Als die Flut kam

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Nicht wissend, was er denken sollte, wandte er sich von der Tür ab und wollte gerade seine Schritte zurück zur Weihnachtsgesellschaft lenken, als er es sich anders überlegte. Vielleicht war Anne einfach aus der Beckerschen Wohnung zur Haustür heraus verschwunden. Konnte es sein, dass sie nur vorgegeben hatte, ins Bad zu müssen? Aber warum? Johannes sah zur Garderobe hinüber. Annes Mantel hing dort nach wie vor. Dann hatte sie sicher nicht die Wohnung verlassen, denn ohne sich etwas überzuziehen, wäre sie wohl kaum hinausgegangen – draußen herrschten frostige Minusgrade bei leichter Bewölkung und ein bisschen Schneefall. Und wieso sollte Anne überhaupt die Wohnung einfach so klammheimlich verlassen? So etwas würde sie niemals tun. Andererseits war das gerade alles sehr merkwürdig und passte nicht zu ihr. Und: Wo war sie dann? Johannes fiel nur eine weitere Möglichkeit ein, und er musste bei dem Gedanken daran lächeln. Natürlich! Warum war er bloß nicht gleich darauf gekommen? Seine Schritte führten ihn jetzt zu seiner eigenen Zimmertür. Im Gegensatz zu seinen beiden Geschwistern lebte er noch bei seinen Eltern. Er hatte bisher einfach keinen Grund gesehen auszuziehen. Natürlich gab er von seinem Verdienst etwas zu Hause ab. Dafür machte seine Mutter sein Zimmer, wusch seine Wäsche, bügelte seine Hemden, die er in der Bank trug und täglich wechselte, und immer gab es abends etwas Warmes für ihn zu essen. Es war halt wie eh und je, und doch fand er es richtig, dass er für die Arbeit, die seine Mutter mit ihm hatte, etwas bezahlte, da er jetzt in der Lage dazu war. Seine Eltern hatten ihn nie darum gebeten, doch sie hatten auch nicht nein gesagt, als er von sich aus einen Schein von seinem ersten Gehalt auf den Küchentisch gelegt hatte. Die beiden bezogen inzwischen nur noch Rente, und er konnte es sich leisten. Ohnehin brauchte Johannes nicht viel Geld. Er ging selten aus. Er machte sich einfach nichts daraus, und wie seine wenigen Freunde abends eine Frau kennenlernen, wollte er auch nicht. Brauchte er nicht. Sein Herz war bereits seit Langem vergeben.

Als Johannes jetzt vor der Tür stand, hielt er es für angebracht anzuklopfen, obwohl es sich um die Tür zu seinem eigenen Zimmer handelte. Aber wenn Anne tatsächlich hier drinnen war, dann wollte sie sicher ungestört sein. Dreimal kurz hintereinander klopfte er mit seinem gekrümmten Zeigefinger. Dann wartete er wie bereits eben vor dem Bad. Auch jetzt kam nichts von der anderen Seite. Hatte er sich doch geirrt? Aber wo könnte Anne sonst in der nicht unbedingt riesigen Wohnung stecken? Gerade, als er die Klinke herunterdrücken wollte, um nachzusehen, bewegte diese sich unter seiner Hand, und einen Sekundenbruchteil später öffnete sich die Tür einen Spalt. Johannes sah sich Anne gegenüber und brachte erst einmal keinen Ton heraus. Sie war leichenblass, und unter ihren Augen hatten sich schwarze Ränder gebildet. Ihr hochgestecktes blondes Haar war zerzaust.

»Entschuldige, dass ich in dein Zimmer gegangen bin. Ich musste mich einen Moment hinlegen, und da dachte ich …«, sagte Anne mit leiser Stimme, brachte ihren Satz jedoch nicht zu Ende, sondern machte stattdessen einen Schritt von der Tür zurück und ging wieder in den Raum hinein. Johannes trat seinerseits in das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Erst dann fragte er schnell hintereinander: »Was hast du? Hast du geweint? Geht es dir nicht gut? Bist du krank? Kann ich irgendetwas für dich tun?«

Während Anne sich auf sein Bett setzte – eine andere Sitzgelegenheit gab es nicht – schüttelte sie den Kopf und lächelte ihn an. Es wirkte schüchtern auf ihn, denn normalerweise grinste sie breit über das ganze Gesicht, und ihre Augen fingen dann jedes Mal an zu strahlen, sodass er an den Nordstern denken musste. Jetzt fühlte er sich eher an das kleine verzweifelte Mädchen erinnert, das er vor etlichen Jahren auf dem Schotterweg getröstet hatte. Auch damals hatte sie ihn erst aus ihren blauen Augen angesehen und dann ihren Mund zu einem kleinen, zaghaften Lächeln verzogen, als er ihr gesagt hatte, dass er sich um sie kümmern würde und sie sich keine Sorgen mehr machen müsse. Bis heute hatte er sein Versprechen halten können. Ob er es diesmal wieder schaffte? Johannes hatte Anne, seit sie Kinder gewesen waren, nicht mehr als so verletzlich empfunden. Natürlich hatte sie im Laufe der Jahre hin und wieder Sorgen gehabt, doch sie war eine Frohnatur, sah das Glas eher als halb voll als halb leer, und vor allem hatte sie stets mit ihm geredet, und meist war ihr bereits im Gespräch eine Lösung eingefallen. Selbst von ihren ständigen Geldsorgen, die eng verzahnt waren mit der schlechten Gesundheit ihrer Mutter und den daraus resultierenden Arztrechnungen, die nicht immer die Krankenkasse zahlte, ließ sie sich nicht ins Bockshorn jagen.

»Nein, du kannst nichts für mich tun«, antwortete Anne ihm, »außer das, was du immer für mich tust: Sei für mich da. Als mein bester Freund.«

Johannes nickte und machte einen Schritt auf die Freundin zu, um sich neben sie zu setzen, dann fiel ihm jedoch etwas ein. Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt? Immerhin hatte sie ihm eben zu verstehen gegeben, dass sie ihn brauchte, und genau das wollte er besiegeln. Er hatte es schließlich sowieso für heute vorgehabt, und nun erschien ihm die Gelegenheit günstig. Er steuerte auf seinen Schrank zu, öffnete ihn und steckte seine Hand in das Regalfach, in dem seine Unterhemden lagen. Sein Geschenk für Anne lag hinter den Hemden. Er fühlte ein bisschen mit seiner Hand herum, und dann spürte er die kleine Schatulle. Er umschloss sie und zog seine Hand wieder hervor. Er hatte dieses Versteck gewählt, da Mutter hier nur selten dranging. Bügelwäsche legte oder hängte sie in der Regel direkt in den Schrank. Die anderen Dinge, wozu auch die Unterhemden gehörten, legte sie nach dem Trocknen nur zusammen und auf sein Bett. Er sortierte es dann in seinen Schrank ein.

Mit der kleinen Schatulle in seiner Faust ging er jetzt zu Anne und setzte sich neben sie. Eine Weile schwiegen sie einfach. Es war keine unangenehme Stille, die dadurch im Raum entstand, sondern eher eine des Vertraut-Seins. Fast wirkte es auf Johannes, als hätte sich sein Zimmer in der Wohnung seiner Eltern zu einer kleinen Festung entwickelt, die ihn und Anne fürsorglich vor allem schützte. Anne schien es genauso zu empfinden, denn sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Johannes genoss das Gefühl dieser einmütigen Zweisamkeit. Das tat er immer, wenn es dazu kam, und in der Regel regte er sich dann nicht, aus Furcht, den Moment durch eine Bewegung zu beenden. Jetzt jedoch legte er vorsichtig seinen Arm um Anne und zog sie ein kleines bisschen fester an sich. Er konnte sein Glück kaum fassen, denn Anne machte sich nicht von ihm los, sondern drückte sich im Gegenteil noch enger an ihn und meinte: »Ach, Johannes, wenn ich dich nicht hätte.«

Sein Herz machte einen Freudensprung, und er musste sich zusammenreißen, dass ihm kein begeisterter Seufzer entfuhr. Tatsächlich schien heute der richtige Tag zu sein, und er war heilfroh, dass er eben noch seine Gabe für sie aus dem Schrank hervorgeholt hatte. So musste er jetzt nicht aufstehen und die liebevolle Stimmung zwischen ihnen unterbrechen. Mit seiner freien Hand nestelte er in seiner Hosentasche herum, während er mit belegter Stimme sagte: »Du weißt, dass ich immer für dich da bin.«

»Ja«, hauchte sie gegen seine Brust, und genau dieses Hauchen bestätigte Johannes darin, die Schatulle in seiner Tasche mit der Faust zu umfassen. Sein Herz klopfte wild, und er räusperte sich, bevor er sagte: »Anne, ich möchte dich etwas fragen, aber vorher muss ich dir etwas sagen …«

»Ich dir auch«, unterbrach Anne ihn und setzte sich aufrecht, sodass sie nicht mehr in seinem Arm lag, sondern ihn nun direkt anschaute. Sie suchte seinen Blick, und er musste abermals schlucken. Konnte es sein, dass Anne ihm zuvorkommen wollte? War sie deswegen in sein Zimmer gegangen in der Hoffnung, er würde ihr irgendwann folgen, und sie wären allein? Immerhin war Weihnachten das Fest der Liebe … Für eine Frau wäre die Frage der Fragen zwar unüblich, aber Anne hatte sich noch nie etwas aus Konventionen gemacht. Unwillkürlich drückte Johannes die Schatulle in seiner Hand, dann sagte er: »Du zuerst.«

Anne nickte kaum merklich, nahm seine freie Hand und sagte schnell, so als wolle sie den Satz sofort wieder aus ihrem Mund loswerden: »Ich erwarte ein Kind.«

In Johannes Ohren begann das Blut zu rauschen und ihm wurde schwummerig, obwohl er saß. Hatte sie das wirklich gesagt? Nein, er hatte sich bestimmt verhört. Wie sollte sie schwanger sein? Sie hatte doch gar keinen Freund, und wenn, dann war er das!

*

Magda hatte die kleine Standuhr auf der Anrichte genau im Blick. Wenn er so kam wie jedes Jahr, dann blieben ihr nur etwa fünf Minuten, um sich noch einmal zurechtzumachen. Sie wollte besonders hübsch aussehen und hatte zu Hause ganz bewusst das neue, tief ausgeschnittene Kleid angezogen, das ihre Brüste so gut zur Geltung brachte. Ihr Mann Rainer hatte sich zwar gewundert und gefragt, ob der Ausschnitt bei ihren Eltern angebracht war, aber sie hatte nur mit den Schultern gezuckt. Was ihre Eltern dachten, war ihr gleichgültig. Für sie machte sie sich schließlich nicht zurecht. Es war Peter, dessen Blicke sie auf sich ziehen wollte. Peter, für den sie alles tun würde, der sie jedoch nach ein paar intimen Treffen wie eine heiße Kartoffel wieder fallen gelassen hatte. Und jetzt hatte er dieses billige Weibsstück. Überhaupt verstand niemand, was er an der Frau fand.

Magda hatte seit jeher für Peter geschwärmt, so, wie eigentlich jedes Mädchen in der Kleingartenkolonie, in der sie alle so viele Jahre Laube an Laube gelebt hatten. Es hatte ihr auch nie etwas ausgemacht, dass Peter etwas jünger war, als sie. Warum auch? Und irgendwann waren die paar Jahre Unterschied auch nicht mehr wichtig gewesen. Leider hatte Peter sie jahrelang überhaupt nicht beachtet. Für ihn war Magda lediglich die große Schwester von Johannes gewesen. Das hatte sich letztes Jahr an Weihnachten zu ihrer großen Freude geändert. Er war wie jedes Jahr bei ihnen mit einer Flasche Selbstgebranntem unter dem Arm aufgetaucht, dem vor allem ihr Vater, Peter und sie zugesprochen hatten. Die anderen hatten sich an die Flasche Eierlikör gehalten, die Anne als Weihnachtsgabe mitgebracht hatte und weniger hochprozentig war. Daran erinnerte sie sich noch heute sehr genau, als wäre es gestern gewesen. Und sie erinnerte sich gern – nicht unbedingt an den Kater am nächsten Morgen aber definitiv an den Ausgang des Weihnachtsabends.

 

Sie war damals vor einem Jahr bereits deutlich beschwipst auf die Toilette gegangen. Als sie wieder herauskam, stand Peter vor der Badezimmertür und drängte sie wieder hinein. Sie war zu überrascht gewesen, um Fragen zu stellen, darüber hinaus hatte sie es sich gern gefallen lassen, denn es war ihr trotz ihrer Trunkenheit schnell klar gewesen, dass er das von ihr wollte, was sie sich schon lange gewünscht hatte. Kaum hatte Peter sie in das Bad zurückgeschoben und die Tür hinter ihnen verschlossen, hatte er sein Gesicht in ihren schweren Brüsten vergraben. Sie hatte sich mit den Schultern an die gekachelte Wand gelehnt und es wollüstig geschehen lassen. Erst, als er seine Hand unter ihren Rock und zwischen ihre Oberschenkel schob, hatte sie sich ihm entwunden. Nicht, weil es ihr nicht gefallen hätte, sondern weil sie in ihrem alkoholgeschwängerten Kopf einen lichten Moment gehabt hatte – sie waren immerhin in der Wohnung ihrer Eltern, in der zum Weihnachtsabend alle Familienmitglieder versammelt waren. Peter und sie konnten schlicht nicht so lange von der Festtafel fernbleiben, ohne dass es auffallen würde. Allem voran ihrem Ehemann. »Ich melde mich bei dir, und dann treffen wir uns. Allein«, hatte sie ihm deswegen ins Ohr geraunt.

Sie hatte bis kurz nach Neujahr gewartet. Am liebsten hätte sie es gleich noch am 25. Dezember gemacht, doch sie hatte die Feiertage vergehen lassen wollen. Nicht nur, weil sie sich sowieso nicht hätten treffen können, da Rainer rund um die Uhr zu Hause war, sondern auch, um sich gegenüber Peter interessant zu machen. Und dann hatten sie sich tatsächlich getroffen. Peter war Polizist und arbeitete im Schichtdienst, sodass er auch manches Mal unter der Woche bereits nachmittags Zeit hatte. Er war zu ihr in die Wohnung gekommen, und sie waren nahezu sofort in ihrem ehelichen Schlafzimmer gelandet. So war das dann bis in den frühen Sommer hinein gegangen – Peter war ein- oder zweimal die Woche bei ihr vorbeigekommen, sie hatten sich vergnügt, und dann war er wieder weg. Ein einziges Mal hatte sie versucht, ihn hinterher noch zum Bleiben zu überreden. Sie hatte ihm einen Kaffee und ein Stück des Apfelstrudels, den sie eigens zu diesem Zweck gebacken hatte, angeboten. Er hatte freundlich abgelehnt, und während er lachend aus dem Schlafzimmer zur Garderobe in der Diele ging, um Hut und Mantel zu holen, gemeint, dass er doch nicht zum Kaffeekränzchen zu ihr käme. Sie hatte es enttäuscht hingenommen und ihn bei ihren weiteren Treffen nie wieder mehr als sich selbst angeboten. Manchmal hatten sie sich auch abends getroffen. Das jedoch in einem Hotel. Und dann war er plötzlich nicht mehr bei ihr aufgetaucht und hatte sich auch nicht mehr bei ihr gemeldet. Zunächst hatte sie sich Sorgen gemacht, gedacht, es sei ihm etwas passiert, da er auch auf ihre Briefe nicht reagierte. Irgendwann später hatte sie von Johannes so ganz nebenbei erfahren, dass Peter eine feste Freundin hatte, und eins und eins zusammengezählt. Fast hätte sie ihn in ihrer anfänglichen Wut im Dienst aufgesucht, um ihn zur Rede zu stellen – glücklicherweise hatte sie es gelassen. Sie wollte sich nicht lächerlich machen, vor allem, da sie ab dem Beginn ihrer Affäre geahnt hatte, dass sie eines Tages so enden würde. Ihre Wut hatte sie an Rainer ausgelassen, der das stoisch hingenommen hatte. Ein paar Wochen später, als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, war sie ihrem Mann dankbar dafür und bemühte sich seitdem, ihm eine gute Ehefrau zu sein. Trotzdem dachte sie nach wie vor jeden Tag direkt nach dem Aufwachen an Peter, den sie erst heute am Weihnachtstag das erste Mal wieder sehen sollte.

Magda blickte auf die Uhr. Sie hatte nur noch etwa drei Minuten, wenn alles so war wie immer. Sie entschuldigte sich bei den anderen, schnappte sich ihre Handtasche, in der Kamm und Kosmetik steckten, und ging ins Bad, um sich frisch zu machen. Sie dachte sich, dass es frei war, da sie vorhin aus den Augenwinkeln Johannes dabei beobachtet hatte, wie er in sein Zimmer getreten war, nachdem er vorher ins Bad geschaut hatte. Sie war vermutlich die Einzige gewesen, die es bemerkt hatte, denn nur ihre Sitzposition am Esstisch erlaubte den Blick in die Diele.

*

»Johannes?«, hörte er Anne wie durch Watte seinen Namen nennen.

Er riss sich zusammen, rang sich ein Lächeln ab und fragte: »Und … und wer ist der Vater? Und was … was sagt er zu … zu eurem Kind? Ich wusste gar nicht, dass du … dass du jemanden triffst.« Noch immer drückte er die Schatulle fest in seiner Faust, was ihm in diesem Moment schmerzlich bewusst wurde. Er ließ sie los und wieder in seine Hosentasche zurückgleiten.

»Das möchte ich dir nicht sagen. Wer er ist, meine ich. Und, also, er weiß es noch nicht. Mit dem Kind. Du bist der Erste, dem ich es erzähle und ich bitte dich, es auch erst einmal für dich zu behalten. Ja? Versprichst du es?«, bat Anne.

»Ist er von hier? Kennst du ihn schon lange?«, fragte er.

»Versteh doch, ich möchte nicht über ihn sprechen«, erwiderte Anne in einem Ton, der ihm deutlich machte, dass es keinen Sinn hatte, weiter nachzubohren. Dennoch wollte er jetzt wissen: »Liebt er dich? Kann er dir und deinem Kind eine gute Zukunft bieten?«

»Johannes, bitte …«, sagte sie nun fast schon flehend, und er verstand, dass ihr seine Fragen wehtaten. Ohne ihn zu kennen, breitete sich in diesem Augenblick in Johannes ein unglaublicher Hass auf den Mann aus, der Anne in diese Lage gebracht hatte. Er musste an die Schatulle denken. Warum hatte Anne diesem Mann noch nichts von ihrer Schwangerschaft erzählt? Wollte sie diesen Mann gar nicht? Womöglich hatte Anne ihm, ihrem besten Freund, von dem Kind in ihrem Leib als Erstem erzählt, damit er sich um sie kümmerte? Nicht wie ein Freund, mit dem man eben seine Geheimnisse teilt, sondern wie ein Mann! Unter Umständen war ihr durch den anderen und auch ihre Schwangerschaft klar geworden, dass auch sie mehr für Johannes empfand als nur Freundschaft? Darüber hinaus hatte er ihr damals auf dem Schotterweg versprochen, immer für sie da zu sein. Wenn er sich daran erinnerte, dann sie bestimmt auch. Und sein Versprechen schloss natürlich ihr Kind mit ein. Jetzt endlich konnte er unter Beweis stellen, dass es ihm ernst war mit den Worten, die er als kleiner Junge gedacht und ihr auch gesagt hatte. Ein weiteres Mal ergriff er die Schatulle in seiner Hosentasche. Gerade, als er sie herausziehen und Anne hinhalten wollte, hörte er die Türklingel schrillen. Er zuckte zusammen. Genauso wie die junge Frau.

Johannes schluckte die Worte, die ihm bereits auf der Zunge lagen, herunter und lauschte wie Anne in die Wohnung hinein, obwohl sie beide wussten, wer der Klingler war: Peter, sein bester Freund und die Person, die er nach Anne am meisten liebte. Seit dessen Eltern beide kurz nacheinander verstorben waren, kam der Freund jeden Heiligabend vorbei, um den Beckers, Anne und ihrer Mutter seine Wünsche zu überbringen. Natürlich lud die Familie Becker Peter seitdem auch jedes Jahr zum Weihnachtsessen ein, doch das schlug dieser immer wieder aus. Dafür kam er dann später vorbei – das aber auf die Minute pünktlich. So wie jetzt, wie Johannes mit einem schnellen Blick auf seinen Wecker feststellte.

Normalerweise hätte er sich immens gefreut, doch in diesem Augenblick verfluchte er Peter für den Zeitpunkt seines Auftauchens. Er und Anne würden jetzt gleich diesen Raum ihrer Zweisamkeit verlassen müssen, um Peter zu begrüßen und mit ihm den obligatorischen, von einem von Peters Bekannten selbst gebrannten Weihnachtsschnaps zu trinken, den dieser jedes Jahr als Gabe mitbrachte. Johannes war dafür in diesem Moment alles andere als bereit geschweige denn in der Stimmung.

Als sie nun Fußgetrappel aus der Diele hörten, kam Regung in die junge Frau. Sie sprang vom Bett auf und stellte sich vor den Spiegel der Schranktür, um sich zu richten. Johannes beobachtete, wie sie sich die zerzausten Haare, die sie sich zur Feier des Tages hochgesteckt hatte, soweit ordnete, wie es bei ihrer wilden Mähne eben ging. Dann befeuchtete sie sich den Zeigefinger und wischte sich die verschmierte Wimperntusche unter den Augen weg, sodass sie nicht mehr aussah, als hätte sie Wochen nicht mehr geschlafen. Dennoch sah man ihr noch immer an, dass sie geweint hatte und es ihr nicht gut ging – ihr Gesicht war nach wie vor blass, ihre Nase rot und die Augenlider aufgequollen. Für Johannes war sie trotzdem das Schönste, was er je im Leben erblickt hatte. Stimmen drangen nun durch die Zimmertür gedämpft an sein Ohr.

Zunächst war es Helmut, der sicherlich die Wohnungstür geöffnet hatte, denn er sagte laut: »Peter, altes Haus, und wieder ohne Weihnachtsmannkostüm! Kannst trotzdem reinkommen.«

»Ja, komm rein, wir haben schon auf dich gewartet!«, sagte nun Magda, die anscheinend ebenso an die Tür gekommen war – es war ein offenes Geheimnis, dass sie seit jeher für Peter schwärmte. Nur Peter und auch ihr Mann Rainer hatten es noch nicht mitbekommen, und das war nach Johannes’ Meinung auch gut so, denn es hätte nur Zwietracht in die Familie gebracht: Peter hätte Magda niemals erhört, weil er sie nicht mochte, sich aber mit ihr als Schwester von Johannes arrangierte, wie dieser wusste, und für Rainer wäre es nicht gerade schön zu wissen, dass er nur die zweite Wahl war. Kein Mensch wollte nur zweite Wahl sein. Kaum hatte Johannes das gedacht, schoss ihm in den Sinn, dass Anne sich einem anderen hingegeben hatte, und er auch nur zweite Wahl war, wenn sie auf sein Werben eingehen würde. Er fühlte in sich hinein. Machte es ihm etwas aus? Noch hatte er ihr die Schatulle nicht mit den seit Langem überlegten Worten überreicht. Bisher wusste sie nichts von seiner Liebe zu ihr. Wenn er sie ihr gestehen würde, so, wie er es heute vorgehabt hatte, würde sich möglicherweise alles zum Guten wenden, denn vielleicht ging es ihr ja genauso. Vielleicht liebte sie ihn so wie er sie und wartete nur auf ein Zeichen von ihm? Wieder fragte er sich, ob sie ihm deswegen von dem Kind erzählt hatte. Eben nicht wie ihrem besten Freund, sondern wie einem Mann, den sie liebte und von dem sie sich eine Partnerschaft erhoffte. Der Gedanke gefiel Johannes. Das würde auch dazu passen, dass der eigentliche Vater des Kindes noch nichts von diesem wusste, dachte Johannes ein weiteres Mal. Konnte es sein, dass Anne gar nicht wollte, dass der andere Mann jemals von seinem Kind erfuhr, damit er sein Recht nicht einfordern konnte? War dieser Mann nur ein böser Ausrutscher mit Folgen gewesen? Dies alles überlegte Johannes in Sekunden. Dann fiel ihm die Uhr ein. War die Seiko ursprünglich ein Geschenk für den Anderen gewesen? Hatte sie es sich anders überlegt, sie aber nicht mehr zurückgeben können und dann eben Johannes geschenkt? Wer war bloß dieser Fremde, der Anne so nahe gekommen war?

Sie trat jetzt an ihn heran und fragte: »Wie sehe ich aus? Kann ich den anderen so unter die Augen treten?«

»Du bist wunderschön«, antwortete er unvermittelt mit nach wie vor belegter Stimme.

»Danke«, sagte sie und setzte hinterher: »Wenn ich dich nicht hätte … du bist ein wahrer Freund.«

Sie lächelte, straffte die Schultern und wendete sich schon ab, um zur Zimmertür zu treten, als seine Worte sie in der Bewegung stoppten: »Wie weit bist du?«

Sie sah ihn wieder an und strich sich zärtlich über den Bauch: »Du meinst …? Noch ganz am Anfang.«

Ohne weiter darüber nachzudenken, griff er erneut in seine Hosentasche und zog die Schatulle mit dem Verlobungsring heraus. Er machte einen Schritt auf sie zu, schluckte und sagte daraufhin: »Anne, willst du …«

»Hier seid ihr also! Wir suchen euch schon in der ganzen Wohnung«, wurde Johannes rüde unterbrochen – Magda hatte die Zimmertür, ohne anzuklopfen, aufgestoßen und stand jetzt mit schief gelegtem Kopf im Türrahmen. Johannes wusste genau, dass keiner die Wohnung nach ihnen abgesucht hatte und Magda mal wieder in ihrer spitzen Art maßlos übertrieb, dennoch sagte er nichts. Was auch? Er und Anne waren ja tatsächlich lange von den anderen weggeblieben – länger, als es sich schickte, und dennoch hatte er seine Frage nach wie vor nicht gestellt. Und er würde sie vorerst auch nicht stellen können, denn hinter Magda tauchte ein weiteres Gesicht auf. Es war das von Gisela, Peters Verlobter, die auch gleich ein: »Fröhliche Weihnachten«, ausrief, als sie Anne und Johannes erblickte.

 

Johannes mochte Gisela nicht. Anne ging es genauso. Das hatte sie Johannes einmal anvertraut, nachdem er und sie mit dem damals gerade frisch zusammengekommenen Paar auf dem Zwutsch gewesen waren. Gisela war von allem ein bisschen zu viel, nicht nur äußerlich, sondern vor allem von ihrer Art her – wenn sie lachte, lachte sie etwas zu laut, wenn sie redete, konnten alle im Lokal zuhören und verstanden jedes Wort, ihre Witze waren ein wenig zu derb, und wenn sie Peter überschwänglich vor allen Leuten küsste, machte sie dabei ein Geräusch wie ein Gummischuh, der auf Linoleum quietscht, und Peter hatte zudem das Gesicht voll mit knallrotem Lippenstift. Das alles zusammen machte Gisela in Johannes’ Augen zu einer indiskreten oder zumindest distanzlosen Person, und er konnte nicht verstehen, was Peter an ihr fand. Gut, Peter war dem weiblichen Geschlecht schon immer sehr zugeneigt gewesen und hatte mit seinem natürlichen Charme schon so manches junge Fräulein um den Finger gewickelt und sicherlich auch mehr – Johannes hatte da nie direkt nachgefragt, und Peter war niemand, der mit seinen Eroberungen prahlte – aber mit Gisela hatte der Freund sich im letzten Monat verlobt. Im kommenden April sollte die Hochzeit sein. Als Magda davon erfahren hatte, hatte sie sofort gemutmaßt, dass Peter aus reiner Berechnung um Giselas Hand angehalten hatte, da diese einmal gut erben würde. Natürlich hatte aus Magdas Mund auch die Eifersucht gesprochen, dennoch gab Johannes ihr im Stillen recht. Giselas Vater war ein reicher Bauunternehmer und die junge Frau sein einziges Kind, da würde einiges zusammenkommen, und als Polizist verdiente Peter zwar gut, aber eben auch nicht mehr. Ein wenig hatte Johannes sich für seine Gedanken über den Freund geschämt, zumal er Peters Trauzeuge sein würde, aber er konnte nichts dagegen machen. Auch jetzt wieder spürte er das Unbehagen in ihrer Gegenwart, doch Gisela merkte es wie immer nicht. »Na los, ihr beiden Turteltäubchen, kommt, sonst verpasst ihr noch den guten Schnaps«, tönte sie in das Zimmer hinein, und Johannes sah aus den Augenwinkeln, dass Annes eben noch bleiche Wangen sich leicht rosa färbten – da hatte Giselas dämliche Bezeichnung für ihn und Anne wenigstens etwas für sich. Anne nickte, und nachdem Gisela und Magda den Türrahmen freigegeben hatten, schickte sie sich an, den beiden zu folgen. Vorher warf sie Johannes aber noch einen verschwörerischen Blick zu. Es war genau der Blick, mit dem sie ihn auch als kleines Mädchen bedacht hatte, wenn sie ein Geheimnis teilten, das kein anderer wissen sollte, und deswegen verstand er sofort. So hob er wie schon damals als Junge seine Hand zum Mund, benetzte Zeige- und Mittelfinger und legte sie mit ernster Miene auf die Seite seiner Brust, hinter der sein Herz schlug. Sobald Anne das gesehen hatte, wandte sie sich ab und folgte den beiden anderen Frauen. Anne wusste, dass er sein Stillschweigen mit dem Schwur ihrer Kindheit noch einmal bekräftigt hatte. Sie wusste aber nicht, dass er sich selbst außerdem geschworen hatte, seine Frage, ob sie seine Frau werden wollte, bald zu stellen, gleichgültig, was um sie herum geschehen würde.

Johannes trat an seinen Schrank und versteckte die Schatulle mit dem wertvollen Inhalt fürs Erste wieder hinter seinen Unterhemden.

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