Heideopfer

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Achim konzentrierte sich wieder auf das vor ihm liegende Grundstück, auf dem sich ihm das Haus nur noch als Gerippe präsentierte, bereit zum endgültigen Abriss. Das Einzige, was sie heute vorher noch schnell erledigen mussten, war die Entsorgung des Schuppens hinten im Garten. Das hatte ihm die Baufirma, die ihn beauftragt hatte, gestern am späten Nachmittag mitgeteilt. Ursprünglich hatten sie den Schuppen stehen lassen sollen, doch der Bauherr hatte es sich kurzfristig anders überlegt. Natürlich hatte Achim gemosert und angemerkt, dass die Entscheidung etwas spät kam, aber der Kunde war König, und so hatte er sich gefügt, besonders da diese ungeplante Leistung gut bezahlt wurde.

Drei seiner Jungs waren bereits am Schuppen zugange, während der Rest seiner Mannschaft schon einmal die schweren Maschinen für den Hausabriss in Position brachte. Das war aufgrund der Größe des Grundstücks glücklicherweise möglich, sonst hätten sie ein Zeitproblem gehabt. Achim hatte für den kompletten Abriss vier Tage kalkuliert und bereits einen Anschlussauftrag angenommen.

»Moin. Und, läuft alles nach Plan?«, sprach ihn der junge Familienvater von der Seite an. Achim hatte gar nicht bemerkt, dass er neben ihn getreten war. Umständlich kramte der Abrissunternehmer seinen Tabak aus der Innentasche seiner Jacke und begann, sich eine Zigarette zu drehen. Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Gern hätte er diesem jungen Typen etwas von Holterdipolter-Entscheidungen erzählt, doch was würde das schon nützen? Schließlich beglich dieser Jungspund, der da in Fahrradklamotten und mit einem kleinen Ziegenbärtchen im Gesicht abwartend neben ihm stand, am Ende die Mehrkosten. Außerdem hatte Achim Brenner auch keine Lust, sich mit ihm zu unterhalten. Er steckte sich die fertig gedrehte Zigarette zwischen die Lippen, zündete sie an und brummte vielsagend.

»Na, dann ist ja gut«, sagte der junge Mann und lächelte ihn offen an. »Es tut mir übrigens leid, dass wir uns erst jetzt entschlossen haben, den Schuppen auch abzureißen. Wir wollten ihn ursprünglich als Spielhaus für die Kinder stehen lassen, haben uns dann aber doch spontan dagegen entschieden. Ich hätte es ja ganz gut gefunden, aber meine Frau … Na ja, Sie wissen sicher, wie die sein können. Sie möchte einfach alles neu haben, und da ihr Vater uns finanziell ziemlich unterstützt, ist es jetzt halt so.«

Achim brummte ein weiteres Mal, diesmal eher zustimmend. Sie wandten beide ihre Köpfe, als jetzt ein Ruf aus Richtung Schuppen erklang: »Cheeef, komm mal schnell! Oh Mann, das musst du sehen!«

Was war denn jetzt los? Er setzte sich in Bewegung und mit ihm der junge Mann. Aus den Augenwinkeln sah Achim, dass auch die Mutter mit den beiden Kindern auf den Schuppen zusteuerte, von dem nur noch zwei Wände standen. Die hintere und die linke Seitenwand lagen bereits abgetragen und in einzelnen Holzlatten auf dem Rasen.

»Sie wissen, dass ich keine Haftung übernehme, wenn Ihre Kinder hier auf der Baustelle rumspringen?«, stellte er klar.

»Natürlich, wir passen schon auf«, bekam er zur Antwort, und Achim Brenner brummte zum dritten Mal an diesem Morgen.

Beim Schuppen angekommen, blickten sie in das verstörte Gesicht von Ingo – einem Hünen von Mann, der bis zum Hals tätowiert war und sich normalerweise nicht so schnell aus der Ruhe bringen ließ. Er arbeitete schon einige Jahre für Brenner, doch so durch den Wind hatte dieser ihn noch nie gesehen. Neben Ingo standen die anderen zwei Jungs, die er zum ersten Mal angeheuert hatte und die ihre Arbeit bisher gut gemacht hatten. Es waren Brüder, und auch sie waren käseweiß. Seine Männer nannten die beiden Lolek und Bolek, weil sie immer zusammen herumhingen und kaum ein Wort Deutsch sprachen – sie kamen zwar nicht aus Polen, sondern aus Litauen, aber das war für die Namensgebung egal.

»Was ist denn los?«, fragte Brenner.

»Das … ähm … also … guck es dir einfach an …«, stammelte Ingo.

Achim Brenner schwante nichts Gutes, als er jetzt, gefolgt von der Familie, näher an den nur noch halb vorhandenen Schuppen trat. In der Mitte prangte ein größeres Loch im Boden, das er zuvor nicht bemerkt hatte.

»Lolek und Bolek haben die Wände auseinandergenommen, und ich habe die Waschbetonplatten entfernt. Ich hab in der Mitte angefangen, weil hier schon einige lose waren, was mich … was mich jetzt nicht mehr wundert … und … ähm … vielleicht bleiben Sie mit den Kindern besser mal weg«, erklärte Ingo, der sich nicht von seinem Platz gerührt hatte.

»Ja, aber was ist denn da?«, fragte die Mutter, stoppte abrupt mitsamt den Kindern an ihrer Hand, stellte sich hinter ihre Kleinen und legte jedem schützend eine Hand auf die Brust.

Achim Brenner blieb ihr für den Moment eine Antwort schuldig. Stattdessen schluckte er. Dafür erwiderte ihr Mann neugierig: »Das werden wir gleich sehen.«

Er stellte sich neben Achim und senkte ebenfalls seinen Blick in das Loch. »Ach du Scheiße!«, platzte es aus ihm heraus, »Ist es das, was ich glaube?«

»Max, was ist denn da?«, fragte die Frau erneut, doch nach wie vor antwortete ihr niemand.

»Ich schätze schon«, meinte Achim Brenner an den jungen Mann gewandt. »Wir sollten die Polizei rufen.«

»Polizei? Wieso?«, drängelte sich jetzt doch die Frau zwischen die Männer. »Ich möchte jetzt endlich wissen, was da …« Sie stockte mitten in ihrem Satz, dann stieß sie einen kurzen, spitzen Schrei aus, deutete mit einem Finger auf das Loch und stammelte: »Das ist … das ist … eine Hand!«

10:23 Uhr

Das Telefon auf Bens Schreibtisch klingelte. Er erhob sich langsam vom Besprechungstisch und meinte zu den anderen: »Wenn da mal nicht die Arbeit ruft.«

Tobi grinste und sagte: »Ich habe mich schon gewundert. So ruhig war es hier selten.«

»Und es kann auch gern noch eine Weile so bleiben!«, kommentierte Katharina.

»Stimmt«, pflichtete Vivien ihr bei und begann, die leeren Teller und Becher zusammenzuräumen.

»Also ich habe lange genug nichts getan, ich bin nicht hier, um das so weiterzumachen«, meinte Tobi und sah zu Ben, der in diesem Augenblick sagte: »Ja, wir kommen. In 15 Minuten sind wir vor Ort.« Dann legte der Hauptkommissar auf, schaute seinen Kollegen an und erklärte: »Wenn wir Glück haben, sind wir in einer Stunde wieder hier und können weiter klönen, wenn nicht …«

»… dann tun wir mal wieder was für unser Geld«, vervollständigte Katharina seinen Satz und stand auf. »Was ist denn passiert?«

»Bei Bauarbeiten wurde in Wilschenbruch eine Hand gefunden, das heißt, nur noch die Handknochen«, informierte sie der Hauptkommissar. »Mehr weiß ich auch noch nicht.«

Nachdem Ben und Katharina das Büro verlassen hatten, ging Tobi an seinen Schreibtisch. Es war ein merkwürdiges Gefühl, nach all der Zeit wieder hier zu sein. Er hatte sich riesig auf diesen Tag gefreut, doch jetzt fragte er sich, ob sein Wiedereinstieg nicht doch zu früh kam. Noch immer suchte er in seinem Kopf nach den einfachsten Begriffen, wenn er etwas sagen wollte. Dabei wusste er den Inhalt meist ganz genau, doch die Worte wollten dann einfach nicht aus seinem Mund heraus. Natürlich kannte er das schon von früher, vor diesem verflixten Unfall. Wie wohl jedem hatte ihm auch hin und wieder etwas auf der Zunge gelegen, aber jetzt geschah es eben nicht nur manchmal, sondern ziemlich häufig. So hatte er sich immer Alzheimer vorgestellt. Langsam aber sicher verlor man die Worte bis hin zum Gedächtnis und lebte nur noch in frühesten Erinnerungen. Gerade neulich hatte er sich den Film Der seltsame Fall des Benjamin Button angeschaut. Er hatte ihn irgendwann am Anfang der 2000er, als er herauskam, mit seiner damaligen Flamme im Kino angesehen. Mit der Frau verband ihn längst nichts mehr, sie hatten sich nur ein paar Mal getroffen, aber der Film hatte ihn fasziniert – was für eine irre Vorstellung, dass die biologische Uhr rückwärts ticken könnte. Bei ihm war es jedoch sein Geist, der sich durch seine schwere Kopfverletzung erst einmal in 1000 Einzelteile zerlegt hatte und langsam wieder zusammengesetzt werden musste. Von ihm. Ganz allein. Mittlerweile konnte er Sudokus nahezu im Schlaf lösen und las, trotz Netflix, ein Buch innerhalb von drei Tagen aus. Außerdem ging er weite Strecken zu Fuß, denn auch das regte das Gehirn an. Alles Dinge, die er zuvor nicht getan hatte, aber er hatte sich daran gewöhnt. Inzwischen tat er all dies ganz gern – es war ja für einen guten Zweck, wie Jana es einmal lachend gesagt hatte. Was ihm jedoch nach wie vor schwerfiel war seine Ernährungsumstellung. Schon als Kind aß er für sein Leben gern und später dann am liebsten Junkfood. Seit er mit Jana zusammen war, war er nicht mehr zu jeder Mahlzeit in diesen Genuss gekommen, aber vor allem in den Mittagspausen hatte er sich oft eine Currywurst oder ein halbes Hähnchen mit richtig schön vor Fett triefenden Pommes gegönnt. Und die zwei bis drei Teilchen vom Bäcker morgens vor der Arbeit waren für ihn gewesen wie für Katharina der Kaffee, den sie literweise in sich hineinkippte. Dass Katharina vorhin die Franzbrötchen auf den Tisch gezaubert hatte, hatte ihn deswegen ziemlich gefreut. Und dass sie extra Bio-Vollkorn-Franzbrötchen besorgt hatte, hatte er richtig süß von ihr gefunden, denn sie kannte seinen neuen Ernährungsplan. Vor allem Weißmehl war verboten. Ansonsten standen viel Obst, Gemüse, Fisch und Olivenöl auf seinem Speiseplan. Dennoch blieb da dieses Ding mit den Worten.

Zu Hause, bei Jana, war es nicht ganz so schlimm. Sein Therapeut meinte, das läge daran, weil er sich von Jana so angenommen fühlte, wie er war, denn schließlich hätte sein Unfall nicht seinen Charakter verändert. Tobi war sich da allerdings nicht sicher. Natürlich, anderen außer Jana gegenüber hatte er immer schon den Kasper gespielt. Na ja, am Anfang ihrer Beziehung ebenfalls vor Jana, und gespielt war auch irgendwie nicht richtig. Er hatte einfach stets das Glas mindestens halb voll gesehen und war grundsätzlich gut drauf gewesen. Der Unfall hatte das geändert. Seitdem hatte er sich mit Anflügen von Depressionen herumzuschlagen. Das war auch der Grund, weswegen er bereits jetzt schon in den Beruf zurückgekehrt war. Die Ärzte hätten ihn auch weiterhin lieber daheim gelassen oder gar berufsunfähig geschrieben. Doch das hatte er absolut nicht gewollt. Zu Hause fiel ihm die Decke auf den Kopf, zumal Jana voll arbeitete, seit er nicht mehr so pflegebedürftig war. Natürlich war da seine süße Mia. Seine Tochter war letzten Monat fünf Jahre alt geworden, aber sie wirkte schon sehr viel älter und reifer. Das war kein Wunder, nach dem, was sie in ihren ersten Lebensjahren zusammen mit ihrer Mutter seinetwegen hatte durchstehen müssen. Mia ging jedoch in den Kindergarten, und so hatte er sich größtenteils allein die Zeit vertreiben müssen – inzwischen hatte er wohl alle Serien, die es auf Netflix & Co gab, durchgeguckt – bis er seine Tochter um 15:30 Uhr wieder abholte. Das würde er auch weiterhin tun, da er vorerst nur in Teilzeit im Kommissariat arbeiten würde.

 

Eben am Besprechungstisch hatten sie noch einmal darüber gesprochen. Er und Vivien würden sich den Innendienst aufteilen – wobei sie ihm zuarbeiten sollte. Und wenn Katharina im Urlaub oder krank war, sollte Tobi sie vertreten. Das hatte Ben ihnen allen vorhin bei Franzbrötchen und Kaffee so verkündet. Tobi war das unangenehm. Er wusste, dass Vivien während seiner Abwesenheit den Innendienst allein geschmissen hatte und auch manchmal mit draußen gewesen war. Für sie bedeutete die neue Regelung durch seinen Wiedereinstieg eine Degradierung. Ihm war bewusst, dass Ben so entschieden hatte, um ihm zu zeigen, wie wichtig er ihm war. Trotzdem tat Tobi die Kollegin irgendwie leid. Er kannte sie nicht gut, da sie vor seinem Unfall nur hin und wieder in ihrem Kommissariat ausgeholfen hatte. Erst als klar war, dass Tobi für längere Zeit ausfallen würde, hatte Kriminalrat Mausner – wohl auch auf Viviens Wunsch hin, wie Katharina mal hatte durchblicken lassen – ihrem offiziellen Wechsel von der Sitte hin zum Morddezernat zugestimmt.

Tobi schaute von seinem Platz aus zu ihr hinüber. Sie saß ebenfalls an ihrem Schreibtisch und schien ihn die ganze Zeit beobachtet zu haben, denn wie er tat auch sie nichts und sah ihn an. Für einen Moment herrschte Stille, dann fragte sie: »Und, wie fühlt es sich an, wieder hier zu sein?«

»Weiß noch nicht«, gab er ehrlich zu. »Irgendwie vertraut und dann doch wieder nicht.«

»Hm«, machte Vivien, und er merkte mehr an ihrer Körperhaltung als an ihrem »hm«, dass auch für sie die Situation mit ihm im Büro komisch war.

»Ich denke, wir werden das Kind schon schaukeln, oder?«, meinte er entgegenkommend und setzte noch ein »gemeinsam« hinzu.

»Das hoffe ich«, erwiderte Vivien, aber es klang nicht zickig, sondern eher frustriert.

»Wie meinst du das?«, fragte er nach und stellte eine Vermutung an: »Hast du Angst um deinen Platz hier?«

»Na ja«, sagte sie langsam. Dann gab sie zu: »Etwas schon. Immerhin bist du jetzt wieder da, und ich habe dich nur so lange ersetzt, bis du wieder arbeiten kannst. Das wurde mir von Anfang an gesagt.«

Tobi lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, dann sagte er bedächtig: »Ich glaube nicht, dass du dir Sorgen machen musst. Also ich mache dir auf keinen Fall deinen Platz hier im Team streitig. Außerdem waren wir schon zu meiner Zeit immer zu wenige. Das wirst du sicher in den letzten Jahren gemerkt haben und schon davor. Nicht umsonst haben wir uns dich damals aus deinem Ex-Kommissariat ausgeliehen. … Okay, ich weiß auch, dass Ben lieber ein kleines festes Team hat. Das war schon immer so. Obwohl das ja nicht gerade üblich ist, aber irgendwie hat er damals, als er die Leitung vom Morddezernat übernommen hat, unseren Kriminalrat überzeugen können. Außerdem ist Ben der fairste Typ, den ich kenne. Wenn er dich nicht mehr im Team haben wollen würde, hätte er es dir in dem Moment gesagt, als klar war, dass ich wiederkomme. Und mal so ganz nebenbei: Du hast dich doch hier ganz gut bewährt, soweit ich weiß …«

»Hat Ben das gesagt?«, wollte Vivien, mit einem Mal nicht mehr ganz so mutlos, wissen.

»Ja, der auch, aber eher Katharina.«

»Katharina?«, war die junge Kommissarin überrascht.

Tobi nickte: »Sie scheint große Stücke auf dich zu halten. Schon allein deshalb würde Ben dich nicht vor unsere Kommissariatstür setzen. Er vertraut Katharina sehr.«

»Das hätte ich nicht gedacht«, meinte Vivien gedankenvoll.

»Dass Ben auf Katharinas Urteil hört?«

»Nein, dass sie … dass sie mich, also meine Arbeit, schätzt.«

»Echt nicht«, wunderte Tobi sich laut. Gestand dann jedoch ein: »Okay, Katharina ist nicht gerade jemand, der mit Lob um sich schmeißt, aber doch, sie hat es mir gegenüber ein paar Mal erwähnt.«

Plötzlich wirkte Viviens Gesicht viel entspannter als zuvor und auch etwas glücklicher, wenn er sich nicht täuschte und der Kommissar beschloss, das Thema nun ruhen zu lassen. Mit den Worten: »So, und jetzt lass mal etwas arbeiten, du weißt ja, um 15 Uhr ist hier Abflug für mich und bis dahin sollten wir was geschafft haben«, schaltete er seinen Computer an, und als der Bildschirm daraufhin den blauen Desktop zeigte, spürte auch Tobi so etwas wie Glück. Mannomann, was hatte er seine Arbeit vermisst.

Vivien tat es ihm gleich, merkte jedoch an: »In den letzten Tagen war es relativ ruhig. Ich hatte sogar Zeit, alle Protokolle zu schreiben, die anlagen, deswegen haben wir eigentlich momentan nichts zu tun.«

»Dann sollten wir uns darauf vorbereiten, was Ben und Katharina vielleicht nachher für uns haben, und selbst, wenn es kein Fall ist, vertreiben wir uns dadurch die Zeit mit Sinnvollem«, antwortete er voll Elan, denn ihm war ein Gedanke gekommen.

»Und wie?«, fragte Vivien.

»Du fragst jetzt mal bei Katharina an, wo genau die im Wilschenbruch sind, um dann zu recherchieren, wer dort wann alles gelebt hat, und ich suche mir mal eine alte Akte raus.«

»Okay, mach ich. Aber in was für eine Akte willst du gucken?«

»Wenn ich mich recht entsinne, wurde vor ein paar Jahren ein Totenschädel in der Ilmenau gefunden. Wer weiß, vielleicht gehören die Handknochen dazu.«

Gedicht

»Dass wir erschraken, da du starbst, nein,

dass dein starker Tod uns dunkel unterbrach,

das Bisdahin abreißend vom Seither:

das geht uns an; das einzuordnen wird

die Arbeit sein, die wir mit allem tun.«

(aus Requiem für Paula Modersohn-Becker, Rainer Maria Rilke)

Kapitel 2
Montag, 09.03.2020 –
Vormittag bis zum Abend

10:36 Uhr

Kurz nachdem Katharina von Hagemann und Benjamin Rehder in den Dienstwagen eingestiegen waren, war der Kommissarin eingefallen, dass die Rechtsmedizinerin Frauke Bostel sicher auch nach Wilschenbruch gerufen worden war. Die beiden Frauen waren befreundet, von daher wusste sie, dass Frauke Bostel derzeit in ihrer Mobilität eingeschränkt war – die Rechtsmedizinerin hatte sich beim Skilaufen den Meniskus verletzt und einen Kreuzbandriss zugezogen. Sie war zwar schon vor einiger Zeit operiert worden, war aber noch nicht soweit wieder hergestellt, dass sie Fahrrad oder wenigstens Auto fahren konnte, zumal dies keine Automatik besaß. Natürlich würde Frauke sich ein Taxi rufen können, dennoch hatte Katharina ihrer Freundin und Kollegin kurzerhand eine Nachricht geschickt und gefragt, ob Ben und sie sie einsammeln sollten. Eben gerade hatte Frauke ihr mit einem »Daumen hoch« geantwortet.

»Ben, machst du bitte noch einen Schlenker zur Rechtsmedizin«, bat Katharina deshalb nun ihren Chef, der am Steuer saß.

»Um Frauke abzuholen?«

»Du hast eine hervorragende Kombinationsgabe, dein Beruf passt perfekt zu dir«, lachte Katharina auf.

Auch Ben grinste. Er fragte: »Wie lange ist sie denn noch lahmgelegt?«

»Keine Ahnung, sicherlich noch ein paar Wochen. Sie kann ihr Knie noch nicht richtig anwinkeln.«

»Gehst du jetzt immer alleine zum Sport?« Es war allgemein bekannt, dass die beiden Kolleginnen zusammen diverse Kurse in einem Fitnessklub besuchten. Unlängst hatten sie ihn sogar gewechselt und waren jetzt im Olympic Fitness. Das Olympic, wie es die Lüneburger kurz nannten, lag zwar nicht so zentral in der Stadt wie ihr vorheriger Klub, dafür bot er eine enorm große Auswahl an Kursen, war ziemlich modern und dabei vor allem günstig. Gerade neulich hatte Katharina lachend zu ihrem Freund Bene gesagt: »Falls ich mir meine Wasserrechnung nicht mehr leisten kann, dann gehe ich jeden Tag einfach im Olympic duschen. Da ist das Wasser im Mitgliedspreis inbegriffen.«

»Ich war in der letzten Zeit nur ein paar Mal im Klub. Ohne Frauke macht das dort nur halb so viel Spaß. Dafür jogge ich jetzt wieder regelmäßig. Am Wochenende übrigens auch gern mal im Wilschenbruch«, sagte sie jetzt zu Ben und musterte ihn von der Seite. Er war Bene wie aus dem Gesicht geschnitten, was kein Wunder war, da die beiden eineiige Zwillinge waren.

»Oh, dann sag mal Bescheid, ich wollte auch wieder mit Joggen anfangen, ich habe meine Fitness in der letzten Zeit etwas vernachlässigt«, meinte nun Ben, der gerade bei der Rechtsmedizin vorfuhr, wo Frauke bereits auf sie wartete, sodass Katharina einer Antwort entbunden wurde. Dass ihr Kollege seit einigen Monaten nichts für seinen Körper getan hatte, war unübersehbar – sein Bauchansatz sprach da Bände, und gerade neulich hatte Katharina gedacht, dass er im Gegensatz zu früher recht grau im Gesicht war. Joggen täte ihm also sicher gut, und sie hatte im Grunde nichts dagegen, mit ihm gemeinsam zu joggen. Allerdings fragte sie sich, wie Bene darauf reagieren würde, der wegen seines Rückens nicht joggte und seit einiger Zeit nicht besonders gut auf seinen Zwillingsbruder zu sprechen war, zumindest nicht im Zusammenhang mit Katharina. Bene zeigte plötzlich heftige Anwandlungen von Eifersucht gegenüber Ben und glaubte, sein Bruder hätte ein Auge auf sie geworfen. Auf die Frage, wie er auf so eine an den Haaren herbeigezogene Idee käme, hatte er Katharina vor ein paar Wochen geantwortet, dass er es ziemlich verdächtig fände, dass Ben keine feste Freundin mehr gehabt hatte, seit er mit Katharina zusammenarbeitete, was immerhin schon ein paar Jahre mehr der Fall war. »Außerdem guckt er dich immer heimlich an, wenn er denkt, das bekäme keiner mit. Und er fragt dich ständig, ob ihr nach dem Job noch was trinken gehen wollt, obwohl ihr schon den ganzen Tag zusammen rumhängt.« Katharina hatte ihren Freund für verrückt erklärt und sie hatten sich etwas gezofft. Dennoch hatten Benes Worte sie ins Grübeln gebracht. Es hatte nämlich tatsächlich eine Zeit gegeben, da hatte sie gedacht, dass Benjamin Rehder mehr in ihr sah als nur seine Teampartnerin. Und auch sie hatte sich damals, doch das war Jahre her, zu ihm hingezogen gefühlt, obwohl sie bereits mit Bene zusammen war. Nicht, weil die beiden Brüder sich so ähnlich sahen, obwohl das sicherlich mitgeschwungen hatte. Nein, es war etwas anderes gewesen. Es war schlicht und ergreifend Bens verbindliche, aufrichtige und altruistische Art, die wiederum so anders war als die von Bene, der deutlich selbstbezogener durch die Gegend ging und mit Menschen umsprang. Da machte er bei ihr keine Ausnahme.

Wenn Katharina ehrlich zu sich war, dann war das Gefühl des Hingezogenseins zu Ben bis heute nicht ganz verschwunden, sie verbot es sich lediglich selbst. Er war ihr Chef und dann auch noch der Bruder ihres Lebensgefährten – eine tiefere Empfindung als Freundschaft war da einfach nicht angebracht. Basta. Deswegen wollte sie auch gar nicht daran denken, wie Ben möglicherweise zu ihr stand. Und das hatte sie bisher auch mehr oder minder erfolgreich geschafft – bis zu diesem Tag, an dem Bene ihr seine Vermutung präsentiert hatte. Seitdem fragte sie sich jedes Mal, ob mehr dahintersteckte, wenn Ben privat Zeit mit ihr verbringen wollte. Selbst, wenn es nur eine gemeinsame Mittagpause war. Das war ziemlich blöd, denn es hemmte sie, locker mit ihm umzugehen.

Und jetzt hatte er eine gemeinsame Laufrunde vorgeschlagen. So ein Mist aber auch, denn Lust dazu hätte sie schon. Sie lief gern zu zweit. Na ja, sie konnte ja noch einmal darüber nachdenken, jetzt stieg Frauke erst einmal ein …

Sie fuhren über die Amselbrücke, die über die Ilmenau und deren Auen nach Wilschenbruch führte und diesen Stadtteil vom Trubel der lebhaften Hansestadt trennte. Kurz darauf bogen sie auch schon in den Spechtsweg ein und hielten vor dem Grundstück, auf dem die skelettierte Hand entdeckt worden war. Eben hatte Vivien angerufen und nach der Adresse gefragt. Die Kollegin wollte diese haben, damit sie und Tobi schon einmal parallel recherchieren konnten. Was genau hatte Vivien nicht gesagt und Katharina fragte sich, was in diesem Stadium eine Recherche möglich machen sollte, aber sie würde sich überraschen lassen.

 

Als Ben, Frauke und sie nun ausstiegen, trat ihnen ein uniformierter Kollege entgegen, der auf dem Fußweg vor dem Grundstück anscheinend bereits auf sie gewartet hatte. Der Polizist, den Katharina vom Sehen kannte, grüßte die beiden Frauen und wendete sich dann an Ben: »Kommissar Rehder? Polizeimeister Gehrcken. Sie wissen Bescheid?«

»Nicht im Detail, aber wenn sie die gefundene Hand meinen, dann schon«, antwortete Ben, worauf der Polizeimeister beflissen fortfuhr: »Der Fundort ist da hinten am Ende des Gartens. Hinter dem zum Teil bereits abgetragenen Haupthaus. Wir haben ihn schon großzügig abgesperrt, und wie es scheint, ist auch noch nichts durch die durchgeführten Arbeiten … ähm … zerstört worden. Also die Hand, meine ich. Die sieht noch ziemlich intakt aus, wenn ich das mal so sagen darf.«

»Ist die Spurensicherung informiert?«, fragte Benjamin Rehder.

»Die Spurensicherung?«, fragte der noch recht jung aussehende Uniformierte zurück und lief dabei rot an, was ihn noch jünger erscheinen ließ. »Nein, die … ähm, mein Kollege und ich dachten, das ist nicht notwendig, weil das doch … also, weil das ein …«

»… alter Knochen ist, der gefunden wurde?«, schaltete sich jetzt die Rechtsmedizinerin ein.

»Ja, genau, darum haben wir nur die Rechtsmedizin informiert. Sind Sie Doktor Bostel?«, nickte Gehrcken.

»Ja, bin ich. Moin. Die Spurensicherung muss dennoch kommen. Sie hätten Sie als Erste informieren müssen. So, wie immer«, erklärte Frauke Bostel. »Keiner weiß, wie schnell die Verwesung hier vonstattengegangen ist. Es kann ziemlich lange her sein, muss aber nicht. Das kommt ganz auf die Bodenbeschaffenheit an und wie tief Leichenteile vergraben wurden. Außerdem haben wir bisher nur eine Hand, wenn ich das richtig verstanden habe. Was ist, wenn daran nicht der ganze Leichnam hängt, sondern der vielleicht in der Gegend verteilt worden ist?« Sie machte eine ausladende Handbewegung, die das gesamte Grundstück umfasste. »Hinzu kommt …«

»Ist ja schon gut«, unterbrach Katharina die Rechtsmedizinerin. Der junge Polizist tat ihr leid, er wirkte deutlich überfordert. »Ich denke, der Kollege hat verstanden und ruft jetzt mal schleunigst die Spusi.«

»Ja«, brachte der Uniformierte eilig heraus, drehte sich weg und zückte dabei schon sein Handy.

Die drei Kollegen setzten sich wieder in Gang, die Rechtsmedizinerin auf Krücken, und steuerten die mit Flatterband abgesperrte Fundstelle an.

Dort empfing sie ein weiterer Uniformierter, der ähnlich jung wie sein Kollege war, eine Familie mit zwei kleinen Kindern, von denen eines weinte, drei Arbeiter und ein Mann mit langen schwarzen, zum Pferdeschwanz gebundenen Haaren.

Ben wies sich aus: »Kriminalhauptkommissar Rehder. Das sind meine Kolleginnen Kriminaloberkommissarin von Hagemann und unsere Rechtsmedizinerin Doktor Bostel.«

»Ich bin Achim Brenner, ich leite hier die Abrissarbeiten. Meine Männer waren gerade dabei, den Schuppen abzutragen, als sie die Hand gefunden haben. Wir haben die Arbeiten sofort gestoppt und Sie informiert«, sagte der Mann mit dem Zopf.

»Das war genau richtig so«, erwiderte Ben. »Ich möchte Sie alle bitten, vor Ort zu bleiben. Wir werden sicher gleich ein paar Fragen an Sie haben, doch vorher werden wir uns den Fundort einmal ansehen.«

Kaum hatte Ben geendet, fuhr ein Bagger auf das Grundstück, der ordentlich dröhnte und neben einem Schutthügel beim Haupthaus zum Stehen kam. Dies veranlasste Ben zu sagen: »Bitte stellen Sie auch alle anderen Arbeiten vorerst ein.«

»Aber …«, setzte Achim Brenner an, der scheinbar dagegen protestieren wollte, sich dann jedoch besann und sagte: »Ja, ich werde das gleich veranlassen. Können Sie mir denn in etwa sagen, wann wir hier weiterarbeiten können?«

»Leider nein«, antwortete Ben und wandte sich der jungen Familie zu, die das Gespräch aufmerksam verfolgt hatte: »Sind Sie die Bauherren?«

»Ja, das ist richtig.« Der Vater trat vor. »Max Reimann, guten Tag. Das sind meine Frau Lisa und meine beiden Kinder.«

»Auch Sie muss ich bitten, uns zur Verfügung zu stehen. Ihre Frau sollte allerdings mit den Kindern besser nach Hause gehen, unsere Arbeiten sind in der Regel nichts für Kinderaugen«, sagte Ben.

»Ja, natürlich«, nickte der junge Mann, und seine Frau nahm bereits die Kinder an die Hand, um den Platz zu verlassen. Reimann ging die zwei Schritte zu ihnen, gab seiner Frau einen Kuss und meinte: »Ich ruf dich an.« Auch sie nickte jetzt und machte sich daraufhin mit ihren beiden Kleinen auf in Richtung Straße.

»Na, dann wollen wir mal«, ließ sich Frauke Bostel vernehmen und humpelte bereits auf das Flatterband zu. Mit einer ihrer Krücken hob sie es an und hüpfte dann auf einem Bein gekonnt drunter durch. Ben und Katharina, die Fraukes Arbeitstasche trug, folgten ihr. Vor einem Loch im ehemaligen Schuppen blieben die drei stehen und schauten hinein. Da sie bereits wussten, was sie erwartete, waren sie nicht überrascht, als sie nun die Knochen einer Hand aus der Erde herausragen sahen.

»Ich komme mir vor wie in einem Horrorstreifen von Steven King«, meinte Katharina und ging in die Knie, um die Hand genauer zu betrachten.

»Und gleich greifen die Klauen nach dir und ziehen dich in ihr Grab«, sagte Ben und verstellte dabei seine Stimme, sodass sie tief und rau klang.

Frauke hingegen blieb sachlich und sagte: »Mit meinem Bein ist das echt lästig. Ich kann es nicht beugen. Wenn ich die Hand genauer begutachten will, muss ich mich auf den Bauch legen.«

»Mach doch«, antwortete Katharina, »brauchst du dabei Hilfe?«

»Nee, lass mal«, wiegelte die Rechtsmedizinerin ab. »Ich warte auf die Spusi. Die können mir das Teil da schön vorsichtig ausbuddeln, und dann untersuche ich es im Institut.«

Als hätte sie ihn mit ihren Worten herbeigerufen, hörten sie plötzlich die Stimme von Patrick Peters hinter sich: »Habe ich da Spusi gehört? Wir sind eben angekommen. Was gibt es hier?«

Ben machte ihm Platz, sodass auch der Leiter der Spurensicherung in das Loch blicken konnte.

»Oh, alles klar, dann weiß ich Bescheid. Sieht ja nicht mehr ganz so frisch aus. Wisst ihr, ob da noch etwas dranhängt?«, fragte Peters, der noch nicht lange seinen Posten in Lüneburg innehatte, durch seine offene Art jedoch bereits bei allen bekannt und als Kollege beliebt war.

»Das herauszufinden, überlassen wir dir und deinem Team. Ich für meinen Teil werde jetzt einen der jungen Kollegen bitten, mich zurückzubringen, und dann lege ich die Beine hoch, bis ihr mir was bringt. Dieses Rumgestehe ist gerade nicht wirklich angenehm«, sagte Frauke.

»Okay«, erwiderte der Spusi-Mann, während sein Blick auf der Orthese an ihrem Bein ruhte. »Meniskus?«.

»Unter anderem. Nimm noch einen Kreuzbandriss und Knorpelschaden dazu, dann ist es komplett«, antwortete Frauke und verzog ihr Gesicht.

»Oh Mann, da möchte ich nicht mit dir tauschen. Skiunfall?«

»Und was für einer! Jetzt will ich aber nicht mehr darüber reden, denn selbst das tut weh. Wir sehen uns, haltet mich auf dem Laufenden«, antwortete die Rechtsmedizinerin und hüpfte auf ihren Krücken davon.

»Und wir befragen mal die Leute hier, dann stehen wir euch auch nicht im Weg herum«, entschied Ben.