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Kunstprojekt (Mumin-)Buch

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2. Zur Inszenierung des „Machens“

„Ein Gedicht entsteht überhaupt nur selten – ein Gedicht wird gemacht.“1

In diesem Zitat zementiert Gottfried Benn die Lyrik als Kunstprodukt und die Relevanz der Verfertigung derselben. Dabei geht er auf Autoren ein, denen er gar ein weitaus grösseres Interesse an der Gestaltung eines Werks unterstellt als am Werk selbst. Mehr noch, Benn konstatiert: „Die modernen Lyriker bieten uns geradezu eine Philosophie der Komposition und eine Systematik des Schöpferischen.“2

In Bezug auf Tove Janssons Schaffen scheint ein solcher Ausgangspunkt vor allem aus zwei Gründen vielversprechend. Erstens lenkt die Tatsache, dass Janssons Bilderbücher von der Forschung unisono als Artefakte gelobt werden, den Blick unweigerlich ebenfalls auf deren Genese. Dabei ist die Frage leitend, inwiefern sich neben der (Bilder)Buchästhetik, die Jansson zugeschrieben wird, in den Vorarbeiten ebenfalls eine Produktionsästhetik nachweisen lässt. Damit wird der Fokus im Sinne Benns auf das Kreieren von Kunst als künstlerischen Akt gerichtet. Dies wiederum bedeutet, dass ebenfalls Vorarbeiten unterschiedlichster Art bereits als Kunst zu betrachten sind. Denn die Produktion, die Poesis, bildet laut Hans Jauss neben Aisthesis und Katharsis eine der drei Funktionen, in denen sich ästhetisch geniessendes Verhalten vollziehen kann. Diese drei Kategorien stehen allerdings in keinem hierarchischen Verhältnis, sondern seien als „ein Zusammenhang von selbständigen Funktionen zu denken […].“, die jedoch in einem „Folgeverhältnis“ stehen. Was die Rolle des Künstlers betrifft, äussert er sich folgendermassen: „Der schaffende Künstler kann seinem eigenen Werk gegenüber in die Rolle des Betrachters oder Lesers eintreten […].“3 Eine Betrachtungsweise dieser Art rückt Jansson nicht als Malerin oder Autorin, sondern dezidiert als Buchkünstlerin in den Fokus.

Damit ist ein Rollenbild verbunden, welches dem marxistischen Verständnis des Produktionsbegriffs entspringt. Nach Karl Marx ist die Wissenschaft Produkt der geistigen Arbeit, und Kunst und Poesie gelten als geistige Produktionszweige.4 „Kunst selbst als Produktion zu betrachten bedeutet demnach, den Künstler nicht so sehr als Schöpfer, sondern vielmehr als Arbeiter zu sehen.“5, oder als Produzenten, wie dies Walter Benjamin in Der Autor als Produzent (1977) postuliert.6 Solche Herangehensweisen stehen für eine negative Haltung gegenüber der formalistischen Werkästhetik, „welche das Kunstwerk als starre, kontextlose und überzeitlich valide Gegebenheit analysiert.“7 Entsprechend wird Jansson als äusserst bibliophile Künstlerin verstanden, die nicht nur das Artefakt in seiner finalen Version hochhält, sondern als eine Künstlerin, wie es Benn definiert, die den Akt der Kreation zelebriert und in Szene setzt, diesen ausserdem gleichzeitig auch funktionalisiert, um ihr Wirken ständig intensiv zu reflektieren.

Zweitens erscheint eine derartige Untersuchung ebenfalls aufgrund Janssons Facettenreichtum als Künstlerin und der turbulenten Werkgeschichte der Muminbücher vielversprechend. An diesen wurde über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrzehnten immer wieder gearbeitet, weshalb sich die Bücher auch kontinuierlich veränderten, inhaltlich wie auch gestalterisch. Beides lässt ein umfangreiches und spannend kreiertes handschriftliches Material vermuten, anhand dessen Fragestellungen diskutiert werden können, die weit über diejenigen der klassischen Editionsphilologie als „Lehre von der Konstituierung und Kommentierung der (literarischen) Texte“ hinausgehen. Dass Handschriften auf mannigfaltige Weise interpretativ nutzbar gemacht werden können, wurde in der Forschung bereits mehrfach konstatiert. So fragt etwa Klaus Hurlebusch: „[…] Ist sie [die Arbeitsweise] nur als Werkstatt von Texten und Varianten, nicht auch als Ausdrucksmedium eines Autors interessant?“8 Almuth Grésillon behauptet: „Literarische Handschriften sind Orte der ästhetischen Erfindung; ihr Wert besteht im Tun selbst […].“9 Und Hans Enzensberger postuliert gar, das Nachdenken über die Textentstehung sei zu einer zentralen, ja gar zu „der zentralen“, Frage der modernen Ästhetik geworden.10 Entsprechend bildet nachfolgend das handschriftliche Material die Grundlage, um Fragen aufzuwerfen, die etwa das künstlerische Selbstverständnis, Janssons werkkonstituierende Funktion und das vorherrschende Verständnis von Kunst betreffen. Ein derartiger Fokus beinhaltet, was bereits an früherer Stelle als zentrale Innovation des material turn genannt wurde: Die Emanzipation des Begriffs des „Materials“ von dem der „Form“ oder „Idee“. Material wird nicht mehr als etwas Unfertiges, zu Verarbeitendes betrachtet, sondern wird dadurch zum Medium und somit auch selbst zu einem Bedeutungsträger.

Die definierten Fragestellungen machen deutlich, dass bei der Analyse keine klassisch editionsphilologische Herangehensweise angestrebt wird. Die Fragestellungen konturieren weiter, wie der eingangs erwähnte Begriff „Produktionsästhetik“ verwendet wird. Er stellt im hiesigen Kontext einen Sammelbegriff dar, der einerseits der blossen Materialität, der Stofflichkeit der Dokumente, Rechnung trägt und so deren Status erhöhen soll. Andererseits beinhaltet er ebenfalls die angesprochenen poetologischen Fragestellungen, also das Sinnieren über das Machen und die Gemachtheit von Kunst. Dies wiederum offenbart sich nicht nur auf der stofflichen, sondern vor allem auch auf einer abstrakteren Ebene, die durch den stark selbstreferenziellen Charakter der Dokumente entsteht. Das Schreiben beziehungsweise die Handschriften betonen laut Martin Stingelin

[…] das produktionsästhetische Moment des schöpferischen Arbeitsprozesses, der vom Einfall, der Organisation, der Formulierung, der Aufzeichnung, der Überarbeitung und der Korrektur bis zu Veröffentlichung verschiedene Phasen umfasst.[…] Der skizzierte Arbeitsprozess dokumentiert sich in handschriftlichen oder typographischen Spuren wie Vorarbeiten (Exzerpten, Notizen und Fragmenten, Plänen), Entwürfen, verschiedene Fassungen, Arbeitshandschriften und Korrekturfahnen […].11

Somit sind Handschriften Spiegel des künstlerischen Arbeitsprozesses. Das Untersuchungsmaterial besteht aus den handschriftlichen Dokumenten, die sich in der Åbo Akademi im finnischen Åbo befinden. Da diese in der Forschung noch vergleichsweise wenig aufgearbeitet wurden, beginnt die Untersuchung mit der Schilderung der Archivsituation, mit allgemeinen Aussagen das Material betreffend sowie einem Werkstattbericht. Um oben formulierte Fragestellungen zu bearbeiten, werden ausgewählte Dokumente präsentiert, beschrieben und schliesslich im Rahmen einer diskursiven Darstellung zu den erwähnten Problemen in Beziehung gesetzt. Zur Bearbeitung werden die Dokumente in einem ersten Schritt in konzeptionelle Dokumente einerseits, und Dokumente der Textproduktion andererseits, separiert. An dieser Unterteilung orientieren sich die Unterkapitel.

Zur eigentlichen Analyse des ungedruckten Materials bietet die critique génétique geeignete Instrumente. Sie beschäftigt sich mit Handschriften und ist der Idee der Produktion von Literatur „als ein Tun, eine Handlung, eine Bewegung“ verpflichtet.12 Dieser Rahmen ergibt folgende Prioritäten:

[…] die der Produktion gegenüber dem Produkt, des Schreibens gegenüber dem Geschriebenen, der Textualisierung gegenüber dem Text, des Vielfältigen gegenüber dem Einzigartigen, des Möglichen gegenüber dem Abgeschlossenen, des Virtuellen gegenüber dem ne varieteur, des Dynamischen gegenüber dem Statischen, des Vollbringens gegenüber dem Vollbrachten, der Genese gegenüber der Struktur, der Äusserung gegenüber der Aussage, der bewegenden Kraft des Schreibens gegenüber der festgefrorenen Form des Gedruckten.13

Für das vorliegende Kapitel impliziert dies eine Herangehensweise, die dem handschriftlichen Material einen besonders hohen Status zukommen lässt und somit, materialitätstheoretisch gesprochen, ebenfalls dem Material und nicht nur der Form oder Idee eine Relevanz zuspricht.

Die Resultate bilden letztlich auch eine neue Basis für die viel geäusserte Behauptung, die Muminbücher seien Artefakte. Weiter werden die Erkenntnisse als Grundlage für die darauffolgenden Analysekapitel nutzbar gemacht, in denen untersucht wird, inwiefern die Gemachtheit von Literatur und seinem Medium, dem Buch, einerseits im Paratext der gedruckten Version reflektiert wird, andererseits auf inhaltlicher Ebene anhand von Schreib- und Leseszenen.

2.1. Sammeln – archivieren – dokumentieren: zum Untersuchungsmaterial

Janssons Hinterlassenschaft besteht neben ihrem umfassenden gedruckten literarischen Werk auch aus zahlreichen vollgeschriebenen Agenden und Tagebüchern, Skizzen und Manuskripten. Weiter schrieb sie ebenfalls Unmengen an Briefen und Postkarten. Es scheint daher legitim, Jansson als eine exzessive Schreiberin zu bezeichnen, sowohl im beruflichen wie auch im privaten Kontext. Dieses ganze Material wurde von Jansson gesammelt und akribisch geordnet. Dadurch entstand in ihrem Atelier in Helsinki eine Art privates Archiv, das jedoch bislang der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist. Bis heute hatte lediglich die Jansson-Forscherin Boel Westin unbegrenzt Zugang. Tove Jansson ist daher nicht nur eine exzessive Schreiberin, sondern eine ebensolche Sammlerin, was sich in der geschilderten Autoarchivierung ausdrückt. Das Material im Atelier wird von Westin, wenig erstaunlich, als äusserst umfangreich beschrieben. Die Dokumente sind sorgsam in Mappen oder Schubladen verwahrt, geordnet in verschiedene Bereiche mit Titeln wie: Presse, Manuskripte, Illustrationen oder Dankesreden.1 Jansson schien bestrebt, einen wichtigen und wertvollen Teil ihrer Produktion durch eine systematische Aufbewahrung zu erhalten. Vom Verlag verlangte sie zu diesem Zweck sogar explizit gedruckte Versionen einzelner Bücher oder etwa eingesandte Manuskripte zurück.

 

Die Forschung hingegen beachtet die Handschriften bis dato lediglich marginal. 2014, anlässlich von Janssons 100. Geburtstag, erschien das Buch Brev från Tove Jansson „Briefe von Tove Jansson“ mit Transkriptionen einer Auswahl von Briefen. Herausgegeben wurde es von Boel Westin und Helen Svensson. Das Projekt deutet vielleicht auf einen möglichen Wandel diesbezüglich hin. Auch wurden die Vorarbeiten kaum einer breiten Öffentlichkeit präsentiert, etwa in Ausstellungen, wie man dies etwa von anderen Autoren kennt. Anders zeigt sich die Situation bei den Skizzen für die Illustrationen. Seit 1986 befindet sich ein grosser Teil im Tammerfors Kunstmuseum, wo sie besichtigt werden können. Viele der Originalillustrationen sind jedoch verlorengegangen, sei es durch Ausstellungen, bei Verlagen oder sonstigen Ausleihen.2

Das grösste öffentlich zugängliche Konvolut an handschriftlichem Material gelangte durch eine Schenkung Janssons im Jahr 1978 in den Besitz der finnischen Åbo Akademi. Die Tove-Jansson-Sammlung in der Handschriftenabteilung besagter Åbo Akademi besteht aus neunzehn Mappen. Diese umfassen Manuskripte zu den Muminbüchern sowie Material zu einigen ihrer Romane für Erwachsene. Ebenfalls befindet sich ein Teil ihrer Briefkorrespondenz dort. Für die vorliegende Arbeit sehr fruchtbar etwa diejenige mit Schildts, ihrem finnischen Verlag. Das ungedruckte Material in der Åbo Akademi zeichnet sich durch eine grosse Bandbreite an unterschiedlichen Dokumenten aus, was es für eine Analyse besonders interessant macht. Es besteht aus Bilderskizzen, Textentwürfen und konzeptionellen Schriften. Wobei hier darauf aufmerksam gemacht werden muss, dass Skizzen zu den Illustrationen ausser im Falle von Pappan och havet nur sehr spärlich vorhanden sind. Beim Untersuchungsmaterial handelt es sich bekanntlich um eine Schenkung der Künstlerin. Das Material zur Schenkung wurde von ihr zusammengestellt. Teilweise versah sie es sogar mit Notizen, in denen sie sich etwa für deren Unvollständigkeit entschuldigt. Das Material wurde für die Öffentlichkeit präpariert und, so ist anzunehmen, durch die Künstlerin im Rahmen einer selbstgesteuerten Kanonisierung zensiert, diente somit ebenfalls einer Selbstdokumentation. Dies sind Umstände, die zu einem äusserst kritischen Umgang mit dem Material anhalten. Mit anderen Worten, Jansson stellte für ihre Werke selbst einen avant-texte her. Mit dem Begriff avant-texte bezeichnet Grésillon die „Gesamtheit aller überlieferten und chronologisch geordneten schriftlichen Zeugen zur Genese eines (vollendeten oder unvollendeten) Werkes.“3 Dies wiederum setzt laut Axel Gellhaus einen hoch entwickelten Begriff des Texts voraus, „dessen Entstehungszusammenhang man lediglich positiv-wissenschaftlich dokumentieren will.“4 Grésillon weist darauf hin, dass das Aufbewahren von Vorarbeiten ein neues Phänomen ist. Im 16. und 17. Jahrhundert gehörte dies nicht zur gängigen Praxis. Dies änderte sich auch im 18. Jahrhundert nicht, wo sich die Idee der Genieästhetik etablierte. Erst im 20. Jahrhundert begannen die Künstler damit, die Regeln der ästhetischen Produktion offenzulegen und zu kommentieren.5

Besagtes Material präsentiert sich in der Handschriftenabteilung der Åbo Akademi in einem weitgehend guten Zustand, wenn auch nicht ganz vollständig und weder durchgängig nummeriert noch datiert. Eine klare Vorliebe für ein spezielles Schreibgerät ist nicht zu erkennen. Jansson schrieb sowohl mit Bleistift als auch mit Tinte oder Kugelschreiber, in der Regel sehr gut leserlich und stets in Schreibschrift. Schreibrichtung und -grösse variieren stark in den einzelnen Dokumenten. Die Farbe variiert ebenfalls und reicht von Grün über Blau bis zu Schwarz. Weiter schrieb sie häufig auf lose Blätter im Format A4, aber auch auf Notizzettel unterschiedlichster Grösse und Art, in Hefte oder bei Umarbeitungen auch gerne direkt in eine bereits edierte Version. Sie schrieb meist im Hochformat. Das Papier, das Jansson wählte, ist liniert, unliniert oder auch kariert. Ferner finden sich bei den Textentwürfen sowohl vertikale als auch horizontale Faltspuren.

Schreiben war, wie bereits erwähnt, für Jansson ein integraler Bestandteil ihres Lebens, sowohl beruflich als auch privat. Es erstaunt daher nicht, dass sich in ihren Handschriften Textentwürfe für ein Buch mit persönlichen Notizen, Kritzeleien und Anmerkungen aller Art mischen. So können auf der gleichen Seite Text und Telefonnummern, einzelne Namen oder Entwürfe für Briefe nebeneinander stehen. Teilweise sind die Rückseiten von Manuskripten mit Einkaufslisten oder unterschiedlichen Nachrichten versehen. Viele Notizen machen den Anschein von Erinnerungshilfen oder spontanen Einfällen, die den Schreibakt unterbrochen haben könnten, sich aber gleichermassen auf dem Papier manifestieren. Ob beides tatsächlich gleichzeitig entstanden ist oder ob es sich viel mehr einfach um eine Art Papierrecycling handelt, ist allerdings nicht abschliessend zu beantworten.

„Och hon skriver, intensivt, nästan passionerat, dagar i sträck.“6 „Und sie schreibt, intensiv, beinahe passioniert, mehrere Tage hintereinander.“ So beschreibt Boel Westin Janssons Arbeitswut bei der Entstehung der ersten Version von Kometjakten, die 1945 auf Åland geschrieben wurde, und definiert so die Grundpfeiler von Janssons Arbeitsmoral. Tove Jansson selbst war einigermassen zurückhaltend mit Aussagen bezüglich ihrer konkreten Arbeitsweisen. Trotzdem lässt sich konstatieren, dass ihre Arbeitsabläufe ritualisiert waren. Dies betrifft einerseits Ort und Zeit des Arbeitens, andererseits die Reihenfolge, in der Bild und Text entstehen. Jansson schrieb praktisch immer und überall, der Sommer scheint aber jeweils eine besonders produktive Zeit gewesen zu sein. Ausserdem zog sie sich zum Schreiben mit Vorliebe auf ihre Insel im finnischen Schärengarten zurück.7 Erik Kruskopf nennt sogar eine klare räumliche Aufteilung bei den verschiedenen Arbeiten: in ihrem Atelier malte sie, auf Pellinge, der Insel, schrieb und illustrierte sie.8 Was die Abfolge betrifft, in denen die Bilder und der Text für ein Buch entstanden, hält sie nach eigenen Angaben eine strikte Reihenfolge ein. Der Text wird zuerst erstellt und erst dann mit Illustrationen ergänzt. Eine Ausnahme diesbezüglich bildet das Bilderbuch Den farliga resan. In diesem Fall war die Reihenfolge umgekehrt.

Laut Boel Westin dokumentierte Jansson die Arbeitsfortschritte der einzelnen Arbeiten immer akribisch genau in Tagebüchern und Agenden. Dabei wird auch ersichtlich, dass der Übergang vom einen zum nächsten Projekt meist fliessend war. Lange kreative Pausen gönnte sie sich kaum.9 Dieses Pensum stieg in Takt mit der steigenden Berühmtheit rasant an und erreichte einen Höhepunkt in den 1950er-Jahren. In dieser Zeit mutierte Jansson zum internationalen Megastar. Es waren Jahre geprägt von enormem Erfolg und damit einhergehend von einer zeitweise kaum zu bewältigenden Arbeitsbelastung.

2.2. Konzeptionelle Arbeiten

Für die Charakterisierung von Schriftstellern anhand ihrer Arbeitsweisen offeriert die Forschung unterschiedliche Typologien. Bodo Plachta beispielsweise unterscheidet Kopfarbeiter von Papierarbeitern. Während bei Ersteren die Planungsarbeit im Kopf stattfindet, materialisiert sie sich bei Letzteren auf dem Papier.1 Almuth Grésillons Typologisierung von Autoren anhand ihrer Arbeitsweise verläuft entlang derselben Unterscheidungsmerkmale. Sie differenziert zwischen dem produktorientierten Schreiben und dem prozessorientierten Schreiben. Als produktorientierte Autoren bezeichnet Grésillon Schriftsteller, die bei der Produktion einem bestimmten Plan folgen. Beim prozessorientierten Arbeiten hingegen fliesse die inventio direkt in die Hand.2 Da im ungedruckten Material zahlreiche Dokumente mit planerischem/konzeptionellem Inhalt vorhanden sind, lässt sich Jansson in Plachtas Terminologie als Papierarbeiterin, in derjenigen Grésillons als produktorientierte Schriftstellerin charakterisieren. Dabei weist Grésillon darauf hin, dass zwischen diesen Polen eine Achse verläuft, „auf der alle anderen Schreibweisen eingereiht werden können.“3

Das zu untersuchende ungedruckte Material wird unterteilt in konzeptionelle Dokumente einerseits, und Dokumente der Textentstehung andererseits. Bei den konzeptionellen Dokumenten handelt es sich um Planungsarbeiten, die sowohl den Inhalt der Erzählung, also die Plotentwicklung betreffen, als auch um solche, die sich mit der konkreten Buchgestaltung beschäftigen. Entsprechend ist das Kapitel zu den konzeptionellen Arbeiten in diese beiden Gruppen unterteilt. Zu den Dokumenten der Textentstehung gehören schliesslich die Textentwürfe.

2.2.1. Konzeptionelle Arbeiten: Inhalt
a) Mindmapping

Viele der gedruckten Versionen der Muminbücher sind mit Karten bestückt, welche die Erzählungen einleiten. Dazu existieren ebenfalls Vorarbeiten. Im direkten Vergleich offenbaren sich jedoch markante Unterschiede, die auf unterschiedliche Funktionen hindeuten. In diesem „rohen“ Stadium erinnern sie stark an Mindmaps. Rainer Totzke bezeichnet Mindmapping als das

[…] mehr oder weniger freie Arrangieren von Worten (Begriffen), Wortgruppen oder ggf. auch „Kernsätzen“ auf der zweidimensionalen Schreibfläche[…], um Prozesse der Wissensaneignung, der Wissensvertiefung oder der heuristischen Erzeugung neuen Wissens („Brainstorming“) zu induzieren.1

Entsprechend instrumentalisiert Jansson die Karten, oder Mindmaps, ebenfalls zur Erzeugung, Strukturierung und Kontextualisierung von Inhalten. Für Pappan och havet beispielsweise fertigt Jansson ein solches an (Abb. 2). Darin skizziert wird die Struktur des Narrativs. Diese Skizze besteht aus mehreren Komponenten. Oben auf der Seite ist in der rechten Ecke die Insel zu sehen. Weiter sind die Namen der Figuren zu erkennen, die sich auf die Insel zubewegen: Pappan, Mamman, Mumin, My. Ihre Route ist dank Linien deutlich zu erkennen. Ebenfalls zu sehen ist Mårran, jedoch abgesondert vom Rest der Gruppe. Eine mit ihrem Namen beschriftete Linie zeigt, dass auch sie dasselbe Ziel verfolgt. Jansson stellt hier das zentrale Element des Ortswechsels dar und präsentiert gleichzeitig das Figurenkabinett.

Abb. 2:

Skizze zu Pappan och havet. Detail.

Darunter findet sich eine Karte über die Insel, die sich die Muminfamilie, das heisst, vor allem Pappan, in diesem Buch zu eigen machen will. Anders als die äusserst spartanisch gestaltete Karte im Buch ist diese Skizze noch mit zahlreichen Details versehen. Der Leuchtturm (schw. fyr) sticht klar hervor. Das Wort wurde umkreist, was gleichzeitig auch den runden Grundriss des Leuchtturms andeutet. Darum herum sind zahlreiche andere Handlungsorte markiert, die für die Erzählung relevant sind. Die Orte sind teilweise auch mit Kommentaren versehen. So ist oben links das Haus des Einsiedlers eingezeichnet: „Betonghuset där den lyckliga ensittaren bor i.“ „Das Betonhaus, in dem der glückliche Einsiedler lebt.“ Daneben ist die Landzunge mit folgendem Kommentar versehen: „Detta näs blir översvämmat vid högvatten och vid blåst får man hoppa på klivstenar.“ „Diese Landzunge wird bei Hochwasser überschwemmt und bei Wind muss man auf Trittsteine springen.“ Folgt man der Küste weiter, kommt schliesslich der Spielplatz der Seepferde: „Sjöhästarnas lekplats, sand“ „der Spielplatz der Seepferde, Sand.“ Um den Leuchtturm herum sind weitere Schauplätze eingezeichnet. Von links nach rechts: „Röda bergen“ „Roter Berg“, „Heta ljunglandet“ „das heisse Heideland“, „Myren med hjorton“ „das Moor mit Moltebeeren“, „De darrande asparna“ „die zitternden Espen“, „Vedbod“ „Holzschuppen“, „Mammans trädgård“ „Mammans Garten“, „Sump“ „Sumpf“, „Bottenlösa sjön“ „Bodenloser See“ „Svarta berget“ „Schwarzer Berg.“ Wie erwähnt, sind all diese Informationen in der Karte der gedruckten Version jedoch nicht mehr zu finden, obwohl einige der beschriebenen Handlungsorte in der Erzählung vorkommen. Ein deutliches Indiz dafür, dass diese Abbildung während der Arbeit noch einem anderen Zweck diente, nämlich dem, die beschriebenen Handlungsorte gedanklich zu ordnen.

Das Mindmap, welches sich in den Vorarbeiten zu Sent i november findet (Abb. 3), erinnert von der Grundstruktur her stark an die Karte, die im Buch abgedruckt ist (Abb. 4). Die dominanten Elemente wie etwa das Muminhaus oder der Fluss sind darauf bereits zu erkennen. Beschriftet sind der Flieder (schw. Syren), die Stelle an der Brennholz gelagert wird (schw. ved) und schliesslich der Jasmin (schw. Jasmin). Spezielle Beachtung verdienen jedoch die Markierungen in Farbe, die das Agieren der Figuren illustrieren sollen und sich in der gedruckten Version auf der Karte nicht finden. In der rechten oberen Ecke sind in einer Legende die Namen der Figuren aufgelistet: Snusmumriken, Hemul, Toft, Mymlan, Filifj., Onkelskruttet. Jeder Name ist in einer anderen Farbe geschrieben, diese wiederholen sich auf dem Mindmap, wo die Bewegungen der Figuren abgebildet sind. So lässt sich etwa ablesen, dass die von zahlreichen Zwangsneurosen geplagte Filifjonkan das Muminhaus nicht verlässt. Die Verwendung von Farben ist umso bemerkenswerter, zieht man in Betracht, dass die Illustrationen in den Büchern schwarz-weiss sind. Auch diese Markierungen fehlen auf der Karte der edierten Version, was beweist, dass auch sie als Mindmap in erster Linie als Strukturierungshilfe während der Arbeit dienten. Ausserdem offenbaren sie einen Einblick in eine wohlgeplante Choreographie, was das Agieren der einzelnen Figuren betrifft.

 

Abb. 3:

Skizze zu Sent i november.

Abb. 4:

Karte aus Sent i november.

In den besprochenen Beispielen wird nicht nur die werkstrukturierende Funktion solcher Schriften überdeutlich, sondern auch ein stark visuelles Erarbeiten des Gerüsts der Erzählung. Erik Kruskopf betont gar, dass Bild und Text in Janssons Schaffen nicht nur im gedruckten Text eine Einheit bilden und sich gegenseitig stützen, sondern dass Bild und Text auch während des Schaffensprozesses einen reziproken Effekt haben.2 Als

[…] Laboratorien epistemischen Schreibens/Zeichnens sind diese Arten diagrammatischer Artefakte oftmals sogar darauf angelegt, spielerisch zu „verfremden“ und dabei möglichst viele kreative Assoziations- und Interpretationsspielräume zu eröffnen.3

Es handelt sich also um eine Art der Konzepterarbeitung, die in besonderem Masse auch kreativen Raum für eine stetige Weiterentwicklung bietet.

Diese enge Beziehung zwischen visuellem und verbalem Planen wird im nächsten Bild noch deutlicher. Es zeigt ein Beispiel aus den Vorarbeiten zu Farlig Midsommar (Abb. 5). Neben einem Mindmap, welches, wie gerade eben erwähnt, bereits sowohl visuelle als auch verbale Komponenten enthält, ist dieses begleitet von einer Art Inhaltsverzeichnis auf der unteren Hälfte des Blatts. Beides befindet sich auf einem Blatt Papier, was deren enge Verbindung weiter unterstreicht. Links im Mindmap ist das Muminhaus (schw. m.hus) markiert. Eine gestrichelte Linie veranschaulicht schliesslich den Weg zum Theater und dessen Weg in die Bucht. Erst dort ist das Theater als solches beschriftet (schw. teat). Um das Theater herum sind die verschiedenen Handlungsorte dargestellt. Von links nach rechts ist als Erstes ein Feuer zu sehen, welches für das Mittsommerfest („mids“ „Mittsommer“) steht, dann das Haus der Filifjonkan (schw. Filiff) ist eingezeichnet wie auch der Park, der mit einem kleinen Rechteck skizziert ist. Ausserdem ist noch die Stelle markiert, an der Lilla My im Nähkorb ankommt. Die skizzierten Elemente sind in diesem Stadium noch auf das Minimum beziehungsweise auf diejenigen Elemente beschränkt, welche für die inhaltliche Architektur der Erzählung relevant sind.

Abb. 5:

Konzeptarbeit Farlig midsommar.

Das Inhaltsverzeichnis darunter ist nicht vollständig. Es umfasst drei Kapitel. Diese sind lediglich mit Nummern versehen. Zusätzlich ist jedoch angegeben, wie viele Seiten die einzelnen Kapitel umfassen sollen. Die einzelnen Kapitel enthalten eine stichwortartige Zusammenfassung der Handlung, doch diese betreffen ausschliesslich strukturelle Elemente des Narrativs. Das heisst, sie beschreiben vor allem die Abspaltung der unterschiedlichen Erzählstränge. Die verschiedenen Erzählstränge sind das architektonische Hauptmerkmal der Erzählung. Unter Kapitel 1 werden vor allem die Bedeutungen zentraler Motive erläutert. In Kapitel 2 werden in einem ersten Schritt Mumin und Snorkfröken von der Gruppe getrennt, wodurch ein weiterer Handlungsstrang losgetreten wird. Kapitel 3 ist spannenderweise weiter in die verschiedenen Handlungsstränge unterteilt: Mumin-delen, Teater-delen, My-delen (Mumin-Teil, Theater-Teil, My-Teil). Die Einteilung stimmt mit derjenigen der gedruckten Version nicht vollständig überein.

Transkription Abbildung 5:

Kap. 1. barkbåten = idyll. vulkanen. springfloden. grepning och kaffe. Homsans o Gafsans visit. Vattnet stiger.

Kap. 2 Teatern anländer. Emma. Acklimatisering. Övernattning i träd. Sällskapet skiljs dramatiskt i två delar.

Kap. 3 Mumin-delen vaknar och startar. Teater-delen stöter på grund och sällskapet skiljs utterligare.

My-delen träffar Snusm. Parkvakten. Barnen följer Snusm.

Mumin-delen gör kokko. Filifjonkan. Tagna av polisen.

Teater-delen, samtal med Emma. Beslut om skådespel.

My-delen, besvär med barnen i skogen. Upptäckt av Filif.s. hus.

Kap. 1. Spielzeugschiff = Idylle. Springflut. Verhaftung und Kaffee. Homsans und Gafsans Besuch. Das Wasser steigt.

Kap. 2 Das Theater kommt an. Emma. Akklimatisierung. Übernachtung im Baum. Die Gesellschaft wird dramatisch in zwei Teile geteilt.

Kap. 3 Der Mumin-Teil erwacht und beginnt. Der Theater-Teil stösst auf Grund und die Gemeinschaft wird erneut getrennt.

Der My-Teil trifft Snusm. Der Parkwächter. Die Kinder folgen Snusm.

Der Mumin-Teil macht (Mittsommer)Feuer. Filifjonkan. Von der Polizei aufgegriffen.

Der Theater-Teil, Gespräch mit Emma. Beschluss betreffend das Theaterstück.

Der My-Teil, Schwierigkeiten mit den Kindern im Wald. Entdeckung von Filif.s. Haus.

Unter dem handschriftlichen Material findet sich eine weitere Art der Konzeptentwicklung mit einer klaren räumlichen Struktur, die sich von links nach rechts erstreckt.4 Für Muminpappans memoarer erstellt Jansson eine Art Storyboard für einen Teil der Handlung. Storyboards werden vor allem in der Filmbranche verwendet, wo das Drehbuch für die narrativen Elemente der Geschichte steht, das Storyboard entsprechend für die visuellen.5 In Janssons „Storyboard“ wird jedoch Nichtvisuelles, der Inhalt des Narrativs, überwiegend visuell dargestellt. Dies geschieht auf eine sehr verdichtete Art und Weise. Sachverhalte verdichtet darzustellen ist laut Rainer Totzke eine zentrale Eigenschaft von Diagrammen generell, zu denen im weitesten Sinne auch Storyboards gezählt werden können.6 Im erwähnten Beispiel sind drei Abschnitte mit folgenden Überschriften formuliert: die Flucht, das Boot, die Insel. Die oberste Zeile ist mit „Rymn.“ „Flucht“ beschriftet. Die geschilderten Ereignisse sind diejenigen von Kapitel 1, die meisten sind mit Hilfe von Symbolen dargestellt: das Verlassen des Waisenhauses bei Nacht (Haus mit Stern), das traumatische Erlebnis, bei dem Pappan auf dem Eis in das Wasser einbricht (Eisscholle), sein Weg durch den Wald (Bäume), sein Hausbau (Haus) und schliesslich die Bekanntschaft mit Fredrikson, der ihm von dort an ein treuer Gefährte sein wird. Er ist nicht mehr bildnerisch dargestellt, sein Name ist jedoch schriftlich vermerkt (Fredr.). Die nächste Zeile trägt den Titel „Båten“ „das Boot“. Das erste Symbol steht für die Kaffeedose, die von Rådd-djuret bewohnt wird. Mit dem Symbol daneben ist Joxarens dreieckförmiger Hut angedeutet. Beides sind Figuren, die in Kapitel 3 eingeführt werden. Darauf folgt der lang ersehnte Stapellauf (schw. sjösättn.) ihres Schiffes. Dieses Ereignis ist schriftlich festgehalten. Hemulens moster ist wiederum gezeichnet. Schriftlich ist jedoch vermerkt, dass sie gerettet wird (schw. räddas). Sie wird von Pappan aus dem Meer gezogen, als sie sich, auf der Flucht vor Mårran, ins Wasser stürzt. Die übrigen Ereignisse sind schriftlich festgehalten: die Invasion der Klippdassar (schw. klippd.), das Meer (schw. havet) und schliesslich die Seefahrt (schw. sjöresan). Die Ereignisse umfassen die Kapitel 3 und 4. Die unterste Zeile ist den Ereignissen auf der Insel gewidmet und entsprechend mit „ön“ „die Insel“ betitelt: „Drontmöte“ „Das Treffen mit Dronten“, „Myml.dotter“ „Tochter der Mymla“, „överr.fest“ „Überraschungsfest“, „Telegram“ „Telegramm“, „Koloni“ „Kolonie“, „spöket“ „das Gespenst“. Alle diese Angaben sind schriftlich. Die Aufzeichnungen im Storyboard umfassen einen Grossteil der Handlung, jedoch ist der eigentliche Höhepunkt der Erzählung, der Moment, in dem Pappan auf Mamman trifft, nicht vermerkt.