ich aus dem Wagen, rannte durch die Vorstadtgärten und versteckte mich unter einer Hecke. Dort lag ich eine Ewigkeit, und der Typ suchte nach mir. Als ich sein Auto wegfahren hörte und wusste, dass ich in Sicherheit war, ging ich zur Party zurück und bat einen Freund, mich nach Hause zu bringen. Dave kam später zu mir, wir stritten uns, weinten beide, und ich schrie ihn an, es sei verflucht gut, eine Läuferin zu sein, sonst hätte ich dem Verfolger nie entkommen können.

Der zweite Grund war, dass ich in Lynchburg seit dem Spätherbst mit einem Mitstudenten namens Robert Moss ausging, der anders war als alle Jungen, die ich bisher kennengelernt hatte. Seine Mutter war Engländerin, sein Vater Amerikaner. Er war groß und dünn, ruhig und zurückhaltend, hatte einen trockenen Humor, und er war im Besitz eines Regenschirms; all dies waren unamerikanische Züge, die mich faszinierten. Außerdem war er Mitglied der Crosslaufmannschaft, was für mich der Inbegriff der Romantik war. Er war der erste Mensch, dem ich die Geheimnisse meines Herzens offenbarte, auch meinen Wunsch, mich im Sport auszuzeichnen, was ein großes Wagnis war in dieser Ära der Geschlechterstereotypen. Robert hat meine Begeisterung nie abgewertet, nur weil ich ein Mädchen war, und ich hielt seinen erstaunlichen Sinn für Gleichwertigkeit unglücklicherweise für selbstverständlich.

Im Frühling waren wir dann ineinander verliebt und verbrachten viel freie Zeit, die wir in der Bücherei zum Lesen hätten nutzen sollen, unter einem Busch mit duftenden Blüten und tauschten bis zur Sperrstunde Zärtlichkeiten aus. Da ich die Freundin eines anderen war, schwebten wir in einem romantischen Nebel, wie es zu einer verbotenen Liebe gehört. Ich war verliebt, aber an Dave gebunden, oh, es war aussichtslos, bis Robert vorschlug, Dave sausen zu lassen. Was, und nicht zur June Week zu gehen? Unmöglich! Es war der falsche Vorschlag. Stur nahm ich an der June Week teil, und Robert, der mir vorwarf, ihm ein paar Ballkleider vorgezogen zu haben, weigerte sich ebenso stur, unsere Beziehung danach fortzusetzen. Wir blieben Freunde, aber ich habe Jahre gebraucht, wirklich über ihn hinwegzukommen.

Achtzehn Monate später, an einem regnerischen Nachmittag, waren die harten Grasflächen des Spielfelds, auf denen ich sonst lief, so matschig, dass ich beschloss, auf der Bahn des Sportplatzes zu laufen. Normalerweise lehnte ich Bahnläufe ab, weil ich es so langweilig fand, im Kreis herumzulaufen, aber auch deshalb, weil an einer Seite die Wohnheime der Jungen lagen. Als ich das letzte Mal dort gelaufen war, hingen ein paar blöde Kerle aus den Fenstern und sangen im Chor »Hüpf, hüpf, hüpf!« Aber an diesem Nachmittag regnete es so stark, dass ich trotzdem beschloss, dort zu laufen.

In der letzten Zeit hatte ich einige meiner Läufe mit einem schnellen Erstsemester namens Martha Newell absolviert. Marty und ich spielten Hockey zusammen, und dann liefen wir gemeinsam und beschlossen sogar, einer Organisation namens Amateur Athletic Union (AAU) beizutreten, die, wie man uns sagte, 880-Yards-Rennen (804,68 Meter) durchführte, die längste für Frauen erlaubte Distanz. Marty lief die respektable Zeit von 2:23 Minuten und war auch auf den kürzeren Strecken schnell. Meine Bestzeit auf 880 Yards waren 2:34 Minuten, und ich war frustriert, weil ich spürte, dass ich auf diesen kurzen Strecken kaum in Fahrt kam. Wir reisten zu ein paar Wettkämpfen nach Baltimore. Obwohl es sich, wie ich fand, kaum lohnte, irgendwohin zu fahren, nur um zwei Runden um ­einen Sportplatz zu laufen, war ich begeistert von dem Training mit Marty. Das Laufen machte mir so viel Spaß, dass ich mich darauf einstellte, Hockey und Basketball dafür aufzugeben. Laufen war etwas, was ich mit einer Freundin oder allein tun konnte, und zwar mein ganzes Leben lang. Dafür brauchte ich weder einen Trainer noch ein Team. Ich hatte eine ­Lösung für mein Dilemma gefunden.