Geballte Ladung Liebe - Katharina Wolf Sammelband

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Junggesellenabschied

»Eigentlich ist es doch viel zu früh für einen Junggesellenabschied, oder?«

»Hä? Wie meinen?« Ich stand am Türrahmen gelehnt hinter Sebastian, der sich gerade vorm Badspiegel die Haare gelte und mir anscheinend nicht zugehört hatte. Er schielte über seine Schulter zu mir. Seine volle Aufmerksamkeit bekam ich trotzdem nicht, denn seine Haare schienen wichtiger zu sein.

»Dein Junggesellenabschied. Zu früh. Macht man das nicht normalerweise am Wochenende vor der Trauung?«

»Nix da! Ich will an meiner Hochzeit toll aussehen. Das geht schlecht, wenn ich ein paar Tage vorher in irgendwelchen Kneipen versackt bin.«

Da hatte er natürlich auch wieder recht.

Wir wussten beide nicht, was heute auf uns zukommen würde. Jan hatte alles organisiert und keinen seiner Pläne durchdringen lassen. Eigentlich war es ja die Aufgabe der Trauzeugin, sich um die Planung zu kümmern. Da ich aber einfach zu lange nicht in der Stadt war, hatte das einfach sein Bruder übernommen. Hiro schien etwas zu wissen oder zumindest zu ahnen. Er verriet uns allerdings nichts. Wir wussten nur, dass es um 14 Uhr losgehen würde. Was auch immer. Ein Stripschuppen würde wohl ausscheiden. Oder?

Nach und nach kamen Freunde von Sebastian bei uns an. Es klingelte andauernd an der Tür. Es herrschte ein unglaubliches Gebrüll und Gejaule und ich war zum offiziellen Türöffner ernannt worden. Drei Kerle, die mit Sektflaschen bewaffnet im Hausflur standen, begrüßten mich überschwänglich mit vielen feuchten Küsschen. Ich brauche eine Weile, bis ich die Drag Queens von neulich erkannte. Ohne Lippenstift und High Heels war das allerdings auch gar nicht so einfach, denn vor mir standen drei echt hübsche Typen in Jeans und Pullover. Zum Verrücktwerden! Die Welt war unfair und alle guten Männer waren vergeben, schwul oder Teilzeitfrau.

In der Wohnung tummelten sich nun sieben Männer, die sich allesamt redlich bemühten, einen ordentlichen Pegel zu erreichen. Es wurde gelacht, gegrölt und getrunken. Sebastians lautes Organ hörte man immer deutlich heraus. Bislang schien er sich sehr zu amüsieren und zufrieden zu sein. Was wohl auch an den vielen Sektflaschen lag, die in regelmäßigen Abständen mit einem lauten Knall geöffnet wurden. Ich war das einzige Mädchen. Aber ich war nun mal Sebastians Trauzeugin und seine beste Freundin und daher wollte er mich unbedingt dabei haben. Eigentlich war ich ja schon stolz darauf. Aber momentan überwog das ungute Gefühl in meiner Magengegend.

Was würde der Tag nur bringen? Ich war nicht gerade ein Fan von Überraschungen und hatte Angst vor dem Unbekannten. Ich hoffte wirklich, dass alles ohne schlimme Zwischenfälle vorbeigehen würde.

Es klingelte wieder an der Haustür und Jan betrat mit einer Flasche Whiskey in der Hand die Wohnung. Das war schon eher nach meinem Geschmack. Den süßen Sekt konnten die Drag Queens gerne alleine trinken. Echte Kerle tranken hartes Zeug. Also bediente ich mich an der Flasche, sobald Jan sie auf der Küchentheke abgestellt hatte. Natürlich, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Ich goss mir knapp drei Finger breit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in ein Glas und gab dann noch zwei Eiswürfel aus dem Gefrierschrank hinzu. Fertig. Anders würde ich das heute doch nie überstehen. Ich brauchte schnell ein wenig Standgas, um Ruhe zu bewahren.

»Wo geht‘s denn heute überhaupt hin?«, fragte Sebastian neugierig und zeitgleich auch etwas ängstlich. Jan machte einen geheimnisvollen Gesichtsausdruck und trank wie ich einen Schluck Whiskey on the rocks. Ich starrte gebannt auf sein Glas und ließ meinen Blick dann zu dem Getränk in meiner Hand nach unten wandern. Jan war unsere gleiche Wahl wohl auch nicht entgangen. Er grinste mich an und prostete mir stumm zu.

Ein Zwinkern.

Er hatte mir tatsächlich zugezwinkert!

Ich spürte die Hitze, die sich blitzschnell von meinen Wangen bis zu meinen Ohren ausbreitete. Ich war so dermaßen leicht zu verunsichern. Das war einfach erbärmlich. Ich war erbärmlich!

»Das wirst du noch früh genug erfahren, Sebastian.« Jan richtete das Wort wieder an den Herrn Junggesellen und unterbrach somit meinen Versuch, mich im Selbstmitleid zu ertränken.

»Aber bitte in keinen Stripschuppen«, flehte Sebastian mit Sorgenfalten auf der Stirn.

»Das hoffe ich auch«, gab nun auch Hiro seinen Senf dazu, der sich bis eben im Hintergrund gehalten hatte. Er würde beim Junggesellenabschied von Sebastian natürlich nicht dabei sein. Hiro ging selbst mit einigen Freunden weg, obwohl er keinen Junggesellenabschied wollte, da er der Brauch unnötig fand. Einige Kumpels konnten ihn dann aber doch noch davon überzeugen, zumindest ein paar Bierchen mit ihnen trinken zu gehen.

»Also bitte, es ist schließlich auch eine Dame anwesend. Keine Schweinereien!«, sagte Christian, einer der Drags in zivil, und legte einen Arm um mich.

»Ich hab schon Schlimmeres gesehen«, gab ich kalt zurück und trank meinen Whiskey aus.

Ich konnte es einfach nicht fassen.

Als wir die Wohnung verließen, stand doch tatsächlich eine weiße Limousine vor uns am Straßenrand. Wie dekadent. Wir alle staunten Bauklötze. Alle außer Jan, der das Ganze organisiert hatte und mit beiden Händen in den Hosentaschen und stolzem Gesichtsausdruck vor dem protzigen Auto stand. Er grinste Sebastian an und schlug ihm auf die Schulter.

»Für meinen Bruder nur das Beste.«

Wir stiegen begeistert ein und machten es uns auf den edlen, roten Ledersitzen gemütlich. Wieder knallten Korken. Dieses Mal war es aber kein billiger süßer Sekt aus dem Supermarkt um die Ecke, denn in der Limousine war tatsächlich Champagner kaltgestellt worden. Jan schenkte allen ein und wir stießen laut jubelnd miteinander an.

Wir tranken und sangen dabei gemeinsam Lieder von ABBA. Was auch sonst. Heute würde wohl wirklich jedes Homo-Klischee bedient werden.

»Money, money, money«, schrie mir Christian in mein rechtes Ohr und verschüttete dabei einige Spritzer kaltes Blubberwasser auf meine Jeans. Egal. Ich lachte und stimmte einfach in den Gesang ein.

»In the rich man’s world!«

Alkohol war schon eine geniale Sache. Schräg gegenüber von mir saß Jan und ich hatte trotzdem gute Laune. Sein kritischer Blick, als ich mir selbst beim Schunkeln mit Christian mein halbes Glas Champagner ins Dekolleté schüttete, war mir total egal.

Wir fuhren relativ lange, was uns aber nicht sonderlich störte. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir auch im Wagen weiterfeiern können. Genug Platz und Alk hatten wir ja. Besser: Als die Limousine irgendwann langsamer wurde und der Fahrer den Wagen am Straßenrand parkte, blickten wir gespannt durch die abgedunkelte Fensterscheibe. Ich erschrak, als Sebastian plötzlich begeistert anfing zu jauchzen.

»Das ist definitiv besser als jeder Stripschuppen!«

Wir standen direkt vor einem Weihnachtsmarkt. Einem gigantisch großen Weihnachtsmarkt. Und wenn jemand Weihnachten mehr als alles andere liebte, dann war das Sebastian. Wir wurden von einem leuchtenden Eingangstor und einem großen blinkenden Weihnachtsmann begrüßt. Kitsch pur und Sebastian war nun mal der ungekrönte Kitsch-König. Er sprang aus der Limousine, wankte kurz, schnappte sich Jan und zog ihn kurzerhand hinter sich her. Wir anderen folgten mit viel Gebrüll.

Das Wetter war nahezu perfekt. Es war trocken und windstill, aber trotzdem kalt genug, sodass der Glühwein schmeckte.

Jan hatte ein kleines Programm vorbereitet. Schnell hatte jeder eine Tasse süßen Glühwein mit Schuss in der Hand. Und nach dem ersten Nippen wusste ich, dass am Hochprozentigen nicht gespart worden war. Nachdem wir alle zufrieden eine Tasse in der Hand hielten, lenkte Jan die Aufmerksamkeit wieder auf sich. Er zog einen kleinen Stoffbeutel aus seiner Jackentasche hervor und hielt ihn Sebastian entgegen.

»Hier, mein lieber, betrunkener Lieblingsbruder, sind Lose drin, auf denen Aufgaben stehen. Viel Glück.« Unsere lustige Truppe klatschte und jubelte Sebastian lautstark zu. Der lachte nur und zog selbstsicher eine kleine gelbe Papierrolle heraus.

»Fängt ja gut an, ich hasse Gelb.«

»Laut vorlesen«, grölte Christian neben mir. Ich würde heute wohl noch mein Gehör verlieren, wenn das so weiterging.

»Aaaaaalso ...«, Sebastian räusperte sich. »Das ist ja einfach! Ich soll einem Kind was Süßes spendieren.«

»Erklär‘s um Gottes willen erst mal den Eltern des Kindes. Nicht dass sie dich für einen Perversen halten«, gab ich hinzu und brachte damit alle zum Lachen. Dabei meinte ich das vollkommen ernst.

Sebastian machte sich auf zum nächstbesten Süßigkeitenstand und erntete dort einiges an Kinderlachen, da er kurzerhand zehn kandierte Äpfel kaufte und jedem der Kids, das nicht bei drei auf einem Baum war, einen in die Hand drückte. Er erklärte daraufhin den Eltern, die sich um ihn scharrten, noch den Grund seiner Großzügigkeit, woraufhin auch diese lachten und ihm die Hand schüttelten. Wohl als Gratulation für seine bald anstehende Vermählung.

Danach kam er hüpfend wieder zu uns zurück und hatte noch ein Karton mit Mohrenköpfen im Gepäck. Na ja, er wusste zumindest, wie er uns bei Laune hielt. Mit Alkohol und Süßkram war er bei mir an der richtigen Adresse.

Das nächste Los, das er aus dem Beutel zog, war schon eine etwas größere Herausforderung.

»Übe mit einer fremden Frau den Hochzeitswalzer«, las er vor und schaute mich hilfesuchend an.

»Fremde Frau«, betonte Jan. »Nora ist außen vor.«

»Verdammt«, fluchte Sebastian und schaute sich verzweifelt um. »Weißt du, wann ich das letzte Mal eine Frau angelabert habe? Da war ich 13 oder so.«

 

»War das nicht die eine Tussi aus deiner Parallelklasse, die männlicher aussah als du?«, konterte Jan und wich schnell dem angedeuteten Boxhieb von Sebastian aus.

Wir lachten und sprachen ihm Mut zu. Immerhin war er ja ein hübscher Mann und man sah ihm das mangelnde Interesse am weiblichen Geschlecht nicht auf den ersten Blick an. Auf den zweiten vielleicht schon ...

Nach einigem Hin und Her ging er zu einem Mädchen mit braunen Locken und neongrünen Ohrenschützern. Was er ihr sagte, konnten wir leider nicht hören. Aber sie lachte, drehte sich einmal kurz zu ihrer Freundin und zuckte dann mit den Achseln. Einige Sekunden später sahen wir die beiden schon ihre tänzelnden Runden drehen. Sie rempelten zwar hier und da ein paar vorbeischlendernde Menschen an, aber schnell bildete sich ein Kreis um das tanzende Paar und wir applaudierten und pfiffen den beiden aufmunternd zu.

Sebastian hatte es einfach drauf. Ob Männlein oder Weiblein, alle liebten ihn.

»Und nun?« Sebastian kam außer Atem, aber hoch motiviert, zu uns zurück und hüpfte aufgedreht von einem Bein auf das andere.

»Jetzt besorgst du erst mal die nächste Runde Glühwein und lädst die beiden Mädels auch gleich mit ein.« Daraufhin winkte Jan die lockige Tanzpartnerin und deren Freundin zu uns rüber und drückte Sebastian einige Geldscheine in die Hand.

Die beiden jungen Frauen, die sich als Sue und Natascha vorstellten, freuten sich über den kostenlosen Alkohol und flirteten auf Teufel komm raus mit den Jungs, die sich um sie scharten.

Wenn die wüssten ...

Ich hielt mich im Hintergrund und beobachtete das Szenario. Sebastian amüsierte sich prächtig und diese Natascha, eine blonde Schönheit, hatte sich wohl, ohne es zu wissen, den einzigen Hetero herausgepickt. Sie stieß nämlich zum wiederholten Male mit Jan an, ließ die Tassen laut klirren und lachte übertrieben über jeden seiner gar nicht allzu lustigen Sprüche. Würg! Ich konnte mir ein Augenrollen nicht verkneifen. Das wiederum merkte Christian, der vor Lachen ein paar Spritzer Glühwein herausprustete und mir neckisch den Arm um die Schulter legte. Mir war ganz und gar nicht zum Lachen zumute.

Im Laufe des Abends hatte Sebastian noch einiges an Aufgaben, die es zu lösen galt. Er musste 10 Minuten für den Maronen-Mann einspringen, während der sich über eine wohlverdiente Glühweinpause freute. Und Sebastian hatte Verkaufstalent! Er wurde einige Tüten voll heißer Maronen los. Er drängte sie den vorbeilaufenden Passanten geradezu mit Hilfe seines Charmes auf.

Danach zog er ein rosafarbenes Los. Auf dem stand geschrieben, dass Sebastian auf einem Karussell mitfahren musste. Das ließ sich der Gute nicht zweimal sagen. Er fuhr eine Runde in der Kindereisenbahn mit und jauchzte dabei teilweise lauter als die Kids um ihn herum. Beim ersten Tunnel hätte er sich dann, vor lauter Winken und Jubeln, fast zu spät geduckt. Erschrocken hielten wir die Luft an, doch als er wieder auftauchte und sich vor Lachen den Bauch hielt, waren wir alle dermaßen neidisch, dass wir die nächste Runde alle mitfuhren.

Das war ein Spaß!

Danach wurde es etwas schwieriger. Er musste Glöckchen sammeln. Und zwar zehn Stück, die von den Nikolausmützen stammten. Sein betrunkener Kopf war wohl Schuld daran, dass er wie ein Verrückter Nikoläuse verfolgte und ihnen die Mützen klaute. Dabei wollten wir doch nur die Glöckchen. Irgendetwas hatte er da wohl falsch verstanden. Wir lachten viel, vor allem über die erschrockenen Gesichter der beklauten Nikoläuse, die sich plötzlich über ihre kalten Ohren wunderten und ihm mit erhobener Faust hinterherjagten. Es war so lustig und die Stimmung so ausgelassen, dass es mir sogar gelang, Jans Anwesenheit auszublenden. Ich hielt mich an Sebastian und Christian, der aus irgendwelchen mir nicht ersichtlichen Gründen einen Narren an mir gefressen hatte.

Irgendwann sah Jan auf die Uhr und zog die Augenbrauen eng zusammen. Dann schaute er auf und zum ersten Mal seit Stunden trafen sich unsere Blicke. Ich drehte mich um und trank meinen Glühwein auf einmal aus. Ein kalter, letzter Schluck. Eklig.

»Wir müssen bald weiter«, sagte Jan zu uns allen.

»Hast du noch etwas geplant?«, fragte Sebastian mit leuchtenden Augen und ziemlich schwerer Zunge.

»Klar. Aber zum Abschluss fahren wir noch eine Runde Riesenrad. Einverstanden?« Jan schaute in die Runde und erntete die Zustimmung aller Beteiligten. Mittlerweile war es bereits düster. Überall blinkte es festlich und das große, hell erleuchtete Riesenrad konnte man schon von weitem erkennen. Wir rannten beflügelt von guter Laune und reichlich Alkohol in Richtung der heiß begehrten Attraktion. Vor uns befand sich eine Schlange und wir stellten uns brav hinten an. Vorfreude machte sich breit. Ich bestaunte die vielen Gondeln und fragte mich gleichzeitig, ob sie womöglich beheizt wurden. Mittlerweile fror ich ziemlich und hauchte mir immer wieder warme Luft in meine Hände.

Nach und nach stiegen einzelne Dreier- und Vierergruppen in die runden Gondeln ein. Alle wirkten so glücklich. Es war ein wunderbarer Abschluss eines schönen Tages.

Am Ende waren nur noch Sebastian, Christian, Jan und ich übrig. Der freundliche Mitarbeiter, der eine rot-blau-karierte Pudelmütze und einen dunkelblauen Mantel trug, hielt die Tür der nächsten Kabine auf und ich stieg ein. Alles begann zu schwanken und ich musste mich links und rechts an der Wand festhalten. Das war kein Problem, denn viel breiter war es hier nicht. Ich rutschte bis ganz hinten durch, setzte mich dort auf die gepolsterte Bank und sah Jan, der nach mir einstieg. Bevor jedoch auch Sebastian und Christian unsere Gondel betreten konnten, drehte sich Jan um.

»Wir möchten unter uns bleiben«, sagte er dem Mitarbeiter, der ganz schön verdutzt dreinschaute, und schloss die Tür.

»Was?«, schrie ich entsetzt und wollte schnell wieder aussteigen. Ich wurde hier entführt. Also nicht so richtig, aber fast!

Draußen sah ich Sebastians ebenfalls erschrockenes Gesicht. Seine Augen waren weit aufgerissen und er schien etwas zu sagen, doch ich konnte es durch die geschlossene Tür nicht verstehen. Er hatte davon anscheinend nichts gewusst und überlegte nun bestimmt, ob er mich retten musste. Die Gondel setzte sich in Bewegung und wir hoben ab. Ich war gefangen. Langsam drehte sich Jan zu mir um und schaute mich an.

»Was soll der Scheiß?«, platzte es aus mir heraus.

»Ich wollte mit dir alleine sein.«

»Schön für dich. Aber ich nicht mit dir! Schon mal daran gedacht?«

»Das ist mir jetzt einfach mal egal.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah absichtlich aus dem Fenster rechts neben mir. Das Glas war beschlagen. Um uns herum war alles dunkel. Tiefe Nacht. Dabei war es noch gar nicht so spät. Nur die anderen Buden des Weihnachtsmarktes leuchteten tief unter uns. Unter normalen Umständen könnte die gemütliche Kabine, die von zahlreichen Lichterketten in warmes, orangerotes Licht getaucht wurde, sogar romantisch wirken.

Ich spürte, wie sich Jan neben mich setzte. Das Polster senkte sich leicht, aber ich schaute weiter stur in die andere Richtung. Was sollte das, verdammt? Immerhin war ich hier in schwindelerregender Höhe gefangen und hatte keine Chance zu fliehen. Ich konnte mich höchstens hinunterstürzen. Doch beim Blick in die Tiefe runzelte ich die Stirn. Ganz schön hoch.

»Wie geht es dir?« Er durchbrach die Stille, was mich zusammenzucken ließ. Alles in mir verkrampfte sich.

»Hey super, ich werde nur gegen meinen Willen hier festgehalten!«, gab ich zickig zurück.

»Dass es dir mit mir so unangenehm ist ...« Er sprach den Satz nicht zu Ende und seufzte traurig. Ich erhob mich und setzte mich gegenüber von ihm auf die Bank, um ein wenig mehr Abstand zwischen uns zu schaffen. Ich wollte nicht, dass sich unsere Oberschenkel oder Knie berührten. Resignierend atmete ich ein und stöhnend wieder aus.

»Was willst du, Jan?«

»Ich möchte, dass wir uns gut verstehen. Dieses Ignorieren macht mich fertig.«

»Pffft.«

»Nora, ich ...«

»Was, Jan? Was, verdammt noch mal?« Mir wurde es langsam zu bunt. Ich litt unter dieser scheiß Situation. Ich wollte das nicht. Mein Herz schlug so laut, dass es Sebastian und Christian in der Gondel unter uns noch hören mussten, und mein Magen tat weh. Ich spürte Tränen in meinen Augen.

Nein, nein, nein.

Ich wollte das nicht. Und ich würde ganz bestimmt nicht vor Jan weinen. Er sollte einfach ruhig sein. Solange schweigen, bis wir wieder Boden unter den Füßen hatten und ich wieder genügend Abstand zwischen uns bringen konnte. Es war mir den ganzen Abend gelungen und nun machte er alles kaputt.

»Nora, bitte. Du bedeutest mir immer noch etwas ...« Eine Träne, die durch Wimpern brach und sich unaufhaltsam ihren Weg nach unten bahnte. Jan sah es und streckte zaghaft eine Hand nach mir aus. Er berührte meine Wange und ich zuckte zurück. Es war fast wie ein Stromschlag.

»Nora, du warst meine erste große Liebe. Ich möchte nicht, dass es so endet.«

»Aber es hat genau so geendet. Genau so. Jan, es ist vier Jahre her. Hast du überhaupt eine Ahnung, was ich in den letzten vier Jahren durchgemacht habe?«

»Meinst du, für mich war es leicht?« Er wirkte irgendwie verzweifelt und ich entdeckte eine Falte zwischen seinen Augenbrauen, die mir bislang fremd war.

»Du hast dir zumindest ziemlich schnell Trost gesucht«, gab ich gehässig zurück.

»Sei nicht unfair!«

»Unfair? Wer sperrt mich denn hier ein?«

Wir wurden immer lauter und ich fast hysterisch beim Gedanken an Fernanda. Ich hatte keinen Nerv mehr dafür!

»Du wirst es doch verdammt noch mal fünf Minuten mit mir in einem geschlossenen Raum aushalten können.«

»Nein!« Meine Stimme bebte. »Jan, ich kann das nicht.« Meine zitternden Hände krallten sich in meine Kopfhaut. Wie gebannt starrte ich auf meine Schuhe und hoffte einfach nur, dass diese Fahrt bald ein Ende nehmen würde. »Nora.« Beim Klang meines Namens schaute ich auf und sah in Jans Augen. Was war das? Ich konnte meinen Blick nicht abwenden. Jans Augen strahlten das aus, was ich in den letzten Tagen so oft vermisst hatte. War es Reue? Bedauern? Liebe? Ich konnte nicht wegschauen. Was er wohl in meinen Augen sah?

Jan bewegte sich langsam auf mich zu. Ich ahnte, was kommen würde, aber ich war wie in Trance. Sein Blick fesselte mich, machte mich sprachlos, bewegungsunfähig. Noch bevor ich etwas sagen konnte, küsste er mich. Meine Augen weiteten sich voll Entsetzten.

Was zur ...?

Er küsste mich.

Jan.

Mein Jan.

Ich seufzte in den Kuss hinein. Es war so vertraut, so schön.

Mein Jan.

Er vertiefte den Kuss und zog mich näher an sich heran, bis ich auf seinem Schoß saß. Ich wollte nicht, dass es aufhörte.

Seine Lippen. Seine Zunge.

Sein Atem, der mein Gesicht streifte.

Ich war süchtig danach und schon viel zu lange ohne ausgekommen. Er war meine Droge und keine andere konnte mit ihm mithalten.

Irgendwann löste er sanft seine Lippen von meinen. Er verteilte kleine, zuckersüße Küsse auf meinem rechten Mundwinkel und meinem Kinn.

»Nora.« Es war nur ein Flüstern, ein Hauchen meines Namens gegen meine Lippen, das mich aus seinem Bann befreite. Ich stand ruckartig auf und starrte ihn entsetzt an. Kopfschüttelnd berührte ich mit meinen Fingern kurz meine geschwollenen Lippen. Und dann?

Dann lachte ich.

»Was ist das denn für eine Ironie?«, prustete ich und konnte mich kaum noch beherrschen.

Jan zog die Augenbrauen zusammen.

»Du küsst mich? Echt jetzt? Dabei ist dir doch Treue das Wichtigste auf der Welt! Du bist doch ein verdammter Heuchler, Jan.«

Die Runde im Riesenrad war zu Ende. Die Gondel hielt an und wir hatten wieder Boden unter den Füßen. Genau rechtzeitig.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stieg ich aus und lief zu den anderen, die bereits auf uns warteten. Kurz danach kamen auch Jan, Sebastian und Christian dazu. Sebastian sah mich besorgt an und suchte etwas in meinem Blick. Aber ich hatte schon wieder meine gleichgültige Maske aufgelegt.

Ich glaube, das machte Sebastian mehr Angst.

Wir stiegen wieder in die Limousine ein und fuhren zur nächsten Station, die sich Jan ausgedacht hatte. Ich saß zwischen Sebastian und Christian. Sebastian links von mir versuchte, mich in ein Gespräch zu verwickeln, aber ich winkte einfach nur ab. Ich wollte definitiv nicht jetzt mit ihm darüber sprechen. Ich wollte nicht mal darüber nachdenken. Abschalten. Das Hirn abschalten wollte ich. Ich wusste, wie es ging. Nur war nun leider gänzlich der falsche Zeitpunkt dafür. Ich hatte nichts dabei und von den anderen hier wirke keiner wie jemand, der etwas mit Drogen am Hut hatte. Dankend nahm ich die Flasche Champagner entgegen und schenkte mir ein. Ohne die Flasche weiterzugeben, trank ich das Glas aus und füllte es ein weiteres Mal bis zum Rand. Erst dann reichte ich sie an Christian rechts von mir, der gierig danach griff.

 

»Wo fahren wir denn jetzt hin?«, fragte ein schlaksiger braunhaariger Kerl, der mir vorhin als Paul vorgestellt worden war. Wohl ein Arbeitskollege von Sebastian.

»Bevor wir alle zu nüchtern werden, sollten wir für Nachschub sorgen oder?«, antwortete Jan und alle jubelten als Antwort zustimmend. Wenn es mir nicht so dreckig gegangen wäre, hätte ich mich wohl auch mitgefreut. Wenn schon keine illegalen Substanzen, dann wenigstens reichlich von der legalen Sorte.

Wir betraten eine Karaokebar. Was ich davon halten sollte, wusste ich nicht so ganz, aber Sebastian jauchzte überglücklich und klatschte ekstatisch in die Hände und legte den Arm um Jan.» Wir zwei singen später noch was, damit das klar ist.«

Jan zog eine Augenbraue hoch.

»Nicht, wenn ich es verhindern kann.«

»Kannst du aber nicht!«, gab Sebastian selbstsicher zurück.

Wir ließen uns an einer großen Tafel nieder, die Jan natürlich vorab reserviert hatte. Unaufgefordert brachten zwei Bedienungen vier Pitcher Bier. Eine weitere kam mit einem Tablet voll Tequila Shots, Zimt und Orangenscheiben. Jan hatte wirklich alles perfekt geplant, das musste man ihm lassen.

Die folgenden vier Stunden ließen sich einfach und schnell zusammenfassen. Die ganze Zeit über sangen untalentierte und sturzbetrunkene Menschen schreckliche Lieder auf einer kleinen Erhöhung vor uns. Auch Sebastian, Christian und ein sehr betrunkener Paul schmetterten eher schlecht als recht ein Lied von ABBA. Sie lagen sich dabei zu dritt im Arm und trällerten gemeinsam in ein Mikrofon in ihrer Mitte. Ein weiteres Mal ging er mit Jan auf die Bühne und sie versuchten, irgendein Lied von Eminem zu rappen, brachen aber stattdessen immer wieder in schallendes Gelächter aus, weil sie einfach mit dem viel zu schnell runtergeratterten Text nicht klarkamen. Ansonsten befanden wir uns in einem Sumpf aus kreischenden Whitney Houstons, plärrenden Christina Aguileras und einigen grölenden Backstreet Boys.

Ich für meinen Teil trank. Ich trank, als gäbe es kein Morgen, und zwischendurch dachte ich, dass es vielleicht wirklich so war. Dass die Welt vielleicht wirklich heute unterging. Zumindest für mich. Ich war mir durchaus darüber im Klaren, dass ich es nicht nur übertrieb, sondern definitiv zu weit ging. Eine Alkoholvergiftung nahm ich in Kauf. Forderte sie geradezu heraus.

Es dauerte nicht lange und ich war nicht mehr in der Lage, aufrecht zu sitzen oder auch nur geradeaus zu schauen. Ich lag mit meinem Kopf erschöpft auf dem Tisch und konnte kaum mehr etwas um mich herum erkennen. Das Licht einer Diskokugel blendete mich alle paar Sekunden. Man hätte die Uhr danach stellen können, so regelmäßig kam der Lichtschein und strahlte mich an. Ab und an wurde ich von jemandem gerüttelt und immer mal wieder hörte ich meinen Namen. Wer das war? Keine Ahnung? Vielleicht Sebastian oder Jan?

Jan.

Ich dachte seinen Namen und es tat nicht weh. Ich fühlte nichts.

Ziel erreicht.