Geballte Ladung Liebe - Katharina Wolf Sammelband

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Mitternachtsgespräche

Sebastian konnte einem wirklich auf die Nerven gehen. Ich persönlich wusste ihn zu schätzen und liebte ihn sehr, aber die arme Dame von Catering würde wohl ab jetzt Alpträume von ihm bekommen. So viele Extrawünsche hatte ich in meinem Leben noch nie gehört. Neben dem feinsten Filet von Schwein und Rind würde es natürlich auch Fischspezialitäten und diverse Beilagen geben. Bis dahin okay. Alles nachvollziehbar. Aber dann forderte er auf einmal nicht nur eine vegetarische, nein, sogar zusätzlich auch noch eine vegane Alternative. Auch beim Dessert sollte an nichts gespart werden. Egal, ob Panna Cotta, Mousse au Chocolat, Tiramisu und diverse Kuchen und Kekse - es wurde an alles gedacht. Zusätzlich würde für all diejenigen, die als Magenschließer nicht so gerne Süßes mochten, noch eine monströse Käseplatte gereicht werden. Mit Sorten aus allen Herren Ländern, versteht sich.

Alles schön und gut, dachte sich wohl auch die Catering-Dame bis dahin. Der Kunde ist König. Als es dann aber ums Bezahlen ging, verstand wohl niemand mehr Spaß. Sebastian verhielt sich wie auf einem türkischen Basar. Er handelte und zockte mit einem ziemlich verwirrenden Pokerface. Zwischendurch war ich doch etwas peinlich berührt. Aber das Schlimmste war, dass er tatsächlich erfolgreich damit war. Er schaffte es, einen Rabatt von über 20 Prozent herauszuschlagen. Ich schüttelte nur noch fassungslos den Kopf. Manchmal zahlte sich Dreistigkeit einfach aus. Sollte ich mir vielleicht auch angewöhnen.

Nun, einige Stunden später, saß ich alleine auf dem Sofa im Wohnzimmer und schaute die gefühlt hundertste Folge Greys Anatomy hintereinander. Sebastian hatte alle Staffeln im DVD Regal stehen und da dachte ich mir: Why not? Ich hatte ja schon ziemlich viel von der Serie gehört und neben den Dramen dort wirkte mein Leben geradezu langweilig. Sebastian hatte sich mit einigen Kumpels in einer Kneipe verabredet. Und da Hiroki heute auch unterwegs war, hatte ich sturmfreie Bude. Mit Chips, Cola und nervenaufreibenden Arztserien machte ich es mir gemütlich und genoss die ruhigen Stunden eingekuschelt in einer Decke.

»Noraaaaaaaaa ...«

Ich schreckte auf. Was zur Hölle war das? Ich rieb mir die Augen und schaute mich in der dunklen Wohnung um. Der Fernseher zeigte das DVD-Menü und erhellte das Wohnzimmer in einem schwachen Licht. Ich hörte einen lauten Rülpser und ein darauf folgendes Kichern.

»Hallo?«, fragte ich von meinem Platz aus in den dämmrigen Flur. Dort kauerte eine Gestalt auf dem Boden.

»Nora?«

»Hiro?«

»Wo is Sebassian?« Er hörte sich quengelig an.

»Hiro, warum sitzt du auf dem Boden?«

»Meine Schuhe, ich kann meine Schuhe nich aussiehn. Sebassian hat gesacht, wenn ich mit Schuhen in de Wohnung komm, kastriert er mich. Ja, das hatter gesacht!«

Ich schob die Decke von meinen Beinen und lief zu ihm. Ich schaltete das Licht im Flur an und erntete ein Stöhnen aus Bodennähe.

»So hell.«

»Hat Licht so an sich.«

Ich kniete mich zu ihm hinunter und erkannte das Problem sofort. Er hatte es geschafft, den Knoten beider Schuhe so festzuziehen, dass ich da keine Chance sah, das jemals zu entwirren.

»Da hilft nur noch Amputation, Hiro.«

»Oh neeeeeeeeeeein«, jammerte er und strampelte mit den Füßen. Was Alkohol aus einem gestandenen Mann machen konnte ... Ich rollte mit den Augen.

»Miss Steele, ham Se gerade mit den Augen gerollt?«

»Hiro, zu zitierst nicht wirklich aus Fifty Shades of Grey?«

»Öhm, doch!« Ich rollte ein weiteres Mal mit den Augen und erntete ein Kichern. Wie viel Promille musste man haben, um sich selbst für Christian Grey zu halten? Ich schätze, Hiro befand sich im zweistelligen Bereich.

»Hiro, bleib hier sitzen, ich hole eine Schere.«

»Amuntation? Mussu meine Füße amuntieren?«

»Ähm, ja klar, Hiro ...«

Nachdem ich seine Schnürsenkel durchgeschnitten, ihn aus seinen Schuhen befreit und mit Müh und Not zur Couch geschleppt hatte, schenkte ich ihm ein Glas Wasser ein.

»Trink!«

»Jacky?«

»Klar, trink!«

Er gehorchte. Wenigstens etwas.

»Und, was hast du so getrieben, außer dich grundlos volllaufen zu lassen?«

»Woher wilssu wissen, dasses keinen Grund gab?«

»Gab es einen?«

»Immer«, antwortete er wie aus der Pistole geschossen.

»Nenne mir nur einen.«

»Lass uns doch mal über was Innersanteres sprechn, Nora.« Als er meinen Namen aussprach, stupste er mit dem Zeigefinger gegen meine Nasenspitze. Er wollte wohl noch mal bestärken, dass ich gemeint war, weil sich ja auch noch so viele andere Menschen im Raum befanden. Doch leider ging sein Plan nicht auf. Er rutschte ab und landete direkt in meinem rechten Auge. Ich fluchte leise vor mich hin und wischte mir mit dem Handrücken die Tränen von der Wange, während Hiro kicherte und irgendetwas vor sich hin brabbelte.

»Okay, was denn? Was willst du mit mir besprechen?« Hiro setzte sich gerade hin und sah mir direkt in die Augen. Auch wenn ihm das nicht leicht zu fallen schien.

»Lass uns über Jans Arsch redn!«

Ich verschluckte mich an meiner eigenen Spucke und begann unkontrolliert zu husten.

»Über was bitte?«, fragte ich mit piepsiger Stimme.

»Sein Hiiiiintern, du wirs ihn doch mal betrachtet ham ...«

»Ähm, ja.«

»Nich schlecht, oder?« Das war er tatsächlich nicht. Und ich ging nicht davon aus, dass sich in den letzten Jahren etwas daran geändert hatte.

»Was willst du denn mit Jans Hintern?«

»Was unterstellstn du mir hier eigentlich, ich will gar nichts von ...«

»Jaja, Hiro«, unterbrach ich ihn. »Du hast mit dem Thema angefangen.«

»Ich?«

Ich seufzte und wünschte, ich wäre auch nur annähernd so voll wie er. Dann könnte ich diesem Gespräch vielleicht etwas Sinnvolles abgewinnen.

»Na ja, egal, Hiro, wie wär‘s, wenn du jetzt schlafen ge-«

»Er hat von dir gesprochn«, brach es plötzlich aus ihm heraus. Hatte ich mich gerade verhört?

»Wer hat von mir gesprochen?«

»Jan, vorhin. Wir warn einen trinkn, wie man unschwer erkennen kann.« Er lachte und zeigte mit beiden Daumen auf sich. Er schien auch noch stolz auf seinen aktuellen Zustand zu sein. »Hat ziemlich viel ausgegebn. Fast die komplette Rechnung ging auf ihn.« Er kicherte wenig männlich und lehnte sich dann wieder zurück. »Wollte wissn, wies dir geht und wassu so treibst.«

»Was hast du zu ihm gesagt?«

»Dassu ein frustrierter kleiner Emo bis undn ganzen Tag Zuhaus rumhockst.«

»Hiro!«, schrie ich ihn entsetzt an.

»Hätt ich lügn solln?«

Ich schüttelte den Kopf und fuhr mir mit beiden Händen durchs Haar.

»Darf ich dich was fragn, Nora?« Jetzt klang seine Stimme leise. Fast so, als wolle er mir ein Geheimnis entlocken. Ich nickte nur. »Wie warn das vor vier Jahrn? Mitm Kuss un so. Jan hat da bissl was erzählt, aber isch habs nisch verstandn.«

Ich versteifte mich und schnappte überrascht nach Luft. Der Abend, den ich in meinem Kopf immer und immer wieder hatte Revue passieren lassen und seit meinem Umzug verzweifelt versuchte, aus meinem Gedächtnis zu verbannen. Ich hasste die Erinnerungen an die Abi-Party.

»Das war nichts«, antwortete ich leise.

»Du hattest also nich schon Ewichkeiten ‚n Verhältnis mit ‚nem annern oder so?«

»Hiro, der Typ hat mich einfach geküsst. Ohne mein Einverständnis. Da war sonst nichts.«

»Also war‘s nich deine Schuld?«

»Doch.«

»Wieso? Es war ja eindeutich ‚n Missverstännis.«

»Aber ich hätte es niemals so weit kommen lassen dürfen. Vielleicht habe ich ihm Hoffnungen gemacht oder hab die Zeichen falsch gedeutet, irgendwelche irreführenden Signale gesendet. Was weiß ich ... Ich hab ihn zu nah an mich rangelassen. Das war der Fehler.«

»Un dessalb läss du jezz niemanden mehr an dich ran.«

Ich schaute ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue skeptisch an.

»Bin ich hier beim Therapeuten gelandet oder was?«

Hiro rülpste als Antwort und lachte anschließend. Ob über meinen angeekelten Gesichtsausdruck oder über sich selbst, wusste ich nicht.

»Ich glaube, ich bin zu betrunkn, um weiter logisch zu denkn. Aber vielleicht solltest du mal mit Jan über alles sprechn.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Lass gut sein, Hiro. Passt schon. Lass uns lieber ins Bett gehen, es ist schon nach Mitternacht.«

»Ich geh nich mit dir ins Bett«, gab er entsetzt zurück.

»Idiot, Sebastian kommt bestimmt bald heim. Wenn der dich so sieht, wird er die Drohung mit der Kastration vielleicht doch noch in die Tat umsetzen.«

»Ich hab keine Schuhe an«, brüllte Hiro prompt los und hob beide Füße in die Luft. Demonstrativ zeigte er auf seine grauen Socken. »Ich bin unschuldich.«

»Okay, Hiro, ich bin Zeuge und werde notfalls auch unter Eid für dich aussagen.«

»Danke, Nora.« Er schien ehrlich erleichtert zu sein, dieser besoffene Idiot.

»Und jetzt gehst du lieber mal ganz schnell ins Bett und schläfst deinen Rausch aus.«

»Wo is Sebassian?«

»Irgendwo. Keine Ahnung. Der kommt bestimmt auch bald nach Hause.«

Hiro stöhnte und wuschelte sich wild durch sein Haar, bis es ihm in alle Richtungen vom Kopf abstand.

»Nora? Bringsu mich ins Bett?«

Ich rollte mit den Augen, stand auf und streckte ihm eine helfende Hand entgegen.

»Miss Steele, es war mir eine Freude.«

»Du mich auch, Hiro.«

Kleider machen Leute

 

Wir stiegen aus dem Auto und eh ich mich versah, standen Hiro links und Sebastian rechts von mir. Das ging so schnell, als hätten sie übernatürliche Fähigkeiten. So wie dieser blasse Edward-Typ, der ja auch nonstop in Lichtgeschwindigkeit um Autos herumwirbelte. Anscheinend hatten die beiden Angst, ich würde im nächsten Moment einen Fluchtversuch starten und wegrennen. Mir war auch irgendwie nach Flucht zumute. Wenn mir eines aus der Vergangenheit mit Sebastian in Erinnerung geblieben war, dann die schrecklichen Shoppingerlebnisse mit ihm. Ich persönlich konnte langen Einkaufstouren noch nie viel abgewinnen. Aber wenn ich ein neues Kleidungsstück brauchte oder gerade Ausverkauf war, konnte man sogar mich mal an einem Wühltisch oder in einem überfüllten Einkaufscenter erwischen.

Aber mit Sebastian war es die Hölle!

Er war schlimmer als jede Frau!

Er konnte sich nie entscheiden, war mit allem unzufrieden, hatte zu hohe Ansprüche und war viel zu schnell schlecht gelaunt. Als eine Verkäuferin sich einmal tatsächlich erdreistet hatte, ihm zu sagen, dass ihm das Hemd, das er anprobiert hatte, wunderbar stand, hatte er sie vor der versammelten Belegschaft angeschrien und lautstark gefragt, ob sie noch ganz richtig im Kopf war. Im Nachhinein musste ich grinsen, wenn ich daran dachte. Das war mittlerweile bestimmt schon fünf oder sechs Jahre her. Aber ich war mir sicher, dass Sebastian sich in puncto Shopping garantiert kein bisschen geändert hatte.

»Ey, aber ich hab nicht allzu lange Zeit. Ich hab noch ‚nen Termin. Da darf ich echt nicht zu spät kommen! Also entscheide dich schnell für einen Anzug. Kann ja nicht so schwer sein. Hose, Hemd, Sakko. Fertig!«

»Du hast leicht reden. Meinst du, das ist der erste Laden, in dem wir was Passendes suchen?« Hiroki schielte mich mit einer kritisch hochgezogenen Augenbraue von der Seite an. Er hatte einen leicht genervten Unterton in der Stimme.

»Was? In wie vielen Läden wart ihr denn schon?«

»Das ist der Fünfte.«

»Der Fünfte?«, schrie ich schockiert.

»Nicht jeder hat das Glück, gleich im ersten Laden das Richtige zu finden«, gab Sebastian etwas bissig zurück.

»Du hättest ja den Gleichen nehmen können. Aber das wolltest du ja auch nicht.«

»Wer Partnerlook trägt, hat auch auf Facebook ein Partnerprofil. Das geht gar nicht.«

»Ich glaube ja, dass er gar nicht weiß, was er anziehen möchte«, sagte Hiro zu mir und zeigte dabei mit dem Daumen auf seinen zukünftigen Gatten, der beleidigt seine Unterlippe nach vorne schob und uns finster anschaute.

»Aber wenn ich es sehe, dann weiß ich es!«

»Wir finden schon was, denn ich bin die perfekte Beratung, wenn‘s um Mode geht!« Mein ironischer Unterton war kaum zu überhören. Sebastian musterte mein Erscheinungsbild und atmete resignierend aus. Dabei sah ich heute ganz präsentabel aus ... Das dachte ich zumindest.

»Oh Mann, da hab ich ja eine tolle Begleitung. Zum einen ein Mädel, das tatsächlich der Meinung ist, dass diese Schuhe gut aussehen«, er zeigte auf meine Boots und zog dabei eine Augenbraue hoch, »und zum anderen einen ignoranten Kerl, dem es vollkommen egal ist, ob ich etwas zum Anziehen habe oder nicht.«

Hiro umrundete mich und legte einen Arm um die Taille seines Verlobten. Dann gab er ihm einen Kuss auf die Schläfe und ließ seinen Kopf auf Sebastians Schulter nieder.

»Mir gefällt doch alles an dir, das ist die rosarote Brille«, sagte er zu Sebastian und küsste ihn ein weiteres Mal. Das war so ungewohnt süß von Hiro, dass ich beschämt wegschaute. Auch Sebastian bekam rote Wangen.

Die beiden schafften es tatsächlich, mich etwas neidisch zu machen, auch wenn ich ihnen ihr Glück wirklich von Herzen gönnte.

Begleitet von dem schrillen Läuten der Türklingel betraten wir einen pikfeinen Laden. Überall sah ich Anzüge und Kleider in allen Formen und Farben. Drei Stockwerke voller Seide, Leinen, Rüschen, Glitzer, Pailletten und noch so einigem mehr. Da wurde einem ja schwindelig.

Hiro und Sebastian ließen sich ausführlich von einem Verkäufer mit schütterem Haar beraten und da ich mich, um ehrlich zu sein, mit Anzügen, Schnitten und Stoffen eh nicht auskannte, ging ich zu den bunten Kleidern, die etwas weiter hinten aufgereiht waren. Dann stand ich ihnen auch nicht im Weg.

Mir fiel sofort ein grünes Cocktailkleid ins Auge. Ich mochte die Farbe. Es leuchtete angenehm und der Schnitt sah gleichzeitig elegant, aber auch verspielt und etwas frech aus. Schwarze Spitze an Ärmeln und Dekolleté ließen das Kleid ein klein wenig verrucht wirken. Nicht allzu brav. Das würde eh nicht zu mir passen. Ich musste grinsen. Vielleicht sollte ich das Kleid ja mal anprobieren? Immerhin würde ich ebenfalls ein Outfit für die Trauung brauchen. Sebastian würde ausrasten, wenn ich seine Hochzeitsfotos mit meinem alten, grauen Hosenanzug verschandelte.

Am besten wäre es wohl, wenn ich nächste Woche noch mal herkommen würde. Heute sollte ich mich auf Sebastian konzentrieren, bevor er ausrasten und wild mit Krawatten um sich werfen würde. Ich hing das Kleid wieder zurück, strich noch mal mit Fingerspitzen den zarten Stoff entlang und ließ meinen Blick dann weiter die Kleiderstange entlangwandern.

Im Hintergrund hörte ich die Glocke der Ladentür läuten, war aber gerade zu sehr damit beschäftigt, ein pinkfarbenes Monstrum aus mehreren Lagen Tüll zu begutachten. Ich hielt das Teil vor mich und betrachtete mich belustigt im Spiegel.

»Sebastian, schau mal, das ist krass lächerlich«, gab ich lachend von mir, drehte mich um und stand plötzlich vor Jan.

Ich erschrak so sehr, dass ich mich verschluckte und wild hustete.

»Alles okay?« Jan klopfte mir etwas unbeholfen auf den Rücken und ich wich automatisch einen Schritt zurück. Den pinken Tüll hielt ich schützend zwischen uns. Er durfte mich nicht berühren, denn wenn er das tat, keimten Gefühle in mir auf, die ich schon längst tot geglaubt hatte.

Weg damit. Ich wollte diese Gefühle nicht.

»Pink ist nicht so deine Farbe, finde ich«, sagte Jan und dachte wohl, er sei lustig. Fehlanzeige. Ich schaute ihn böse an und hing das Kleid schweigend wieder zurück an die Stange. Er winkte ab. »Na ja, aber ich hab ja auch keine Ahnung.«

»Stimmt. Außerdem geht‘s heute nicht um mich, sondern um Sebastian. Also sollten wir mal schauen, dass er nicht vor lauter Verzweiflung noch Hiro tötet.«

Ich versuchte, schnell von mir abzulenken, und, soweit es eben ging, normal mit Jan umzugehen. Nach der Aktion in der Bibliothek war das leichter gesagt als getan. Aber verdammt, wir waren nun mal beide Trauzeugen. Ignorieren ging da nicht. Wir würden wohl oder übel miteinander auskommen müssen. Irgendwie.

Ich sah Sebastian mit einem dunkelblauen Bündel in der Umkleidekabine verschwinden. Hiro schob den Vorhang einige Zentimeter auf die Seite und streckte seinen Kopf hinein. Man hörte Sebastian leise fluchen und Hiro kicherte. Mit den beiden unterwegs zu sein war ein wenig wie eine Comedyshow anzuschauen.

Jan stand neben mir und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Er grinste und zeigte dabei lustige Lachfältchen um die Augen.

Lachfältchen.

Jan hatte in den letzten Jahren tatsächlich Falten bekommen. Wir wurden nun mal alle nicht jünger. Leider konnte ich nur wenig Schadenfreude verspüren, da ihn das irgendwie noch viel anziehender machte. Der Typ hatte den Zenit des guten Aussehens noch nicht erreicht. Er würde irgendwann mit grauen Schläfen und netten Fältchen um Mund und Augen immer noch richtig sexy aussehen. George Clooney wurde schließlich auch von Jahr zu Jahr heißer.

»Sag mal, was war das eigentlich? Das in der Bibliothek ...«

Ich ignorierte seine Frage und schaute einfach weiter auf Hiros Rücken. Mein Herz hatte kurz ausgesetzt und mir war schlecht. Ich presste meine Hände auf meinen schmerzenden Magen und hoffte, dass die Übelkeit schnell vergehen würde. Was sollte ich denn bitteschön dazu sagen? Zum Glück kam in diesem Moment Sebastian aus der Umkleide und drehte sich vor einem Spiegel. Er posierte, lief einen Schritt zurück, betrachtete sich von hinten und seufzte dann theatralisch.

»Die Hose ist zu lang«, nörgelte er in Hiros Richtung, woraufhin sich der bemühte Verkäufer mit zahlreichen Nadeln im Mundwinkel vor ihn hinkniete und die Hosenbeine umschlug.

»Hiro, wie findest du die Farbe?«

»Eigentlich ganz ...«

»Ich weiß ja nicht.« Er drehte sich noch mal um die eigene Achse und begutachtete sich wieder kritisch. »Also mein Hintern kann durchaus besser aussehen.«

Hiro schaute sich hilfesuchend nach uns um.

»Ich finde, du hast ‚nen geilen Arsch in der Hose«, rief ich daraufhin Sebastian zu und pfiff zwischen den Zähnen.

»Meinst du?« Er machte große, hoffnungsvolle Augen. »Nein, warte. Bringen Sie mir den bitte in Anthrazit?«

Sebastian verschwand wieder in der Kabine und nachdem der Verkäufer den Laden einmal auf den Kopf gestellt hatte, reichte er ihm diverse Kleidungsstücke hinein.

Dieses Schauspiel wiederholte sich einige Male. Hiro war genervt und die Glatze des Verkäufers glänzte vor Schweiß.

»Sag schon, woher kennst du Pablo?« Jan wollte es einfach nicht auf sich beruhen lassen. Ich konnte ein kleines verzweifeltes Grinsen nicht verbergen. Das war so lächerlich.

»Ist egal, Jan.«

»Nein. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass es nicht egal ist.«

Ich schwieg.

Jan ging einen Schritt auf mich zu und stand nun direkt von mir. Er schaute mich genau an. Blickte mir tief in die Augen und legte seinen Kopf etwas schräg. Für einen kurzen Moment blieb die Welt stehen und mein Puls beschleunigte sich.

»Sag‘s mir!«, raunte er leise. Ich spürte seinen Atem in meinem Gesicht.

»Woher kennst du ihn?«, konterte ich mit einer Gegenfrage. Denn das war es, was mich wirklich interessierte. Zu Schulzeiten hatten sich die beiden nie gesehen, dessen war ich mir sicher.

»Er ist Fernandas Bruder.«

Mein Mund stand vor Schock weit offen. Ich starrte Jan vollkommen fassungslos an.

»Das ist nicht dein Ernst?« Ich lachte hysterisch und schüttelte immer wieder den Kopf. »Ihr Bruder«, flüsterte ich wie zu mir selbst und fuhr mir durch die Haare. Was hatte das zu bedeuten? Das konnte doch kein Zufall sein.

»Was, Nora, was?«

»Das ist verrückt!«

»Was ist verrückt? Woher kennst du ihn? Er hat dich nie erwähnt.«

»Warum sollte er auch?« Warum sollte er nur einen Gedanken an mich verschwenden? Ich war aus seinem Leben verschwunden, genau wie Jan aus meinem. Nur warum konnte Pablo mich so einfach vergessen und ich mit Jan nicht abschließen?

Ich weiß noch, dass mich Pablo auch nach der Abi-Party noch ein paarmal angesprochen hatte. Aber ich muss auch gestehen, dass meine Erinnerungen sehr verschwommen sind. Ich bewegte mich wie in einem Nebel durch die Tage. War nicht Herrin meiner Sinne und stand wohl immer noch etwas unter Schock. Als wir zwei Monate später unsere Abizeugnisse überreicht bekamen, gratulierte mir Pablo. Ich hatte gar nicht darauf reagiert. Nicht mal einen Blick schenkte ich ihm. Ich packte alles in meine Schultasche, warf sie mir über die Schulter und verließ das Gebäude, ohne mich auch nur einmal umzuschauen. Und nun war es Jan, der mich über Pablo ausfragte.

Ich wollte mich wegdrehen und das Gespräch damit beenden. Aber Jan hielt mich an der Schulter fest. Ich schlug seine Hand weg. Als ich seinen entsetzten Gesichtsausdruck sah, tat mir meine Brutalität leid und ich hob entschuldigend beide Hände. Was machte ich hier eigentlich?

Ich musste weg, sonst würde die Situation hier noch aus dem Ruder laufen.

»Sebastian, Hiro, ich muss gehen. Es ist schon spät.«

Sebastians Kopf kam aus der Kabine geschossen, der Vorhang verdeckte den Rest seines Körpers.

»Schon?«

»Ja, ich muss mich vor dem Vorstellungsgespräch noch umziehen.«

»Ja, das solltest du. Zieh dir mal was Schickes an. Die dunkelblaue Bluse in der obersten Schublade.«

»Woher kennst du den Inhalt meiner ... ach, was soll‘s. Bis heute Abend. Und noch viel Erfolg!«

»Dir auch!«, rief Sebastian.

Ich winkte Jan kurz zum Abschied zu und verließ den Laden.

Das Vorstellungsgespräch in einer großen Werbeagentur lief ganz gut. Ich hatte mich zu Hause in eine enge schwarze Jeans geschmissen und ein hübsches Oberteil angezogen. Die von Sebastian angepriesene blaue Bluse hatte ich tatsächlich gefunden, kam mir damit aber irgendwie wie verkleidet vor. Wir waren doch alle junge Kreative. Da musste man nicht im Kostüm erscheinen, dachte ich mir. Und ich behielt Recht. Ich wurde in einen kleinen Raum geführt, in dem nichts außer einem Tisch mit vier Stühlen stand. Ich hoffte inständig, dass mich nicht gleich mehrere angsteinflößende hohe Tiere gleichzeitig in die Mangel nehmen würden. Ich war so schon aufgeregt genug.

 

Nach einigen Minuten kam eine junge Dame herein und fragte mich, ob ich etwas trinken wolle. Ich nickte und kurze Zeit später brachte sie zwei Tassen Kaffee. Genau in dem Moment betrat ein junger, dunkelhaariger Mann den Raum. Er war sogar ziemlich attraktiv. Er leitete die Abteilung Webdesign und brauchte wohl dringend neue Mitarbeiter, da sie in Arbeit erstickten. Anfangs war ich sehr nervös, aber unser Gespräch war locker und schon fast freundschaftlich. Ich konnte mit Fachwissen glänzen und zeigte ihm meine Mappe mit Websites, die ich bereits während des Studiums entworfen hatte. Meine anfängliche Nervosität war schnell verflogen. Er lobte meine Arbeit und sagte abschließend, dass er sich sehr gut vorstellen könnte, mit mir zusammenzuarbeiten. In den nächsten Tagen würden sich allerdings noch ein paar andere Bewerber vorstellen. Danach müsste er noch mit seinen Kollegen und mit ein paar anderen Herren aus der Chefetage sprechen. In ungefähr zwei Wochen würde er mir Bescheid geben.

Abschließend schüttelten wir uns die Hände und ich verließ das Gebäude mit einem guten Gefühl.

Na ja, es konnte ja auch nicht alles scheiße laufen.

Vielleicht hatte ich ja zumindest in einem Bereich meines Lebens etwas Glück.