Vollrausch

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»Vielleicht.«

Obwohl sie offen für seine Theorie war, spürte sie, dass dieses Bild nicht auf die Frau unten im Schlafzimmer zutraf. Eine Wohnung war ein Spiegel ihrer Bewohner, und hier sah es einfach nicht nach einer Frau aus, die ihre Kinder nicht loslassen wollte und sie damit erstickte. Kate gab sich einen Ruck. »Mal sehen, was wir hier oben so finden.«

In den Flurschränken hing Winter- und Festtagskleidung in Plastikhüllen; die meisten Schubladen waren leer, ein paar enthielten makellos gefaltete Kinderschlafanzüge, noch mit den Preisschildern daran. Auf den Bücherregalen im Arbeitszimmer reihten sich Klassiker-Gesamtausgaben, Garten- und Kochbücher sowie anspruchsvollere zeitgenössische Literatur, vor allem von Frauen. Victoria Talbot blieb ihren Lieblingsautorinnen treu: A. S. Byatt, Alice Walker, Toni Morrison, Anne Tyler, Barbara Kingsolver, Dorothy Sayers, P. D. James, Joyce Carol Oates.

Auf einem der Regale standen sechs schmale braune Lederbände mit den eingestanzten Goldlettern TAGEBUCH auf dem Rücken. Obwohl es sie in den Fingern juckte, riss sie sich zusammen. Zuerst musste Baker eventuelle Fingerabdrücke abnehmen, dann erst konnte Kate sie als Beweismittel mitnehmen. Falls es sich um persönliche Tagebücher handelte, würden sie eine unschätzbar wichtige Informationsquelle sein. Neben den Tagebüchern stand eine robuste Stahlkassette mit offenem Deckel; ein dazugehöriges Zahlenschloss lag darin. »Ich wüsste zu gern, was sie hier drin aufbewahrt hat«, sagte Cameron. Kate kramte in ihrer Umhängetasche nach dem Handy.

Ein paar Minuten später stießen sie in der Küche auf Baker, der gerade ein Stück Klebefolie auf dem Türrahmen fotografierte. »Und, viele Abdrücke?«, fragte Cameron leichthin.

»Nö.« Baker zupfte die Folie von der Tür und tütete sie in einen etikettierten Plastikbeutel. »Nicht annähernd so viele, wie eigentlich da sein müssten. Hier hat irgendjemand ein Großreinemachen veranstaltet.«

Kate und Cameron nahmen die Küche in Augenschein. Sie war in einem tadellosen Zustand, die Arbeitsflächen und Küchengeräte blitzten vor Sauberkeit. Sie öffnete den Kühlschrank. Nichts Ungewöhnliches, es sei denn, man fand es ungewöhnlich, dass ein Kühlschrank innen wie geleckt aussah und die Lebensmittel ordentlich sortiert waren.

»Was sagst du zu so einem Sauberkeitsfimmel?«, fragte Cameron. »Wo uns der Sohn erzählt hat, dass Victoria Talbot nie selbst den Putzlappen schwang?«

»Jedenfalls normalerweise nicht. Sieht ganz danach aus, als wollte jemand verhindern, dass wir irgendwelche Spuren finden – vor allem Fingerabdrücke.«

»Womit der Ehemann aus dem Spiel wäre.«

»Warum denn, Joe?«, widersprach sie ihm. »Sie wohnte seit zweieinhalb Jahren hier. Vielleicht liegt eine einstweilige Verfügung gegen ihn vor – vielleicht durfte er sich dem Haus nicht nähern.«

»Interessanter Gedanke. Lass uns den Ehemann durchchecken, mal sehen, ob wir alte Anzeigen oder sogar Vorstrafen finden.«

Nachdem Cameron die Küchenschränke durchforstet hatte, trat er mit der Fußspitze auf das Pedal eines silbernen Abfalleimers, der dezent in einer Nische zwischen dem Viking-Herd und dem Küchenschrank stand. Der Deckel sprang auf. »Hey, sieh dir das mal an.«

Sie linste über seine Schulter. Tiefrote Blüten verströmten einen unverkennbaren, betörenden Duft. »Rosen. Frisch geschnitten. Bestimmt aus dem Garten.« Sie erinnerte sich an die leere Kristallvase in der Eingangshalle.

»Ja. Warum schmeißt jemand frische Rosen weg?«

Aus Wut, dachte sie. Sie notierte sich Rosen und malte einen Kringel um das Wort.

»Schade, dass wir davon keine Fingerabdrücke nehmen können. Baker?«, rief sie ihn zu sich.

Baker spähte seinerseits in den Abfalleimer und schoss ein Foto. »Ich nehme mir gleich den Eimer vor. Shapiro soll zuerst ein Foto davon machen, ohne irgendwas zu verändern, dann die Rosen auf einem weißen Untergrund ausbreiten und sie abfotografieren. Was haltet ihr davon?«

»Großartig«, sage Cameron.

* * *

Alicia Marquez trat einen Schritt von der Schautafel zurück und wandte sich wieder an Kate: »Also haben Sie die Rosen nicht beschlagnahmt. Aber die Beweismittel der Anklage Nummer sechsundfünfzig und siebenundfünfzig, diese zwei Fotos, die ich gerade an die Tafel geheftet habe, sind die Aufnahmen, die Sie an jenem Morgen machen ließen?«

»Das ist richtig.«

An dem Punkt waren die Ermittlungen so richtig in Schwung gekommen.

4. Kapitel

»Knöpfen wir uns jetzt den Ehemann vor?«, fragte Cameron.

Nach den wenigen Informationen zu urteilen, die ihnen bisher zur Verfügung standen, wies alles auf den Exmann hin. Aber sie durften auch die Lage des Hauses nicht außer Acht lassen. Es befand sich an einer ruhigen Straßenkreuzung, nur auf der einen Seite gab es unmittelbare Nachbarn. Die Bewohner des Hauses, dessen Grundstück hinten an das Talbot-Anwesen grenzte, und die Nachbarn auf der anderen Straßenseite würden wahrscheinlich nicht viel gehört oder gesehen haben. »Vielleicht erst mal die Freundin, die im Nachbarhaus wohnt.«

Falls Marjorie Durant tatsächlich eine enge Freundin war, würde die Befragung sie besser auf das anschließende Gespräch mit Douglas Talbot vorbereiten.

* * *

Draußen hatten die Pressefahrzeuge Stellung bezogen. Auch die Schaulustigen auf der anderen Straßenseite hatten Zulauf bekommen und der Lärmpegel war beträchtlich gestiegen. Mehrere Officer hielten die Menge in Schach, aber zwei Kameraleute hatten sich von den anderen abgesetzt und filmten mit ihren Schulterkameras, wie Kate und Cameron zum Nachbarhaus gingen. Die Medienmeute und die Gaffer würden nach der Hauptattraktion – dem Abtransport des Opfers in einem Leichensack – die Ausdauer verlieren. Dann würden die Pressesprecher der Polizei übernehmen und die Fragen der Reporter beantworten, auch die von Kates Lieblings-Schmeißfliege, der Polizeireporterin Corey Lanier von der L.A. Times.

Kate und Cameron folgten einem gewundenen Pfad über die akkurat gemähte, tiefgrüne Rasenfläche, vorbei an üppigen, sorgfältig gepflegten Blumenbeeten, Palmen und Yuccapflanzen, hin zu einem imposanten Haus im spanischen Kolonialstil mit weißer Stuckfassade, Bogenfenstern und einem Dach aus Terrakotta-Ziegeln, die in der Sonne funkelten. »Weit und breit nicht ein einziges totes Blatt«, bemerkte Cameron. »Es kommt also täglich ein Gärtner, sonst würden der Rasen und die Beete nicht so perfekt aussehen. Wahrscheinlich zählt in dieser Gegend Armut zu den Schwerverbrechen.«

Kate nickte. Sie trug ordentliche Kleidung, einen grauen Blazer und dunkelblaue Hosen, war sich aber plötzlich kleinerer Makel unangenehm bewusst: Die Hose war an den Knien ausgebeult und ihre Schuhe waren leicht abgetragen. Ein Swimmingpool kam in den Blick, ein meerblauer Schimmer vor weißen Kacheln. »Gleich kommt William Holden um die Ecke spaziert, ein Handtuch um die Hüften«, wisperte sie Cameron zu, als sie sich einer massiven, mit Schnitzereien verzierten Holztür näherten, die auf Hochglanz poliert war. Von drinnen ertönte entferntes, aber angriffslustiges Gekläff.

Kate klingelte und sah dabei nach rechts zum Talbot-Haus hinüber. Ein zwei Meter hoher schmiedeeiserner Zaun trennte die beiden Grundstücke, aber man hatte durch die Gitterstangen einen guten Blick auf Victoria Talbots Garten. Außerdem wuchs an der Vorderseite im Unterschied zum Nachbarhaus keine Hecke, so dass man die Straße überblicken konnte.

Die Frau, die ihnen die Tür öffnete, war vielleicht fünf Jahre älter als ihre tote Nachbarin, wirkte aber ganz und gar nicht wie Norma Desmond, die alternde Diva in Sunset Boulevard. Ihr Körper war schlank und wohlgeformt, und sie trug ein schlichtes silbergraues Jackett mit aufgenähten Taschen zu einer weiten Leinenhose, die von einer Kordel gehalten wurde. Das Haar umrahmte ihr feines Gesicht in sanften Wellen und war in einem aschblonden Farbton getönt, der die grauen Strähnen zwar nicht vollständig überdeckte, aber dezent vergessen ließ. Obwohl ihre dunkelbraunen Augen rot gerändert waren, wirkte sie gefasst, wenn auch etwas fahrig. Vor ihnen stand eine elegante ältere Frau in einem eleganten Haus, die sich sichtlich darum bemühte, Haltung zu bewahren.

Kate stellte sich und Cameron vor, und die Frau musterte sie eingehend, wobei ihr Blick etwas länger auf Cameron ruhte. »Ich bin Marjorie Durant«, sagte sie mit rauer Stimme. »Ein Officer hat mir gesagt, dass noch zwei Detectives mit mir würden sprechen wollen.« Dennoch sah sie sich ihre Dienstmarken genau an, bevor sie sie hereinbat. »Sie können sicher einen Kaffee vertragen, nicht?«

»Vielen Dank«, sagte Cameron behutsam. »Gerne.«

Als sie das Haus betraten, wurde das Kläffen immer hysterischer. Die Hunde waren wohl in ein Zimmer eingeschlossen oder im Garten ausgesperrt worden. »Ich habe drei Scotties«, erklärte sie. »Sie beruhigen sich, wenn wir uns hinsetzen.«

Im Wohnzimmer roch es nach Zigarettenrauch, und Kate kam der Gedanke, wie selten das heutzutage war. Das Haus war eindeutig von einem Innenarchitekten eingerichtet worden: Weiß gestrichene Wände mit impressionistischen Gemälden und helle Teppiche bildeten einen Kontrast zu den kunstvoll arrangierten antiken Möbelstücken und Bronzeskulpturen von Pferden und Hunden. Ein glänzend schwarzer Flügel auf einem Podest vor dem Fenster zur Straße dominierte den Raum. Ein großes und ein kleines Sofa sowie zwei reich verzierte, bernsteinfarben gepolsterte Lehnstühle umringten einen sauber ausgefegten Steinkamin mit Familienfotos auf dem Sims. Auf dem ovalen Couchtisch stand ein Bambustablett mit einer Kaffeekanne auf einem Stövchen, goldgeränderten Porzellantässchen und einem Teller Löffelbiskuit. »Ich habe auch Milch und Zucker«, sagte sie. »Aber trinkt ihr von der Polizei ihn nicht immer schwarz?«

 

Cameron grinste amüsiert angesichts dieses Klischees und antwortete: »Sicher.«

Er nahm auf einem der Lehnstühle Platz und Kate versank in dem kleinen Sofa. Irgendwie wusste sie, dass bereits die Frage, ob sie das Aufnahmegerät benutzen dürfte, Anstoß erregen würde, also zückte sie lediglich ihr Notizbuch. Während Marjorie Durant ihnen Kaffee einschenkte, sagte Kate förmlich: »Detective Cameron und ich möchten Ihnen unser Beileid aussprechen. Uns wurde gesagt, dass Mrs. Talbot Ihre Freundin war. Vielen Dank, dass Sie in dieser schweren Stunde bereit sind, mit uns zu sprechen – wir wissen, wie belastend das für Sie sein muss. Wir werden so wenig von Ihrer Zeit in Anspruch nehmen wie möglich.« Tatsächlich mussten sie die Befragung unter Zeitdruck durchführen, ohne unhöflich zu werden. Sie durften es sich auf keinen Fall mit dieser Frau verscherzen, falls im weiteren Verlauf der Ermittlungen eine erneute Befragung nötig sein würde. »Seit wann kannten Sie Mrs. Talbot?«

Mrs. Durant reichte ihnen mit fahriger Hand die dampfenden Kaffeetassen. »Seit sie mit ihrer Familie nach Hancock Park gezogen ist. Also seit mindestens zwanzig Jahren, würde ich sagen. Ich habe mich sehr gefreut, als Victoria ins Nachbarhaus einziehen konnte.«

»Das war nach der Scheidung«, soufflierte Cameron.

»Natürlich.«

Kate trank einen Schluck Kaffee, der wie erwartet köstlich war. Sie stellte die Tasse auf einem Beistelltischchen ab und blätterte in ihrem Notizbuch zurück, um Victoria Talbots genaues Alter nachzulesen: dreiundfünfzig. Dann war sie damals also dreiunddreißig gewesen. Sie fragte: »Würden Sie sagen, dass Sie eng befreundet waren?«

»Sehr eng.« Sie bot ihnen von den Löffelbiskuits an. Kate und Cameron lehnten, einen Dank murmelnd, ab. »Wenn wir einander nicht besuchten, haben wir jeden Tag telefoniert.«

Kate wartete, bis Mrs. Durant sich auf dem Sofa niedergelassen hatte, und stellte dann eine ihrer schönsten offenen Fragen: »Haben Sie irgendeine Ahnung, was dort drüben passiert sein könnte?«

Marjorie Durant zog ein Päckchen Pall Mall aus der Tasche ihres Jacketts. »Ich habe vor zehn Jahren aufgehört«, sagte sie mit bebender Stimme. In einem großen geschliffenen Glasaschenbecher auf dem Couchtisch lagen an die zwanzig nicht aufgerauchte Zigarettenstummel. »Ich musste Ella von nebenan um ein Päckchen bitten. Mein Mann wird sich furchtbar aufregen …« Sie klopfte das Ende der filterlosen Zigarette auf den Couchtisch, eine routinierte Geste, die ihre lange Abstinenz Lügen strafte. Sie sah erst Kate, dann Cameron an. »Ich weiß nicht, was vorgefallen ist, außer dass sie ermordet wurde«, sagte sie. »Vielleicht können Sie mich aufklären.«

»Wir wissen selbst noch nicht viel mehr.« Kate wollte sie noch etwas hinhalten.

Mrs. Durant zündete sich die Zigarette mit einem Streichholz an. »War es ein Einbruch?«, fragte sie. »Wir haben das Recht, wenigstens das zu erfahren. Ist sie ausgeraubt worden oder …« Sie ließ den Satz in der Schwebe.

»Das können wir noch nicht mit Sicherheit sagen«, antwortete Kate vorsichtig. »Es sieht nicht nach einer Vergewaltigung aus, aber unsere Ermittlungen stehen noch ganz am Anfang.«

Von den Hunden war jetzt nur noch vereinzeltes Gekläff zu hören. Mrs. Durant verzog das Gesicht, nickte und inhalierte gierig den Rauch ihrer Zigarette. Sie sah durch Kate hindurch, als fixierte sie einen Punkt in der Ferne. »Ich glaube, das Beste wird sein, Sie sprechen mit der Familie«, sagte sie schließlich.

Kate griff nach ihrer Kaffeetasse und Cameron nahm das als Zeichen, sich in die Unterhaltung einzuklinken. »Jeder noch so kleine Hinweis kann uns weiterhelfen …«

»Sie sprechen besser mit der Familie«, wiederholte sie.

Kate versuchte es auf anderem Wege. »Meinen Notizen zufolge war Allan dreizehn und die Mädchen zehn und acht, als die Talbots hierher zogen.«

Mrs. Durant blies den Rauch ihrer Zigarette aus. »Das kommt ungefähr hin.«

»Hatten Sie zu allen Familienmitgliedern eine enge Beziehung oder nur zu Mrs. Talbot?«

»Zu fast allen«, sagte sie mit erstickter Stimme. Sie drückte die Zigarette heftig im Aschenbecher aus.

»Zu den Kindern?«

»Zu fast allen«, wiederholte sie.

»Was ist mit den Enkeln?« Kate hatte die unbenutzten Zimmer im ersten Stock vor Augen. »Haben Sie die auch zu Gesicht bekommen?«

»In den letzten Jahren nur zu Weihnachten«, sagte sie kurz angebunden, und Kate spürte, dass sie bei diesem Thema nicht weiterkommen würden.

»Was können Sie uns zu heute Morgen sagen?«, fragte Cameron. »Haben Sie irgendetwas Ungewöhnliches gesehen oder gehört?«

»Darüber habe ich bereits nachgedacht. Ich glaube … Ich glaube, ich habe gehört, wie es passierte. Ich habe Schüsse gehört, aber das ist mir erst im Nachhinein klar geworden.«

»Um wie viel Uhr war das?«

»Ich bin mir nicht sicher, ich –« Sie schluchzte auf, drückte die nächste Zigarette aus, zog ein zerknittertes Stofftaschentuch hervor und betupfte sich die Augen.

»Es tut mir leid. Ich weiß, wie schwer das für Sie sein muss«, sagte Cameron mit sanfter Stimme. »Vielleicht erzählen Sie uns einfach, was Sie heute Morgen gemacht haben.«

»Ja. Das kann ich tun.« Sie hatte ihre Fassung wiedergewonnen. »Ich bin wie immer um halb sieben aufgestanden – die Hunde wecken uns jeden Tag. Normalerweise gehen mein Mann Gene und ich zusammen mit ihnen Gassi, aber heute musste er noch seine restlichen Sachen packen, die Limousine sollte um sieben da sein. Es ist ja nicht mehr so schlimm wie früher, aber man muss heutzutage immer noch früh am Flughafen sein, wegen dieser ganzen Kontrollen. Er sitzt jetzt gerade im Flugzeug nach Philadelphia, er hat da eine Konferenz. Ich habe ihm eine Nachricht hinterlassen, er soll mich zurückrufen. Er weiß von nichts …«

»Was für eine Konferenz?«, fragte Cameron freundlich.

»Finanzpolitik.« Sie bedachte ihn mit einem strengen Blick. »Also bin ich allein mit den Mädchen raus.«

Den Mädchen. Kate sah verstohlen zu den Fotos auf dem Kaminsims, Schnappschüsse von einem stämmigen Mann, vermutlich Eugene Durant, und Marjorie auf Europareise. Sie fragte sich, ob die Hunde, die jetzt endlich aufgehört hatten zu bellen, den Durants die erwachsenen Kinder ersetzten, die dem Nest entflohen waren. Sie trank ihren Kaffee aus und fragte dann: »Ist Ihnen sonst noch was aufgefallen? Fremde Personen? Autos auf der Straße, die da nicht hingehörten?«

Sie schüttelte den Kopf. »Dazu kann ich nichts sagen. Ich war zu sehr mit den Mädchen beschäftigt. Die drei sind sehr lebhaft, und sie hielten mich ganz schön auf Trab, obwohl ich sie an der Leine hatte.«

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Kate. »Haben Sie –«

»Warten Sie. Da stand ein schwarzes Auto. Auf dem Rückweg ist mir aufgefallen, dass es schräg geparkt war.«

»Wo?«

»Ein Stück die Straße runter.«

»Welches Fabrikat?«

»Ein Mercedes, glaube ich. Ja, ich bin mir sogar ziemlich sicher. Ein nagelneuer Wagen.«

»Noch mit dem Händlerkennzeichen?«

»Ja. Aber mehr kann ich dazu nicht sagen.«

»In Ordnung. Können Sie uns ungefähr sagen, wann Sie das Haus verließen oder wann Sie zurückkamen?«

»Ich bin etwa fünf Minuten, bevor Gene gefahren ist, wieder da gewesen. Also ungefähr um fünf vor sieben.«

»Bei welcher Autovermietung haben Sie die Limousine bestellt?«

»Bei Liberty.« Die Antwort kam ohne Zögern. Kate wurde klar, dass sie die Verleihfirma ständig in Anspruch nahmen. »Der Fahrer war Paul«, fügte Mrs. Durant hinzu.

Kate notierte sich, den Fahrer zu befragen; sie kamen meist etwas früher zu ihren Terminen, und vielleicht hatte er etwas gesehen, während er wartete. »Was war mit den Schüssen?«, fragte sie. »Um wie viel Uhr –«

»Oh, das war äußerst merkwürdig.« Mrs. Durant schüttelte eine weitere Zigarette aus der Packung. »Ungefähr eine halbe Stunde nachdem Gene fort war; im Fernsehen liefen die Today-Lokalnachrichten. Ich bin aufgestanden und in die Küche gegangen, um … Ich weiß nicht mehr, warum. Ich hörte einen lauten Knall. Einer der Hunde bellte von hinten, das hätte mich stutzig machen müssen, aber die Tiere sind ja so überempfindlich, und sie hat nur ein einziges Mal gebellt, also nahm ich an – ohne groß darüber nachzudenken –, dass es in den Nachrichten gewesen war. Ich muss gestehen, dass ich nicht so gut höre und der Fernseher etwas lauter gestellt war. Na ja, außerdem kommt man doch nicht auf die Idee, dass es ein echter Schuss gewesen sein könnte …«

Jedenfalls nicht in dieser Gegend, dachte Kate. »Wenn also gerade die Lokalnachrichten liefen, dann war das gegen halb acht?«

»Das kommt hin. Komisch war nur, dass ich danach noch einen Knall hörte.«

»Ja«, sagte Cameron. »Sie wurde –«

»Mrs. Durant«, fiel ihm Kate ins Wort, ohne ihn anzusehen. Fast hätte er enthüllt, dass Victoria Talbot mit mehreren Schüsse getötet worden war, ein schwerer Fehler. »Und dieser zweite Knall hat sich genauso angehört wie der erste?«

Sie nickte. »Absolut.«

»Warum war es dann komisch?«

»Na ja … weil …« Sie schien peinlich berührt. »Vielleicht war es ja gar nicht komisch. Vielleicht sind wir alle zu sehr von diesen Fernsehkrimis beeinflusst. Man hört etwas, das wie ein Schuss klingt, und wenn dann keine weiteren Geräusche folgen, denkt man, man hat sich geirrt.«

»Das verstehe ich nicht. Sie haben doch noch einen Schuss gehört. Oder waren es mehr als zwei?«

»Nein. Aber der zweite Schuss kam später.«

»Wie viel später?«

»Ich wusste, dass Sie mir diese Frage stellen würden, und habe den ganzen Morgen darüber nachgedacht. Vielleicht fünf Minuten. Oder sogar zehn.«

»Ganze zehn Minuten?«

Die Frage kam von Cameron, aber Kate war genauso überrascht wie er. Sie hatte alles mitgeschrieben, so wörtlich wie möglich.

»Ja. Vielleicht aber auch nur fünf, wie gesagt. Sie wurde doch erschossen, nicht wahr?«

»So ist es«, antwortete Kate.

»Vielleicht war der erste Schuss tatsächlich in den Nachrichten. Oder … mit wie vielen Schüssen wurde sie denn –«

»Das werden wir erst wissen, wenn der Pathologe … äh, uns seine Ergebnisse mitteilt«, beendete Kate den Satz taktvoll, indem sie das Wort »Autopsie« vermied. »Sie können ziemlich genau sagen, wann der erste Schuss fiel. Gibt es einen Grund, warum Sie sich unsicher sind, wie viel Zeit bis zum zweiten Schuss verging?«

»Ich telefonierte in der Küche mit meiner Tochter, und zwei der Hunde haben sich um ihre Futternäpfe gezankt und gebellt und ein Riesentheater veranstaltet, da habe ich nicht mehr auf die Zeit geachtet. Aber vielleicht irre ich mich ja auch …« Sie warf ihnen einen entschuldigenden Blick zu. »Ich stehe etwas neben mir, vielleicht täuscht mich meine Erinnerung.«

»Dafür haben wir Verständnis. Wir wissen, dass Sie sich große Mühe geben. Könnte der zweite Schuss denn weniger als fünf Minuten nach dem ersten gefallen sein?«

»Nein«, sagte sie entschieden. »Es vergingen mindestens fünf Minuten. Aber vielleicht eben auch mehr.«

»Heißt das, es könnten auch mehr als zehn Minuten vergangen sein?«

»Möglicherweise. Es könnte sein.«

»Und Sie können auch nicht anhand des Fernsehprogramms einschätzen, wie viel Zeit –«

»Nein. Der Fernseher lief, aber ich habe überhaupt nicht darauf geachtet.«

»Woran erinnern Sie sich als Nächstes, Mrs. Durant?«

»Sirenen. Die Polizei. Allan kam aus dem Haus gerannt, lief ihnen entgegen, er war kreidebleich und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Die Sanitäter sind rein ins Haus. Dann kamen noch mehr Polizeiwagen, sie haben die ganze Straße versperrt.«

»Wie lange nach dem zweiten Schuss war das?«

»Nicht lange. Ein paar Minuten. Erst in dem Moment ist mir klar geworden, was die Geräusche bedeuteten, die ich gehört hatte – sonst wäre ja die Polizei nicht gekommen und so. Ich lief rüber, aber sie haben nur meinen Namen aufgeschrieben und wollten mir nichts weiter sagen, als dass eine Frau tot aufgefunden worden war. Aber das wusste ich bereits. Genauso wie ich es wusste, als ich ins Wohnzimmer meiner Mutter kam und sie wie immer in ihrem Lehnsessel saß, aber …«

 

»Ja«, sagte Kate einfühlsam. »Manchmal weiß man es einfach.« So wie Allan Talbot.

»Als ich den ersten Schuss hörte, trank ich gerade Kaffee und sah fern, und es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass Vicki –« Als sie den Namen aussprach, brach ein Damm; sie senkte den Kopf und begann zu weinen.

Kate wartete, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Sie war sicher, dass es nicht lange dauern würde; die Frau besaß eine erstaunliche innere Kraft. »Mrs. Durant, konnten Sie feststellen, aus welcher Richtung die Schüsse kamen?«

»Leider nicht genau. Aber doch, im Nachhinein, vor allem beim zweiten Schuss, weil ich da in der Küche war und das Fenster offen stand. Er kam aus der Richtung von Vickis Haus, aber zu dem Zeitpunkt dachte ich, das Geräusch käme von dem Grundstück auf der anderen Seite der Kreuzung oder sogar von den Häusern hinter unseren Gärten. Es tut mir leid, ich habe einfach nicht begriffen, was los war –«

»Natürlich. Wer hätte das schon«, sagte Cameron mitfühlend. »Haben Sie sonst noch was gehört? Laute Stimmen? Ein anfahrendes Auto auf der Straße?«

»Keine Stimmen. Lassen Sie mich nachdenken …« Sie schloss die Augen und rieb die Nasenwurzel zwischen Zeigefinger und Daumen, um sich zu konzentrieren. »Nein, aber das konnte ich auch nicht. Die vorderen Fenster sind doppelt verglast.«

»Und Sie haben auch sonst nichts Ungewöhnliches durch die Fenster beobachtet?«

»Nein.«

Mehr war aus Marjorie Durant offensichtlich nicht herauszubringen, aber Kate wollte noch eine letzte entscheidende Frage loswerden. »Was ist mit Mrs. Talbots Exmann?«, erkundigte sie sich. »Kannten Sie ihn gut?«

»Früher einmal, ja. Seit der Scheidung nicht mehr.«

»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

»Ich hatte keine Interesse daran, ihn zu sehen. Ich habe diesbezüglich bereits alles gesagt, was ich zu sagen habe«, erwiderte Mrs. Durant. »Ich habe mich doch wohl kooperativ genug gezeigt.«

»Wir sind Ihnen sehr dankbar für Ihre Hilfe.« Kate hatte den Eindruck, dass Marjorie Durant entgegenkommender sein würde, wenn sie sie mit Ermittlungsergebnissen konfrontierten und sie um eine Bestätigung der Informationen baten. Sie zückte eine Visitenkarte und legte sie auf den Couchtisch. »Wir werden im Verlauf der Ermittlungen auf Sie zurückkommen. Falls Sie sich an weitere Details erinnern oder noch etwas ergänzen wollen, rufen Sie mich bitte an.«

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