Vollrausch

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Kate fuhr fort: »Wir brauchen die Adressen und Telefonnummern Ihrer Schwestern, Allan. Und die Ihres Vaters. Ihre Mutter war dreiundfünfzig, richtig? Wie alt war Ihr Vater?«

»Fünfundfünfzig.«

»Und Ihre Schwestern?«

»Rikki ist dreißig. Lisa achtundzwanzig.«

»Und Sie?«

»Dreiunddreißig.«

»Erzählen Sie uns von Ihrer Mutter, Allan. Was war sie für ein Mensch?«

Hoffentlich hatte er mehr als die üblichen Klischees zu sagen – und konnte ihnen ein paar Anhaltspunkte zu ihrem Leben außerhalb der Familie liefern.

»Gebildet, charmant«, antwortete er. »Sie las gerne, hörte klassische Musik. Sie war ruhig, ausgeglichen …«

»Freunde?«, erkundigte sich Cameron.

»Viele Bekannte, wenige Freunde. Mit den meisten Menschen hatte sie wenig gemeinsam, fand sie.«

»Wohnen welche in der Nähe?«

»Marjorie Durant wohnt nebenan.« Talbot wies vage nach links. »Sie und meine Mutter standen sich ziemlich nah.«

Endlich ein brauchbarer Hinweis. Jemand, der sich als unerschöpfliche Quelle für Informationen aller Art erweisen konnte. Kate notierte sich den Namen. »Wie lange wohnt Ihre Mutter schon in diesem Haus?«

»Hier? Seit zweieinhalb Jahren. Vorher wohnten wir im Rossmore Drive.«

»Ist sie die alleinige Eigentümerin?«

»Ja.«

»Was hat sie sonst so getan?«, fragte Cameron. Auch er machte sich Notizen. »Arbeitete sie? Oder engagierte sie sich ehrenamtlich?«

»Sie hat nicht gearbeitet. Bitte … ich kann nicht …« Er beendete den Satz nicht.

Talbot war sichtlich fertig. Kate platzierte ihre letzte Frage. »Allan, wissen Sie, wer das hier hätte tun können?«

»Es tut mir leid. Ich bin wirklich am Ende«, antwortete Talbot mit verzerrtem Gesicht.

Wenn sie ihn jetzt weiter in die Mangel nahmen, wäre das Folter. Kate schaltete ihr Aufnahmegerät aus. »Vielen Dank, Allan.«

»Ich muss meine Schwestern anrufen. Oh Gott.« Talbot wurde von Schluchzern geschüttelt.

3. Kapitel

Im Gerichtssaal fragte Alicia Marquez Kate: »Was war Ihr nächster Schritt nach der Befragung des Sohnes?«

»Detective Cameron und ich haben uns das Haus und den Fundort der Leiche noch einmal gründlich angesehen.«

»Hatten Sie das Ihrer Aussage zufolge nicht bereits getan?«

»Nein. Detective Cameron und ich konnten nur eine sehr oberflächliche Untersuchung vornehmen, während wir auf die Leute von der Spurensicherung warteten.«

»Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl beantragt?«

Kate gab keine Antwort; am Rande ihres Blickfeldes hatte sie den Geschworenen Nummer sechs, einen grauhaarigen Mann in einem flammend orangefarbenen Polohemd, zögerlich die Hand heben sehen. Es war das vereinbarte Handzeichen, mit dem die Geschworenen um eine Toilettenpause bitten konnten.

Auch dem Richter war es nicht entgangen. »Meine Damen und Herren, das Gericht legt eine zehnminütige Pause ein«, verkündete er und belehrte die Jury mit dem Standardsatz, dass sie den Fall nicht vor Ende des Prozesses untereinander diskutieren durften.

Kate steckte ihre Mappe ein, schnappte sich die Umhängetasche und verließ den Zeugenstand.

»Läuft doch prima, Kate«, sagte Marquez geistesabwesend und sah nicht auf, als Kate am Tisch der Anklagevertretung vorbeiging; die Staatsanwältin war damit beschäftigt, in ihrer Aktentasche zu wühlen.

Kate antwortete mit einem unverbindlichen »Mhm«. Sie hatte recht, bisher lief es gut, jedenfalls einigermaßen. Aber Quantrills Kreuzverhör stand ja auch noch bevor.

Sie ging kurz auf die Toilette und hielt dann nach einem freien Platz auf den dicht besetzten Bänken Ausschau, die an beiden Seiten des Flurs entlangliefen. Ein paar Leute hatten ihren Kopf an die Wand gelehnt und dösten vor sich hin, während sie auf einen Prozessbeginn oder eine Urteilsverkündung warteten, oder darauf, in den Zeugenstand gerufen zu werden. Andere lasen, telefonierten oder fummelten nervös an sich herum. Corey Lanier, die in ihr Handy plapperte, war unter ihnen. Als sie Kate sah, stand sie abrupt auf und rauschte davon. Damit waren die Fronten klar.

Kate setzte sich mit einem grimmigen Lächeln auf Laniers Platz. Normalerweise war die Times-Reporterin eine wahre Nervensäge, aber solange Kate als Zeugin in diesem Prozess auftrat, durfte sie nur mit Kollegen in Ausübung ihres Berufs über den Fall reden. Also musste die Reporterin sich gezwungenermaßen von ihr fernhalten. Wenn sie sich darüber hinwegsetzte, würde Lanier höchstwahrscheinlich von der Verhandlung ausgeschlossen, ein Desaster, da sie sich ihre Brötchen als Polizei- und Gerichtsreporterin verdiente.

Schon auf dem Weg zur Toilette hatte Kate ihr Handy hervorgeholt, um die Mailbox abzuhören: keine Nachrichten. Jedenfalls nicht die eine, die sie sehnsüchtig erwartete. Auf der Bank beugte sie sich vor und rief in Aimees Büro an. Geübt tippte sie sich durch das automatisierte Telefonsystem von Pearce & Woodall und landete schließlich auf Aimees Anrufbeantworter. Sie legte auf, wählte erneut und erreichte diesmal eine von Aimees Kolleginnen in der Kanzlei. »Hallo, Jenny, ich bin’s, Kate«, sagte sie mit gespielter Heiterkeit. »Ist Aimee irgendwo in der Nähe?«

»Hallo, Kate. Wie geht’s dir? Aimee hat sich einen Stapel Arbeit mit nach Hause genommen.«

Das war nichts Neues – Aimee brütete oft zu Hause über kniffeligen juristischen Fragen. Kate dankte ihr und rief bei sich zu Hause an. Wie immer sprang der Anrufbeantworter nach drei Freizeichen an. Nach dem Piepton fragte sie vorsichtig: »Bist du da?« Keine Antwort. Sie rief noch mal an und tippte diesmal den Zugangscode für den Anrufbeantworter ein. »Sie haben zwei neue Nachrichten«, informierte sie die Automatenstimme.

Das erste Mal hatte jemand nach einigem Zögern aufgelegt, die zweite Nachricht war ihr eigener Anruf. Sie löschte beide Nachrichten.

Wenn bloß mein verfluchter Bruder mir seine kümmerliche Existenz weiterhin verheimlicht hätte. Das ganze Chaos mit Aimee war allein seine Schuld, dachte sie wutschnaubend. Ein Bruder, von dem sie nicht einmal gewusst hatte, bevor er in ihr Leben platzte. Ein Bruder, der Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, sogar ein Detektivbüro beauftragt hatte, um sie ausfindig zu machen. Ein Bruder, der sein Glück kaum fassen konnte, als sie sich in einem Restaurant in der Nähe des Flughafens getroffen hatten, der tief von ihr beeindruckt gewesen war, von ihrer Karriere beim Militär und bei der Polizei. Der sie noch am selben Abend anrief, mehr Zeit mit ihr verbringen wollte und vorschlug, etwas trinken zu gehen. Da sie fest entschlossen war, die Geheimniskrämerei ihrer Familie nicht bei diesem neu entdeckten Familienmitglied fortzuführen, hatte sie gesagt: »Ich bringe meine Partnerin mit, dann kannst du sie kennenlernen.«

»Gerne. Du meinst … deine Partnerin bei der Polizei?«

»Nein. Die Frau, mit der ich seit über zehn Jahren zusammenlebe.«

»Nein. Äh, nein«, stammelte er. »Das kann ich nicht. Ich hatte ja keine Ahnung … Hör zu, vergiss es. Ich fahre einfach … Sieh mal, ich möchte nicht, dass meine Familie mit so etwas –«

An dieser Stelle hatte sie den Hörer so vehement auf die Basisstation geknallt, dass er ihr wieder entgegengehüpft kam.

Hätte sie das doch wieder getan, hätte sie bloß direkt aufgelegt, als das Arschloch ein zweites Mal anrief, dachte sie missmutig. Als sie sich an das Gespräch erinnerte, kochte sie wieder vor Wut.

Sie hatte es sich in ihrem Sessel bequem gemacht und die Füße hochgelegt, nippte an ihrem Scotch und ging die Notizen zu einem Fall durch, als Aimee ihr das tragbare Telefon brachte. Sie wedelte mit der Hand und schüttelte nachdrücklich den Kopf, da sie Aimee bereits gesagt hatte, dass sie mit niemandem sprechen wollte, und sei es der Polizeichef von Los Angeles – sie würde morgen vor Gericht aussagen und musste sich jetzt voll und ganz darauf konzentrieren.

Aber Aimee hatte mit dem Mund die Worte »dein Bruder« geformt.

Verblüfft fragte Kate: »Was will der denn noch?«

Aimee flüsterte: »Ein Notfall.«

Lachhaft, dachte Kate und riss Aimee das Telefon aus der Hand. Sie würde ihn abwimmeln und damit seine Anrufe und vor allem ihn selbst ein für alle Mal loswerden.

»Was willst du, Dale?«, bellte sie in den Hörer. »Was willst du verdammt noch mal von mir?«

»Es tut mir leid, dich zu stören –«

»Das sollte es auch.« Sie wunderte sich über das Zittern in seiner Stimme, aber es ließ sie kalt. Egal was er sagen würde, egal welche Neuigkeiten er für sie hatte, es war ihr piepegal.

»Hör zu, ich hätte nicht wieder angerufen, wenn es kein Notfall wäre. Dylan wird vermisst.«

Sofort übernahm die Polizistin in ihr das Ruder und sie fragte automatisch: »Wie meinst du das, vermisst?« Auch wenn sie mit Dale Harrison auf Kriegsfuß stand, ihre Nichte musste ja nicht zwischen die Fronten geraten. Auch wenn sie diese Nichte noch nicht einmal kannte.

»Sie ist von zu Hause weggelaufen.«

Kate schüttelte ungläubig den Kopf. Was für ein Schwachkopf. »Und warum rufst du dann nicht die Polizei von Red Bluff an?«

»Das habe ich bereits getan, aber –«

»Und was haben die gesagt?«

»Dass sie wahrscheinlich bei Freunden ist und wieder auftauchen wird.«

»Das ist meistens der Fall.« Sie musste es wissen; zu Beginn ihrer Polizeikarriere hatte sie im Dezernat für Kinder- und Jugendkriminalität gearbeitet. »Wie lange ist sie denn schon weg?«

»Seit sechs Tagen. Sie hat uns einen Zettel hinterlassen.«

 

»Hast du den der Polizei gezeigt?«

»Ja. Sie sind der Meinung, das beweist, dass sie zurückkommt. Aber das wird sie nicht.« Er stieß schwer atmend hervor: »Auf dem Zettel stand, dass wir niemals akzeptieren werden, wer sie wirklich ist.«

Die ewige Klage überbehüteter Teenager oder solcher, die sich dafür hielten. »Dale«, sagte sie ungeduldig und warf einen Blick auf den Stapel Unterlagen auf ihrem Schoß. »So was machen Jugendliche nun mal. Sie wird schon zurückkommen.«

»Wir glauben, sie ist abgehauen, weil sie so sein will … weil sie glaubt … weil sie glaubt, dass sie so sein will … wie du.«

Das verschlug ihr erst mal die Sprache. Schließlich brachte sie hervor: »Schätze, du meinst damit nicht, dass sie Polizistin werden will.«

»Nein«, erwiderte Dale Harrison.

Wieder schwieg sie eine Weile. Sie hatte das Bild des Mannes am anderen Ende der Leitung genau vor Augen, sein dünnes graues Haar, das Gesicht, das ihrem Vater so gespenstisch ähnlich sah. Nicht ihrem Vater in jungen Jahren, sondern dem Siebenundfünfzigjährigen, an den sie sich so deutlich erinnerte. Denn Dale Harrison war älter als Andrew Delafield bei seinem Tod. Dale Harrison, ihr leiblicher Bruder, fünf Jahre älter als sie, der als Kleinkind während des Krieges von einer anderen Familie adoptiert worden war. Seine Existenz war das bestgehütete Geheimnis ihrer Mutter und ihrer Tante gewesen.

Ihr Leben lang hatte sie sich gefragt, ob sie ihren Eltern die Gelegenheit hätte geben müssen, ihre lesbische Tochter anzunehmen oder abzulehnen. Und jetzt hatte dieser dahergelaufene Bruder, dieser billige Abklatsch ihres Vaters es gewagt, sie zu verurteilen …

Kühl fragte sie: »Und was habe ich damit zu tun?«

»Such sie. Sag ihr, sie soll nach Hause kommen.«

»Du wohnst in Red Bluff. Ich bin in Los Angeles. Am anderen Ende von Kalifornien.«

»Sie ist entweder dort oder in San Francisco. Wahrscheinlich eher in Los Angeles.«

»Woher willst du das wissen?«

»Wir haben … Hinweise gefunden. Auf ihrem Computer. Ein Computerspezialist hat uns geholfen, ihr Passwort zu knacken. Wir haben E-Mails gefunden, Websites. Und … noch mehr.«

Computer-Forensik, das allerneuste Röntgenverfahren, mit dem man das Innenleben eines Computerbenutzers durchleuchtete, ein wirksames Hilfsmittel der Polizei, um Indizienbeweise zu sammeln – und anscheinend die moderne Methode, mit der Eltern die Wahrheit über ihre Kinder herausfanden. »Was für Hinweise?«, fragte sie.

Wieder atmete er schwer ins Telefon. »Homokram. Sie hat sich eine Menge Infos vor allem über die Szene in Los Angeles heruntergeladen und über ein neues schwullesbisches Zentrum in San Francisco.«

»Du Armer, wie schrecklich für dich«, flötete Kate. Was ging sie das an. Sie musste sich auf die Verhandlung vorbereiten. Und außerdem wussten sie ja anscheinend, wo ihre Tochter war. Aber eins wollte sie doch noch wissen: »Warum suchst du nicht selbst nach ihr?«

»Glaub mir, das würde ich ja. Aber einer der Cops hat mir gesagt, dass ich dafür festgenommen werden könnte. Ein Mann in meinem Alter, der ein junges Mädchen zwingen will, mit ihm zu kommen – ich müsste vom Knast aus beweisen, wer ich bin. Und selbst wenn es mir gelänge, Nan ist der Meinung, wir müssten sie schon einsperren, damit sie nicht wieder wegrennt, also muss sie freiwillig zurückkommen.«

Nans Einschätzung klang vernünftig. »Falls sie zurück-kommt … wie werdet ihr mit ihr umgehen?«

»Sie ist erst sechzehn.«

»Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, dass sie noch Zeit hat … Zeit, sich umzuentscheiden. Das wirst du ja wohl nicht bestreiten.«

»Sich umzuentscheiden? Es hört sich nicht danach an, als könnte sie sich nicht entscheiden.«

»Sie hält sich mit gerade mal sechzehn für lesbisch«, sagte er schneidend. »Du willst mir doch wohl nicht weismachen, dass man sich in diesem Alter schon sicher sein kann.«

»Allerdings, Dale. Ich wusste es viel eher. Genau wie du dir über deine sexuelle Orientierung im Klaren warst.«

»Also, ich habe mich da mal erkundigt, wegen dieser … Orientierung. Das muss nicht so sein. Man kann das –«

»Verstehe ich dich richtig?« Kate umklammerte den Hörer. »Du willst, dass ich deine lesbische Tochter finde, damit du sie umpolen kannst, sie geradebiegen?«

»Es könnte doch sein, dass sie noch nicht – Scheiße, vergiss meinen Anruf. Ich habe Nan gleich gesagt, dass es idiotisch ist –«

»Du kannst deiner Frau was von mir ausrichten«, schnitt ihm Kate das Wort ab. »Du bist der Vollidiot in eurer Familie.« Sie rammte ihren Finger auf den Knopf zum Auflegen und starrte erbost auf das tragbare Telefon. Am liebsten hätte sie es mit aller Kraft an die Wand geschmissen und wünschte sich, sie könnte es auf die Basisstation knallen wie beim letzten Mal.

Sie sah hoch und begegnete Aimees ungläubigem, missbilligendem Blick.

»Ist was?«, fragte Kate. Sie musste weiterarbeiten. Es war wichtig. Aimee war schuld daran, dass sie den Anruf dieses homophoben Ekelpakets von einem Bruder überhaupt entgegengenommen hatte.

»Deine Nichte ist von zu Hause weggelaufen – habe ich das richtig verstanden?«

»Das hast du.«

»Und du willst nichts unternehmen?«

»Ganz genau.« Sie hatte keine Zeit für eine Diskussion. Sie hatte für diesen ganzen Schwachsinn einfach keine Zeit. »Du hast richtig gehört. Ich werde gar nichts unternehmen.«

Aimee verschränkte die Arme. Sie sprach langsam, jedes einzelne Wort betonend. »Dieses Mädchen ist deine Nichte.«

»Eine Nichte, die ich noch kein einziges Mal zu Gesicht bekommen habe, wie du sehr wohl weißt.«

Aimee hob die Stimme. »Eine Nichte, die lesbisch ist.«

»Na und?«

»Du hast eine Nichte, die von zu Hause abhauen musste, weil sie lesbisch ist!«

Kate brüllte zurück. »Na und?«

»Du bist ihre lesbische Tante!«

»Mir doch egal! Was erwartest du von mir?«

Aimee entkreuzte die Arme und stemmte die Hände in die Hüften. »Sie steckt in Schwierigkeiten, Kate.« Sie senkte die Stimme. »Sie braucht Unterstützung.«

»Aimee. Sie ist die Tochter eines Mannes, der mich verabscheut. Uns verabscheut.«

»Ich sage ja nicht, dass du deinem Bruder helfen sollst. Ich spreche von einer jungen Frau, die deine Hilfe braucht.«

»Reden wir doch mal vernünftig darüber, okay? Er wohnt in Red Bluff, und sie ist vielleicht hier, vielleicht aber auch in San Francisco. Und ich stecke mitten in diesem Fall, der gerade vor Gericht verhandelt wird.«

»Du steckst immer gerade mitten in irgendwas. Du findest immer eine Ausrede. Immer.«

Kate schnaubte: »Was willst du damit sagen?«

»Wäre dieser Anruf vom Revier gekommen statt von deinem Bruder, wärst du längst wie ein geölter Blitz zur Tür raus.«

Kate zuckte ungeduldig mit den Schultern. Die Leier, ihre Arbeit beanspruche sie zu sehr, kannte sie in- und auswendig. Eine lesbische Ausreißerin konnte man wohl kaum mit einem Mordfall vergleichen. »Bis dieser Fall abgeschlossen ist, geht er vor. Das muss so sein. Job ist eben Job.«

»Nein, für dich ist der Job eben nicht einfach nur ein Job. Der Job ist dein Leben.«

»Das stimmt nicht. Du hast nie verstanden, was es heißt, Polizistin zu sein.«

Aimee stapfte zum Flurschrank und riss ihre Lederjacke vom Bügel. »Nach dreizehn Jahren verstehe ich zwei Dinge. Dein Job steht an erster Stelle. An zweiter kommt der Drink in deiner Hand. Alles andere – vergiss es. Egal was passiert, deine Nichte hätte keine Chance bei dir. Gnade Gott demjenigen, der es wagt, sich zwischen Kate und ihre zwei wahren Leidenschaften zu drängen.« Sie warf sich die Jacke über und griff nach ihrer Tasche. »Zur Hölle mit allen, die deine Hilfe brauchen und nicht den Vorteil haben, tot zu sein.«

Kate ließ diesen Schwall von Anschuldigungen über sich ergehen, weil sie plötzlich nur noch eine Sorge hatte. »Wo willst du denn hin?«

»Raus hier.«

»Pass auf dich auf.«

Aimee warf ihr einen vernichtenden Blick zu und knallte die Tür hinter sich zu.

Kate ließ sich in ihren Sessel sinken. Morgen würde sie als Zeugin aussagen. Sie musste sich vorbereiten – sie hatte gar keine Wahl; sie durfte nichts dem Zufall oder ihren verschwommenen Erinnerungen überlassen. Es war der Abend vor ihrer Aussage in einem wichtigen Mordprozess – wie konnte Aimee nur so irrational sein?

Sie griff nach ihrem Scotch. Eigentlich hatte Aimee in den dreizehn gemeinsamen Jahren trotz zahlreicher Lippenbekenntnisse nie richtig verstanden, unter welchem Druck sie stand, wenn sie in einem Mordfall ermittelte, und wie viel Kraft es kostete, am Tatort gefasst und professionell zu bleiben und in den Stunden und Tagen nach dem Mord den trauernden Angehörigen gegenüberzutreten. Dass sie jedem noch so kleinen Detail der Ermittlungen ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenken musste, damit die Ergebnisse vor Gericht standhielten. Aimee hatte nie begriffen, wie lebensnotwendig es war, in ihrer knapp bemessenen Freizeit alles wegzuschieben, damit sie am nächsten Tag wieder funktionieren konnte.

Sie trank einen großen Schluck von ihrem Scotch, dann noch einen und leerte das Glas. Ja, sie trank – es war ihre Medizin und sie brauchte das, verdammt noch mal. Sie hatte nie Pillen geschluckt oder Drogen genommen und sie war keine Alkoholikerin. Außerdem hatte sie aufgehört zu rauchen – nicht dass sie dafür von Aimee großes Lob geerntet hätte. Jedenfalls hatte sie ihre Pflicht und Schuldigkeit getan, als sie die Kippen aufgab. Sogar mehr als das.

Sie schlurfte in die Küche und schenkte sich noch einen Drink ein, dann ließ sie sich wieder in den Sessel fallen. Als sie ein entferntes Kratzgeräusch aus dem Papierkorb in Aimees Arbeitszimmer hörte, rief sie: »Komm her, meine Süße.«

Miss Marple erschien gehorsam in der Tür zum Wohnzimmer und stolzierte würdevoll über den Teppich. Kate legte den Stapel Berichte beiseite, die Katze sprang auf ihren Schoß und begann sofort, mit den Pfoten ihren Bauch und ihre Oberschenkel rhythmisch zu bearbeiten. Das robuste Gewebe von Kates Jeans bot leider nur unzureichenden Schutz vor ihren Krallen.

»Du bist die einzige Frau, die mich je verstanden hat«, raunte Kate ihr zu und kraulte das weißgraue, samtweiche Fell unter dem Kinn. Miss Marple schnurrte und rollte sich auf ihrem Schoß ein.

Kate nahm sich den Obduktionsbericht vor und nippte an ihrem Drink. Sie würde für ihren Bruder und seine Tochter keinen Finger rühren, verdammt noch mal. Egal was für Schuldgefühle Aimee ihr deswegen einzureden versuchte. Wenn Aimee sich erst mal beruhigt hatte, würde sie es verstehen. Und nach Hause kommen.

* * *

Aber Aimee war auch am folgenden Tag nicht nach Hause gekommen. Hatte nicht einmal angerufen.

Um Kate herum strömten die Leute wieder in den Gerichtssaal. Sie schaltete ihr Handy aus und schloss sich ihnen an.

Als die Verhandlung fortgesetzt wurde, sagte Alicia Marquez: »Vor der Pause fragte ich Sie, ob Sie für Victoria Talbots Haus einen Durchsuchungsbefehl beantragt haben.«

Kate nutzte die Gelegenheit. »Da uns der Sohn des Opfers versichert hatte, dass sie die alleinige Eigentümerin war –«

»Einspruch, irrelevant«, unterbrach Quantrill sie.

»Stattgegeben.« Richter Jackson Terrell sagte tadelnd: »Haben Sie nun einen Durchsuchungsbefehl bekommen oder nicht, Detective?«

»Das haben wir, Euer Ehren.« Terrell herrschte tatsächlich mit eiserner Faust über seine Gerichtsverhandlungen.

Aber Marquez hakte gekonnt nach: »Also haben Sie auf den Durchsuchungsbefehl gewartet, obwohl das formal gar nicht nötig war.«

»Das ist richtig.« Inzwischen war es unerlässlich, einen Durchsuchungsbefehl in der Hinterhand zu haben, um sich abzusichern. Sie durfte nicht das Risiko eingehen, wegen juristischer Tricks der Verteidigung vor Gericht mit einer Mordanklage zu scheitern.

»Wurden am Tatort Beweismittel gesichert?«

»Ja, sowohl von den Kriminaltechnikern als auch von Detective Cameron und mir.«

»Haben Sie als Leiterin der Ermittlungen die Entscheidung getroffen, welche Beweise gesichert wurden und von wem?«

»Ja. Die Leute von der Spurensicherung arbeiteten auf Anweisung von Detective Cameron oder mir.«

 

Aber bevor die Spurensicherung eintraf, hatten Cameron und sie sich einen ersten Überblick verschafft. Während sich Officer Donna Moreno von Allan Talbot die Daten der anderen Familienmitglieder diktieren ließ und ihn anschließend zu seinem Auto begleitete, verglichen Kate und Cameron ihre Notizen.

»Direkt unter der Oberfläche seiner Trauer«, sagte Cameron, »rast der Typ vor Wut.«

Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Cameron hatte das Lodern in Talbots Augen, das hinter seinem Kummer durchschien, identifiziert. »Du hast recht, Joe. Er glaubt, sein Vater könnte etwas damit zu tun haben.«

»Der Schmuck wurde mitgenommen, damit es nach einem Einbruch aussieht, aber wie du gesehen hast, trug sie einen Diamantring. Wäre sie tatsächlich überfallen worden, hätte der Täter sie bestimmt gezwungen, den Ring herauszurücken, oder er hätte ihn vom Finger gestreift, als sie bereits tot war. Das riecht eindeutig nach Familiendrama, Kate.« Camerons Augen waren so kalt wie sein Tonfall, und Kate merkte, dass der Mord ihn persönlich berührte. Sie arbeiteten seit drei Jahren eng zusammen, aber nach wie vor gab es weiße Flecken auf der Landkarte ihrer Beziehung, wie seine Familiengeschichte, über die er ab und zu vage Andeutungen machte, von der er aber niemals offen sprach. Mit finsterer Miene sagte er: »Ein Sohn weist normalerweise nicht mit dem Finger auf den eigenen Vater, selbst wenn er ihn für schuldig hält.« Er trat gegen ein Talbot’sches Grasbüschel, als hätte es ihn persönlich beleidigt.

Warum denn das nicht?, fragte sich Kate. Wenn mein Vater meine Mutter erschossen hätte, oder jemanden damit beauftragt hätte … Sie gab den Vergleich auf. In ihrer Familie war so etwas unvorstellbar.

»Keine Hinweise auf einen Einbruch, ein halbherziger Raub, keine Vergewaltigung«, sagte Cameron gepresst. »Die Frau lässt sich gegen den Willen ihres Mannes scheiden. Er ist Alleinverdiener, findet, er hat sich Frau und Kinder teuer erkauft, und kann es nicht ertragen, dass jemand anderer Ansicht ist. Das haben wir doch schon tausendmal erlebt. Was meinst du?«

»Ich glaube, wir haben Nummer tausendundeins vor der Nase«, erwiderte Kate. Im echten Leben war, anders als im Fernsehen, fast immer der Hauptverdächtige der Schuldige, meist jemand, den das Mordopfer gut kannte.

Sie gingen wieder ins Haus. Bis Walt Everson von der Gerichtsmedizin eintraf, durften sie sich der Leiche nicht mehr nähern. Sie würde dort liegen bleiben, bis der Tatort freigegeben wurde, die erste von vielen professionell durchgeführten Demütigungen der sterblichen Überreste Victoria Talbots.

Hellblau gekleidete Kriminaltechniker hatten ihre Arbeit bereits aufgenommen. Shapiro, der Polizeifotograf, lümmelte auf der Wohnzimmercouch und kritzelte in sein Notizbuch, wie immer mit einem Gesichtsausdruck, als wünschte er sich ans andere Ende der Welt. Seine Schlampigkeit hatte sich in den letzten Jahren keinen Deut gebessert, aber immerhin wusste er inzwischen, was sie am Tatort von ihm erwartete, also nervte sein Verhalten sie nur noch aus Prinzip. Dafür machte Jill Edmonds, deren Aufgabe es war, vom Tatort Videoaufnahmen zu machen, seine Unfähigkeit mit ihrer Gründlichkeit mehr als wett. Außerdem würden sie später von ihrem Videoband Digitalfotos erstellen können. Kate hatte Baker gebeten, die Fingerabdrücke zu sichern; in diesem Fall würden Fingerabdrücke das wichtigste forensische Beweismittel sein, gefolgt von Haaren, Fasern und dem ballistischen Gutachten. Baker war eine Koryphäe auf seinem Gebiet, und er hatte für alle denkbaren Oberflächen eines Tatorts die optimale Technik zur Sicherung der Spuren entwickelt.

Sie und Baker nickten sich respektvoll zu. Sie sagte zögernd: »Vielleicht die Hintertür –«

»Erzählen Sie mir nichts, was ein Kleinkind weiß. Natürlich fange ich dort an. Und natürlich wird es damit enden, dass ich das ganze verdammte Haus auf Fingerabdrücke untersuche.« Er stolzierte davon. Sie lachte leise in sich hinein.

Cameron besprach mit den anderen Kriminaltechnikern ihr Vorgehen bei der Spurensicherung – eine Routineangelegenheit, für die er sie nicht brauchte. Wenn jeder Winkel des Hauses fotografiert worden war, würden sie in unmittelbarer Umgebung der Leiche nach Haaren und Fasern Ausschau halten und Blutproben nehmen. Wenn Kate und Cameron dann mit der Durchsuchung des Hauses fertig waren, würden die Techniker sich unter ihrer Anleitung nach und nach alle Zimmer vornehmen.

Im Gerichtssaal hatte Kate anhand von Alicia Marquez’ Fragen ihre Ermittlungsschritte am Tatort minutiös rekonstruiert. Jetzt wollte die Staatsanwältin wissen: »Welche Beweismittel haben Sie selbst gesichert?«

»Den Computer des Opfers sowie ihre Tagebücher und privaten Papiere«, zählte sie auf. »Sie wurden auf Fingerabdrücke untersucht und dann für weitere Tests ins Labor gegeben.«

* * *

Der Durchsuchungsbefehl für das Haus in Hancock Park war in null Komma nichts vom zuständigen Richter erteilt worden. Während im Schlafzimmer das kriminaltechnische Team seine Feinarbeit am Fundort der Leiche fortsetzte, hatten Cameron und sie, da sie jetzt endlich auch von Rechts wegen das Haus auf den Kopf stellen durften, den oberen Stock unter die Lupe genommen. Sie mussten dringend mit der Befragung weiterer Zeugen beginnen, aber zunächst war es wichtig zu wissen, ob das Haus ihnen etwas zu erzählen hatte.

Zur Straße hin befanden sich zwei konventionell eingerichtete, sonnendurchflutete Schlafzimmer; zu jedem gehörte ein eigenes Bad mit einem Muster aus erdfarbenen, dunkelgrünen und marineblauen Fliesen. In einem der Zimmer hingen Stummfilmposter in schlichten schwarzen Rahmen an der Wand; in dem anderen stand ein riesiges weißes Regal voll aufgereihter Stofftiere. Kate fröstelte angesichts dieses künstlichen Arrangements unbenutzten Kinderspielzeugs. An die vierzig Puppen hockten steif auf einem der Regalbretter, unzählige noch eingeschweißte Brettspiele, Sportartikel und andere Spielsachen erstrahlten im oberflächlichen Glanz des Ungebrauchten.

»So sah es in meinem Kinderzimmer aber nicht aus«, brummte Cameron.

»In meinem auch nicht.«

Auf der anderen Seite des Flurs befand sich ein weitläufiges helles Zimmer mit einem großen Sprossenfenster, durch das man auf den Garten hinuntersah. Früher war es vielleicht mal ein Schlafzimmer gewesen, jetzt diente es als Arbeitszimmer. Es war geschmackvoll eingerichtet, mit Bücherregalen, einer imposanten Stereoanlage, beigefarbenen Ledersesseln und einem Schaukelstuhl mit grünem Samtbezug. Dieses Stockwerk wirkte steril, unbenutzt, trotz seiner kompletten Ausstattung, trotz der flauschigen Handtücher und diverser Kosmetikartikel in den Badezimmern.

»Mir gefällt das Haus sehr.« Cameron betrachtete die glänzenden Buchendielen, die in den Schlafzimmern von hellen Teppichen und im Flur von einem kastanienbraunen Läufer bedeckt waren. »Nichts Ausgefallenes, aber eines dieser Häuser, bei denen man sich wünscht, Geld zu haben.«

»Es ist toll«, stimmte ihm Kate zu. Könnte sie es sich aussuchen, hätte sie wie Victoria Talbot das Schlafzimmer im Erdgeschoss benutzt, dort ihren Schreibtisch in den Erker gestellt und glücklich zu Hause gearbeitet, mit dem Garten direkt vor der Nase. »Ich habe den Eindruck, die oberen Schlafzimmer dienten als Lockmittel für die Enkel. Vielleicht auch für die Kinder.«

»Ja, nach dem Motto, ihr könnt jederzeit wieder bei mir wohnen, Kinder. Sieht aber nicht danach aus, als hätte es funktioniert.«

Im Laufe der Zeit hatte Cameron ein gutes Gespür dafür entwickelt, aus den Fakten Hypothesen abzuleiten, und diesmal teilte sie seine Einschätzung hundertprozentig. »Sieht nach einer Menge Kummer und Einsamkeit in diesem perfekten Zuhause aus.«

»Ganz deiner Meinung. Wir wissen, dass Allan sehr an seiner Mutter hing, aber wir wissen noch nichts über die Schwestern. Oder ob sich Allans Exfrauen mit ihrer Exschwiegermutter gut verstanden und ihre Kinder hier übernachten ließen. Vielleicht war die Idylle in Hancock Park trügerisch …« Cameron kraulte durch die Luft, als bahnte er sich den Weg durch Spinnweben. »Vielleicht ist das da unten die Leiche von Spider Woman.«