Heideopfer

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11:57 Uhr

»Ha, da hab ich’s«, rief Tobi freudig in den Raum.

»Was hast du?«, fragte Vivien. Sie und Tobi hatten nach ihrem kurzen Gespräch am frühen Vormittag kaum mehr ein Wort miteinander gewechselt. Beide hatten sich jeweils auf ihre Computer konzentriert, um zu recherchieren, ob es irgendetwas gab, das sie im Fall des Knochenfunds im Wilschenbruch weiterbringen könnte. Ob es tatsächlich ein Fall war, würden sie jedoch erst wissen, wenn Katharina und Ben zurück im Büro waren.

»Na, diese Sache mit dem Schädel in der Ilmenau. Wahnsinn, das war schon 2014, ich hatte gedacht, es sei später gewesen«, sagte Tobi, ohne seinen Blick vom Computerbildschirm abzuwenden.

»Erzähl mal genau«, forderte Vivien ihn gespannt auf.

»Also, die Ilmenau, oder nein, ihr Flussbett, wird ja jedes Jahr gesäubert«, begann Tobi und Vivien machte ein zustimmendes »hmhm« als Zeichen, dass sie dies auch als Zugezogene aus Kassel wusste.

Tobi fuhr fort: »Ja, und da haben die damals im Abschnitt zwischen Abts- und Ratsmühle, das heißt irgendwo an der Altenbrückertorstraße, einen menschlichen Schädel im Schlick gefunden.«

»Schädel, nein, es wurde eine Hand gefunden, ob da auch ein Schädel dranhängt, wissen wir noch nicht«, unterbrach die Stimme von Katharina den Kommissar. Sie und Ben waren eben eingetreten.

»Hi, das ging aber schnell, ich hätte gedacht, ihr seid länger weg«, begrüßte Tobi die beiden Kollegen.

»Na, immerhin hattest du knapp eineinhalb Stunden Ruhe von uns«, neckte Katharina ihn.

»Zeit genug, um ein bisschen was herauszufinden«, sagte Tobi.

»Dann seid ihr besser als wir«, schaltete sich jetzt Ben ein. »Wie gesagt, wir wissen noch nichts Genaues über den Fund. Patrick ist mit seinen Leuten im Moment vor Ort und spielt den Archäologen. Mal sehen, was die zutage fördern. Vielleicht bleibt es nur bei der Hand, vielleicht nicht.«

»Patrick?«, hakte Tobi nach.

»Patrick Peters. Entschuldige, ich hab vergessen, dass du ihn noch nicht kennst. Er ist der neue Leiter der Spurensicherung. Guter Mann«, informierte Benjamin Rehder ihn.

»Stimmt, ich glaube, ihr habt ihn einmal erwähnt«, antwortete Tobi. Dann fuhr er fort: »Erinnert ihr euch noch an den Schädelfund in der Ilmenau vor ein paar Jahren? Ich habe gerade Vivien davon erzählt.«

»Ja, jetzt, wo du es sagst … Wir wurden doch auch dorthin gerufen, aber dann hat ein anderes Dezernat den Fall übernommen, oder?«, erinnerte sich Katharina, und auch Ben nickte.

»Ja, stimmt. Die Kollegen haben damals in der Nähe des Schädels noch irgendeine Klamotte gefunden, was für eine, das stand nicht in den Akten, und sie konnte auch dem Schädel nicht zugeordnet werden. Na ja, ihr wisst ja, was die sonst auch noch jedes Jahr bei der Aktion in unserem schönen Flüsschen finden. Fahrräder oder auch Kühlschränke sind da keine Seltenheit. Darum sind die Kollegen seinerzeit wohl auch nicht näher auf das gefundene Kleidungsstück eingegangen. Sie haben auch noch andere Knochenfragmente gefunden. Die waren jedoch von Tieren. Der Schädel war aber eindeutig menschlich. Wer weiß, vielleicht gehört er ja zu der Hand aus Wilschenbruch. Auf jeden Fall konnte nicht geklärt werden, zu wem er gehört. Es war auch kein Vermisstenfall bekannt, zu dem der Fund passte, abgesehen davon, dass auch nicht herausgefunden werden konnte, ob der Schädel zu einer Frau oder einem Mann gehört hatte. Genauso war auch nicht klar, ob ein Verbrechen oder Suizid vorlag, denn der Schädel hatte keine Verletzungen. Einige vermuteten sogar in ihm eine Theaterrequisite, oder dass Schüler das gute Stück aus dem Biologieunterricht mitgehen ließen und in der Ilmenau versenkt haben, wobei hier in der Gegend wohl kein echter Schädel irgendwo fehlte. Meistens sind die ja auch sowieso nachgemacht … Die Aufräumarbeiten haben allerdings um Halloween stattgefunden. Darum hielt sich das Gerücht, dass sich einfach jemand einen üblen Scherz erlaubt und den Schädel kurz zuvor ins Wasser geworfen hatte.« Puh, so viel am Stück hatte Tobi lange nicht mehr gesprochen, aber zu seiner eigenen Überraschung war es ganz gut gegangen, und er war gar nicht so häufig ins Stocken geraten.

»Ach, die Diskussion wegen Halloween und dass er auch aus irgendeinem Fundus stammen könnte, habe ich damals gar nicht mitbekommen«, sagte Katharina interessiert. »Ich frag Frauke da mal, die wird ja ihre Unterlagen dazu noch haben.«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, legte Tobi seine Stirn zweifelnd in Falten. »Die rechtsmedizinischen Untersuchungen sind damals in Hamburg gemacht worden. Ich schätze mal, weil unsere Frau Doktor keine Kapazität mehr hatte und das Institut für Rechtsmedizin in Hamburg ja sowieso für unseren Kreis zuständig und unsere Lüneburger Rechtsmedizin nur eine kleine Außenstelle ist.«

»Na, das mit dem klein lass mal Frauke nicht hören«, griente Ben, und auch Tobi musste grinsen, denn sein Chef hatte recht: die Lüneburger Rechtsmedizinerin fand es seit jeher überflüssig, dass das Institut in Hamburg ihr vorgesetzt war, da sie sowieso eigenständig arbeitete. Dies wiederum lag nicht zuletzt an der Tatsache, dass man ihren Fähigkeiten in Hamburg mehr als vertraute, und so hatte sie im Grunde alle Freiheiten, die sie sich auch nahm. Nichtsdestotrotz musste sie regelmäßig an die Hamburger berichten.

»Aber du hast recht, Katharina, frag Frauke trotzdem. Vielleicht kann sie ja in Hamburg mal nach deren Unterlagen fragen. Unsere Kollegen haben den Fall damals zumindest schnell zu den Akten gelegt, wenn ich mich richtig entsinne.«

»Gute Vorarbeit, Tobi, danke. Wer weiß, vielleicht hat ja tatsächlich das eine mit dem anderen zu tun, wir werden sehen«, lobte Ben und ging einen Schritt in Richtung seines Büros, doch Tobi hielt ihn auf: »Warte noch, Ben. Ich glaube, Vivien hat auch was für euch, oder?« Zwar hatte Vivien ihm eben nichts dazu gesagt, aber sie hatte wie er ebenfalls die ganze Zeit an ihrem Computer gesessen und sich zwischendurch immer wieder Notizen gemacht. Natürlich hätte sie sich auch von allein zu Wort melden können, aber er wollte ihr und auch Ben und Katharina zeigen, dass er Viviens Arbeit ernst nahm und sie nicht in Konkurrenz zueinander standen, sondern Hand in Hand arbeiteten.

»Ja, ich hab etwas«, meinte Vivien und warf Tobi einen herzlichen Blick zu. »Ich hab mal recherchiert, wer so in den letzten Jahrzehnten in dem Haus gewohnt hat beziehungsweise wem es gehört, aber vielleicht wisst ihr das ja schon?«

»Ja«, bestätigte Katharina, »die neuen Hausbesitzer waren heute durch Zufall vor Ort. Ein junges Ehepaar mit zwei Kindern. Reimann heißen die. Sie wollten ein bisschen beim Abriss zuschauen, und dann kam die böse Überraschung mit der Hand. Das Haus gehört der Frau, die dann jedoch mit den kleinen Kindern weggegangen ist, als die Spusi ihre Arbeit aufgenommen hat. Ihr Mann hat uns dann den Namen der ehemaligen Besitzerin genannt, eine Frau … Moment …«

Katharina zückte ihr kleines Notizbüchlein, blätterte es auf und meinte dann: »Frau Adler, Evelyn Adler. Mehr wissen wir noch nicht.«

»Das deckt sich mit meinen Informationen«, bestätigte Vivien und wollte gerade weiterreden, als Ben sagte: »Lasst uns doch bitte an den Besprechungstisch gehen, dann muss ich hier nicht so herumstehen. Und wie es scheint, habt ihr uns ja so einiges zu berichten. Wie gesagt haben Katharina und ich noch nicht so viel. Die Befragungen der Anwesenden vor Ort haben bisher nichts ergeben. Wir müssen einfach mehr über die Hand wissen und erst einmal die Ergebnisse der Spusi und Rechtsmedizin abwarten.«

Keine zwei Minuten später am Besprechungstisch versammelt, forderte Ben Vivien auf, weiter zu berichten, vorab fragte diese jedoch in die Runde: »Ich mache das chronologisch und fange von hinten an, ist das okay für euch?«

»Ja, sicher, leg einfach los«, antwortete Katharina für sich und ihre beiden männlichen Kollegen.

»Gut, vorweg noch eines: Die Grundstücke in Wilschenbruch sind größtenteils Erbbaugrundstücke. Unseres im Spechtsweg auch. Darum habe ich zum einen eine Liste der Hausbesitzer und zum anderen eine der Pachtzahler angelegt, wobei die sich nur in einem Fall unterscheiden, aber vielleicht ist das ja mal wichtig für uns.«

»Soll ich an der Glaswand mitschreiben, dann haben wir die Namen alle vor Augen?«, bot Katharina an.

»Ich denke, das brauchst du nicht, so viele Personen habe ich gar nicht, aber klar, wenn du möchtest«, antwortete Vivien.

»Kann ja nicht schaden«, erwiderte Katharina, erhob sich und stellte sich mit gezücktem Stift, den sie sich vorher von Bens Schreibtisch gegriffen hatte, an die Wand.

»Gut«, sagte Vivien und begann: »Ich überspringe mal den historischen Teil über Wilschenbruch und insbesondere den Spechtsweg, in dem 1920 die ersten Häuser errichtet wurden, aber ich denke mal, so lange müssen wir auch nicht zurückgehen.«

»Wahrscheinlich nicht«, gab Benjamin Rehder ihr mit einem zustimmenden Lächeln recht.

»Für das besagte Grundstück im Spechtsweg hatten wir übrigens Glück«, fuhr Vivien fort, »hier ist die Stadt Lüneburg Erbbaurechtgeber. Es gibt auch private Erbbaurechtsgeber in Wilschenbruch, und dann hätte es sicher länger gedauert, bis ich Informationen bekommen hätte.«

»War das immer schon so mit diesen Erbbaugrundstücken?«, wollte Katharina wissen.

»Nicht immer, aber in den letzten 60 Jahren«, antwortete Vivien »und die bin ich ungefähr auch zurückgegangen. Damals gehörte das Haus Jürgen Kruse, der im Übrigen auch als Pachtzahler gelistet ist.«

Katharina schrieb an die Glaswand »Hausbesitzer« und daneben »Pachtzahler«. Unter beides schrieb sie den Namen, den Vivien genannt hatte und jeweils in Klammern »ab ca. 1960«. So verfuhr sie auch mit dem nächsten Namen, den Vivien nannte, Marianne Kruse. »Sie war die Witwe des 1974 verstorbenen Jürgen Kruse, das habe ich aus dem Register«, ergänzte Vivien ihre Auskunft und fuhr fort: »Auf Marianne Kruse folgte dann auch schon ab 1993 Evelyn Adler als Besitzerin. Also die aktuelle Hausverkäuferin, deren Namen ihr bereits genannt bekommen habt. Interessant ist hier, dass Evelyn Adler bereits ab August 1991 das Pachtgeld entrichtet hat.«

 

»Sie hat also bereits die Pacht gezahlt, als ihr das Haus noch nicht gehörte, das heißt wohl, dass sie im Haus gelebt und Marianne Kruse es an sie vermietet hat«, schloss Tobi.

»Könnte so sein«, meinte Ben.

»Das ist aber noch nicht alles«, ergriff Vivien erneut das Wort.

»Sagtest du nicht, Pachtzahler und Hausbesitzer würden nur in einem Fall nicht identisch sein?«, unterbrach Katharina sie jedoch.

»Entschuldigt, dann hab ich mich wohl blöd ausgedrückt, es gibt nämlich noch einen Pachtzahler, aber der war nie Hausbesitzer. Und das wollte ich euch auch gerade sagen.«

»Ach«, entfuhr es Tobi.

»Genau, das habe ich mir auch gedacht. Der Mann heißt Peter Kruse. Er hat die Pacht von Januar 1986 an bis einschließlich Juni 1991 gezahlt. Im Juli ist sie wieder von Marianne Kruse gezahlt worden und danach, schon einen Monat später, wie gesagt von Evelyn Adler. Kruse ist zwar nicht gerade ein seltener Name, aber ich nehme an, dass zwischen Marianne und Peter ein Verwandtschaftsverhältnis besteht, vielleicht ist er ihr Sohn, Neffe oder auch der Bruder ihres verstorbenen Mannes. Ich habe es noch nicht geschafft, das herauszufinden. Das wollte ich gerade machen, als ihr zurückgekommen seid.«

»Das kannst du später machen. Warten wir erst einmal ab, was die Spusi zutage fördert«, sagte Ben und rückte seinen Stuhl vom Tisch ab, um aufzustehen. »Jetzt sollten wir erst einmal Mittag machen, denn ich für meinen Teil habe Hunger.«

14:03 Uhr

Als die Nachricht sie erreichte, war sie gerade beim Mittagessen gewesen. Jetzt stand das Rumpsteak mit Kartoffeln seit einer halben Stunde halb aufgegessen vor ihr, und ihr war schlecht. Sie brachte keinen Happen mehr herunter, zumal sie ihr Steak, so wie sie es mochte, nur angebraten hatte und es nun in einem blutigen Bratensaft vor ihr auf dem Teller lag. Das Tierblut hatte bereits die Pellkartoffeln erreicht und färbte sie langsam bräunlich ein, was ein lang verdrängtes Bild in ihr wieder hochkommen ließ. Sie hätte den Teller auch einfach abräumen und das Essen in den Müll kippen können, doch sie war kaum in der Lage, sich zu regen. Warum war sie bloß ans Telefon gegangen? Andererseits hätte sie es früher oder später sowieso erfahren. Er war wieder aufgetaucht. Und mit ihm all die schrecklichen Erinnerungen. Allerdings waren die nicht so schlimm wie das, was jetzt höchstwahrscheinlich auf sie zukommen würde. Sie stützte ihre Arme auf die Tischplatte und vergrub den Kopf in den Händen. Aus ihren geschlossenen Augen quollen die Tränen. Was sollte sie jetzt nur machen? In ihrem Körper schrie alles nach Flucht. Einfach nur weglaufen, dann konnte er ihr nichts mehr anhaben. Aber was, wenn sie trotzdem gefunden wurde? Dann würde alles nur noch schlimmer sein. Außerdem wusste sie gar nicht, wohin.

Reiß dich zusammen, du bist ihm schon einmal entkommen, meldete sich eine Stimme in ihr. Du musst nur ruhig bleiben. So wie damals, dann kann dir nichts passieren! Stimmte das? Konnte er ihr nichts mehr anhaben? Sie war sich da nicht so sicher. Vielleicht hätte sie damals schon reden sollen, aber nun war es zu spät, und er war wieder aufgetaucht.

Ein Ruck ging durch ihren Körper. Sie öffnete die Augen, setzte sich aufrecht hin, wischte sich mit dem Handrücken grob die Tränen aus dem Gesicht, erhob sich, griff nach ihrem Teller, machte die Schranktür unter der Spüle auf und ließ ihr Essen, ohne es noch einmal anzusehen, in den Müll gleiten. Dann ging sie zur Garderobe, zog sich Schuhe und eine leichte Jacke an und verließ die Wohnung, um ihren täglichen Spaziergang zu machen. Ja, er war wieder da, und er würde sie sicher demnächst heimsuchen, doch bis dahin wollte sie ihr Leben so leben, wie sie es immer tat. Dennoch begann sie, leise vor sich hinzusummen. So wurde das beklemmende Gefühl hoffentlich nicht zu übermächtig.

Gedicht

»Wie kannst du ruhig schlafen,

Und weißt, ich lebe noch?

Der alte Zorn kommt wieder,

Und dann zerbrech ich mein Joch.

Kennst du das alte Liedchen:

Wie einst ein toter Knab

Um Mitternacht die Geliebte

Zu sich geholt ins Grab?

Glaub mir, du wunderschönes,

Du wunderholdes Kind,

Ich lebe und bin noch stärker

Als alle Toten sind!«

(Heinrich Heine)

Kapitel 3
Dienstag, 10.03.2020

11:03 Uhr

»Tobi, wie schön, dich hier in diesen Räumen auch mal wieder zu sehen! Und, wie geht es dir? Was machen die Gehirnlappen? Anscheinend ist ja alles wieder so, wie es sein soll«, freute sich Frauke Bostel aufrichtig, als sie Tobias Schneider begrüßte. »Komm mal her und lass dich drücken! Das wollte ich schon immer mal machen!«

Tobi verdrehte seine Augen, grinste jedoch wie ein Honigkuchenpferd, als er auf die Rechtsmedizinerin zutrat und sich von ihr umarmen ließ.

»Frauke, du weißt ja, wäre ich nicht schon vergeben …«, gab er zurück, wobei jeder im Raum, eingeschlossen Frauke Bostel, wusste, dass es scherzhaft gemeint war. Sie lachte auf und meinte: »Jaja, immer noch der alte Schwerenöter.« Dann gab sie ihn frei und ging an den metallenen Obduktionstisch, auf dem wie eine Tischdecke ein hellgrünes Laken ausgebreitet war, unter dem deutlich etwas lag.

Tobi, Ben und Katharina taten es ihr gleich. Vivien war im Kommissariat geblieben, um die Stellung zu halten. Normalerweise hätte Tobi das ebenfalls getan, doch der Kommissar hatte die Gelegenheit nutzen wollen und war mitgekommen, da er Frauke Bostel schon länger nicht gesehen hatte. Zwar hatte auch sie ihn während seiner Genesungszeit besucht, da sie sich jedoch nicht so nahestanden nicht mehr, seit er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, und das war bereits über ein Jahr her.

»Ich schätze, die Spusi hat euch bereits informiert?«, fragte Frauke.

»Hat sie«, bestätigte Ben.

»Gut«, erwiderte die Rechtsmedizinerin. »Ich hatte heute Morgen noch einen Physiotermin, darum kann ich euch noch nicht viel sagen. Sowieso wird es eine Weile dauern, bis ich meine Untersuchungen abgeschlossen habe. Ich muss eine Knochenanalyse machen, um den Zeitpunkt des Todes festzustellen oder ihn zumindest einigermaßen eingrenzen zu können. Hierfür müssen auch die Bodenproben berücksichtigt werden. Um die kümmert sich die Spusi, aber ich muss das Ergebnis dann ins Verhältnis setzen, damit ich die Dauer des Verwesungsprozesses einigermaßen bestimmen kann und so weiter. Na, ihr wisst schon, diese ganzen forensischen Dinge halt.«

»Tun wir, und wie sieht es jetzt da drunter aus?«, fragte Ben und deutete auf das Laken, das Frauke Bostel daraufhin vorsichtig vom Tisch nahm, indem sie es Stück für Stück zusammenlegte. Dabei sagte sie: »Auf jeden Fall braucht ihr euch nicht die Nasen zuzuhalten.«

»Na, dann ist gut«, sagte Tobi und schielte zu Ben hinüber, dem es, im Gegensatz zu Katharina und natürlich auch Frauke Bostel, wie ihm ging: Die beiden Männer hatten sich nie an den Geruch bei einer Leichenschau gewöhnt. Sie legten sich stets eine Mund-Nasenmaske an, damit sie die Gase, die sich im Bauchraum einer Leiche ansammelten und bei deren Öffnung frei im Raum entfalteten, nur vorgefiltert einatmen mussten. In seiner Ausbildung zum Kommissar hatte Tobi einmal den Fehler begangen, sich, statt einer Maske aufzusetzen, China-Öl unter die Nase zu reiben. Seine Augen hatten daraufhin heftig getränt, sodass er kaum etwas sehen konnte. Doch das war es nicht, was ihn veranlasst hatte, das China-Öl nicht mehr zu nutzen. Er liebte Pfefferminzschokolade über alles, doch nach der China-Öl-Aktion in Verbindung mit der Leichenöffnung hatte alles, was es an Hustenbonbons und auch Pfefferminzigem zu essen und zu trinken gab, Übelkeit in ihm hervorgerufen. Bei Ben war es ähnlich gelaufen, soweit Tobi es wusste. Seitdem griffen beide zu einer Maske, wenn sie in die Rechtsmedizin mussten, und glücklicherweise hatte sich inzwischen auch die Abneigung gegen Menthol wieder verflüchtigt – zumindest bei ihm. Wenn er es nicht vergaß, würde er Ben nachher einmal fragen, wie es bei ihm war. Dass Katharina der Geruch in Fraukes heiligen Hallen nicht soviel ausmachte, führte sie selbst darauf zurück, dass sie Raucherin war, da Rauchen den Geschmacks- und Geruchssinn nachweislich verminderte. »Es hat eben irgendwie alles sein Gutes, das werdet ihr gleich wieder riechen und ich nicht«, hatte sie einmal flachsend gesagt, als sie sich vor einem Besuch in der Rechtsmedizin noch schnell vor der Tür eine Zigarette angesteckt hatte und ihre Kollegen dazu die Nase gerümpft hatten.

Jetzt sollte die Rechtsmedizinerin aber recht behalten. Als sie die Knochen auf dem Stahltisch komplett aufgedeckt hatte, entfaltete sich nicht der übliche Geruch von Fäulnis im Saal. Es roch nur ein bisschen moderig, etwa so wie ein nasser, schon mindestens ein Jahr lang aufgehäufter Blätterhaufen es tat.

»Tja, es ist glücklicherweise ja nun nicht nur bei der Hand geblieben, sondern ihr seht hier ein nahezu komplettes, menschliches Skelett. Mit Kopf! Der Schädel aus der Ilmenau bleibt also ein Geheimnis, und Tobi, ich denke, du brauchst dann keine Unterlagen mehr dazu, richtig?«

»Erst mal wohl nicht, außer, wir haben es mit einem Serientäter zu tun und die Fälle hängen zusammen«, bestätigte Tobi sie.

»Gut, das erspart mir einiges an Zeit, und ich kann mich hierauf konzentrieren. Wenn ihr die Unterlagen jedoch später braucht, dann gebt Bescheid. Sie sind ja nicht weg, ich müsste mich nur drum kümmern«, antwortete die Rechtsmedizinerin.

»Du sagtest eben, dass das Skelett nahezu komplett ist. Das heißt, etwas fehlt?«, wollte Katharina wissen.

»Ja, nahezu komplett, weil sich im Laufe der Jahre auch die Knochen zersetzen. Eben Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub …«, erklärte Frau Bostel. »Alles biologisch erklärbar. Darum ist es ja so wichtig, eine Analyse des Bodens zu machen, denn nach der Bodenbeschaffenheit richtet sich die Dauer des Verwesungsprozesses.«

»Kannst du uns sagen, ob es eine Frau oder ein Mann war?«, fragte Katharina und fing sich einen überraschten Blick ihrer Freundin und Kollegin ein.

»Natürlich kann ich das. Und du kannst das auch. Dafür braucht man kein Medizinstudium. Das lernt man schon als Grundschüler im Sachkundeunterricht!«, sagte Frauke Bostel dann auch.

»Ja, ich weiß, das kann man bei einem Skelett vor allem an der Hüfte erkennen«, grinste Katharina, »aber ich wollte dir nicht deine Arbeit wegnehmen.«

»Tu dir keinen Zwang an«, grinste jetzt auch die Rechtsmedizinerin und forderte die Kommissarin mit einer Handbewegung auf, näher heranzutreten.

Katharina beugte sich über den Tisch und ließ ihren Blick einmal von oben bis unten über das darauf liegende Skelett gleiten.

»Mal sehen, wie war das noch?«, überlegte sie stirnrunzelnd. »Es ist nicht ungewöhnlich groß, aber auch nicht klein. Eher Durchschnitt, würde ich sagen, und darum könnte es sowohl eine Frau als auch ein Mann sein. Hm. Die Füße finde ich recht groß und auch die Hände, was mich eher auf eine männliche Leiche tippen lässt. Na gut, dann muss nun also doch die Hüfte herhalten. Also, dass eine Frauenhüfte in der Regel breiter ist als die eines Mannes, das weiß ich noch, allerdings liegt hier leider gerade keine Vergleichshüfte herum, oder hast du eine im Schrank?«

»Zufällig nicht«, ging Frauke Bostel auf den Scherz ein und sagte in übertrieben lehrerhaftem Ton: »Frau Kommissarin, Sie müssen jetzt nur mit Ihrem eigenen Wissen auskommen.«

»Ah ja, jetzt hab ich’s. Da war noch was mit einem Ring. Dem Beckenring, richtig?«, freute Katharina von Hagemann sich selbst über ihr Erinnerungsvermögen, das zu diesem Thema allerdings nicht bis in die Grundschulzeit zurückreichen musste, sondern nur zu irgendwelchen Ausführungen, die die Rechtsmedizinerin irgendwann einmal gemacht hatte. »Ich meine, der Ring ist bei Frauen runder als bei Männern. Dann liegt hier ein Mann oder das, was von ihm noch übrig ist, denn der Beckenring ist noch nicht einmal richtig kreisförmig, finde ich.«

»Sehr gut«, klatschte Frauke Bostel in die Hände und stupste Kommissar Benjamin Rehder in die Seite: »Ben, du siehst aus wie ein gerührter Vater, dessen Tochter gerade das Seepferdchenabzeichen bekommen hat, aber ich gebe zu, du kannst wirklich stolz auf deine Kollegin sein, oder hättest du das so hinbekommen?«

 

»Äh, ich … ja, wahrscheinlich hätte ich das«, sagte Ben und es war deutlich, dass die Worte der Rechtsmedizinerin ihn verlegen gemacht hatten. Die fuhr bereits fort: »Und, Katharina, tatsächlich. Auch ich gehe davon aus, dass es sich bei unserem Gerippe hier um das eines Mannes handelt. Aber absolute Gewissheit werde ich erst durch eine Knochenanalyse bekommen – Knochen von Frauen sind weniger dicht und damit leichter als die eines Mannes. Leider bekommen viele von uns das ja auch dann im Alter zu spüren, ich sag nur: Osteoporose, worunter bekanntlich mehr Frauen als Männer leiden.«

»Puh, dann bin ich aber erleichtert, dass ich den Test bestanden habe, immerhin hatte ich eine Fifty-Fifty-Chance«, freute die Kommissarin sich.

»Wenn dir deine Jungs mal zu viel werden, kannst du gern hier anfangen, eine gelehrige Assistentin kann ich immer gebrauchen«, meinte Frauke augenzwinkernd. »Jetzt ist aber die Schulstunde beendet. Ich muss weitermachen, wenn ihr heute noch ein paar Ergebnisse auf dem Tisch haben wollt!«

»Alles klar«, sagte Ben und schickte sich an zu gehen, als Tobi noch eine Frage stellte: »Kannst du aus den Knochen noch seine DNA bestimmen?«, fragte Tobias Schneider.

»Hm, mit Glück ja. Wir werden sehen.«

»Wie ist das eigentlich mit einer Rekonstruktion des Gesichts«, wollte Ben jetzt auch noch wissen.

Frauke zog ihre Augenbrauen hoch. »Klar ist das möglich«, antwortete sie. »Allerdings sollten wir das erst machen, wenn ihr absolut nicht herausfindet, wer das hier ist. Eine Gesichtsrekonstruktion ist recht aufwändig. Gut, inzwischen kann das auch am Computer gemacht werden, aber trotzdem. Wartet da lieber noch ab, und so genau ist das auch nicht, was auch wieder hinderlich sein kann, falls ihr eine bestimmte Spur verfolgt.«

»Okay«, nickte der Hauptkommissar. »Und was ist mit dem Gebiss? Kann uns das noch einen Hinweis auf die Identität geben?«

»Das schon eher. Ich werde es eh genau untersuchen und dokumentieren. Ihr habt dann nur noch die schöne Aufgabe, den Zahnarzt zu finden, der unsere Leiche zu Lebzeiten behandelt hat, und Schwupps habt ihr den Namen«, sagte die Rechtsmedizinerin.

»Und Schwupps, genau!«, zog Katharina ihrer Freundin eine Grimasse, die nur grinsend mit der Schulter zuckte.

»Was denkst du, wann du uns mehr über ihn hier sagen kannst?«, fragte Ben ernst.

»Du kennst meine Antwort darauf«, antwortete Frauke Bostel. »Sie ist immer dieselbe: so schnell wie möglich, aber ich möchte mich nicht festlegen.«

»Hm«, erwiderte Benjamin Rehder. »Und was ist mit der Todesursache? Die wäre für uns schon wichtig, denn ich gehe nicht davon aus, dass der mutmaßliche Mann hier eines natürlichen Todes gestorben ist und ihn nur jemand im Schuppen vergraben hat, weil er die Bestattungsgebühren sparen wollte.«

»Ich schätze, er ist erstickt«, antwortete Frauke Bostel.

»Erstickt?«, wunderte sich Katharina, »wie kannst du das an einem Skelett erkennen?«

»Ich denke, es war kein Zufall, dass die Arbeiter zuerst auf seine Hand gestoßen sind«, sagte die Rechtsmedizinerin nachdenklich. »Ich bin mir fast sicher, der Mann hat noch gelebt, als er eingebuddelt wurde, und seine Hand in der oberen Erdschicht zeigt uns, dass er versucht hat, sich aus seinem Erdgefängnis wieder auszugraben. Leider hat er es nicht geschafft, wie ihr seht.«

12:51 Uhr

Ob sie schon von ihm wusste? Dass er wieder da war? Natürlich könnte er sie anrufen oder sogar direkt zu ihr nach Hause gehen und einfach klingeln, aber noch war es nicht soweit. Sowieso war es nur eine Frage der Zeit, bis sie es erfuhr. Da musste er nicht nachhelfen. Lüneburg war klein. Vielleicht würde sie dann ja sogar aktiv werden. Von sich aus. Allein diese Vorstellung ließ ihn lächeln.

Er hatte jeden Tag an sie gedacht. Die ganze Zeit über. Morgens, wenn er die Augen öffnete, und abends, wenn er sie wieder schloss, hatte er sich ihr Bild vor Augen gerufen. Mal hatte ihn das wütend gemacht, mal traurig, aber meistens glücklich oder wenigstens zufrieden.

Die kurze Zeit, als er sie besessen hatte, hatte er sich besser gefühlt als je zuvor. Und einen Ersatz für sie hatte er nie gefunden. Er hatte es versucht, doch keine war wie sie. Immer wieder hatte er sich ausgemalt, wie es wäre, wenn sie nicht aus seinem Leben geflohen wäre. Natürlich hatte er sich damals aufgrund der von ihm geschaffenen Tatsachen zurückziehen müssen. Es wäre zu riskant gewesen und sie hatte ihm gedroht, dass sie reden würde, wenn er sie nicht in Ruhe ließe. Er hatte sich nicht sicher sein können, wie ernst ihr die Drohung war, ob sie es tatsächlich durchgezogen hätte, aber er hatte es ihr zugetraut und war auf Nummer sicher gegangen – obwohl er seitdem täglich damit gehadert hatte. Aber jetzt? Er hatte inzwischen nichts mehr zu verlieren. Und das würde er sie spüren lassen. Bald. Wenn sie es nicht mehr aushielt. Dann würde er da sein.

Er griff zu seinen Tabletten. Es war wieder Zeit, eine zu nehmen. Er hasste es, sie zu schlucken. Sie waren so groß, und er bekam sie kaum runter – sie blieben ihm regelrecht im Hals stecken. Sein Arzt hatte gesagt, es würde einigen Menschen so gehen, ihm jedoch abgeraten, die Tablette zu zerkleinern, weil das Präparat dann seine Wirkung verlieren könnte. Warum das so war, hatte er nicht verstanden. Dafür hatte der Doktor ihm Tipps gegeben, wie es angeblich leichter ging. Obwohl er es befolgte, klappte es nicht wirklich gut. Da konnte er seinen Hals vor der Einnahme mit noch soviel Leitungswasser befeuchten und dann im Stehen, damit er in aufrechter Haltung war, die Tablette mit einem weiteren Glas Wasser runterspülen, es blieb für ihn eine unangenehme Angelegenheit. Manchmal überlegte er, die Tabletten sein zu lassen. Er würde sowieso bald sterben. Wozu das alles verlängern, außer für sie und das andere Mädchen, das inzwischen, wie sie alle, ebenfalls älter geworden war. Auch ihren Lebensweg hatte er aus der Ferne verfolgt. Er war sich noch nicht sicher, ob er sich auch ihr zeigen wollte. Er würde es irgendwann spüren. So war das immer mit Entscheidungen, die er treffen musste. Plötzlich wusste er dann, was er zu tun hatte. Es geschah meist in solchen Momenten, in denen er nicht damit rechnete – beim Einkaufen, Autofahren, Fernsehen oder auch im Wartezimmer beim Arzt, wenn er gelangweilt die Illustrierten durchblätterte. Wann er es wohl dieses Mal wissen würde?

12:23 Uhr

Katharina von Hagemann atmete die Frühlingsluft ein und genoss die Sonne, die ihr ins Gesicht schien. Was für ein herrlicher Tag, dachte sie, während sie an der Ampel stand und darauf wartete, dass diese grün wurde, damit sie die vierspurige Straße vor dem Bardowicker Tore überqueren konnte. Eben gerade hatte ihr Bruder sie angerufen. Eigentlich war Markus ihr Halbbruder. Er war einer außerehelichen Liaison ihres Vaters mit dessen damaliger Sekretärin entsprungen. Katharina hatte erst vor ein paar Jahren von der Existenz des Jüngeren erfahren. Zunächst hatte sie sich nicht für ihn interessiert, doch Markus hatte nicht locker gelassen und inzwischen pflegten die beiden Halbgeschwister einen freundlichen, unregelmäßigen Kontakt. Markus war Jurist, wie ihr gemeinsamer Vater. Markus war unlängst als Partner in dessen Kanzlei eingestiegen und schmiss diese nun, da ihr Vater sich aus gesundheitlichen Gründen langsam zurückgezogen hatte. Das war auch der Grund von Markus’ Anruf gewesen. Er wusste, dass Katharina kein gutes Verhältnis zu Henning von Hagemann hatte und hielt sie über die väterliche Gesundheit auf dem Laufenden. Da diese momentan recht stabil war, hatte Markus sie außerdem informiert, dass er für eine Woche Spontanurlaub machen würde. Danach wollte er sie mal wieder sehen, und sie hatten ein Treffen ausgemacht.

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