Geballte Ladung Liebe - Katharina Wolf Sammelband

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Erkenntnis

Hiroki und Sebastian liefen Hand in Hand neben mir her. Ich hatte hingegen beide Hände in den Hosentaschen vergraben. Die beiden hatten einen Tisch in einem italienischen Bistro reserviert, in dem wir zu Mittag essen wollten. Sebastian hatte eine große Tasche bei sich, in der sich seine gesammelten Hochzeits-Akten befanden. Ein paar Dinge wollte er anscheinend während des Essens mit uns besprechen. Ich war wirklich gespannt, was sich Sebastian so alles vorstellte und ausgedacht hatte. Ich befürchtete viel Kitsch, Glitzer, Herzchen, Tüll und wahrscheinlich noch Schlimmeres.

Auf dem Weg zum Bistro liefen wir an der Stadtbibliothek vorbei. Ich blieb automatisch stehen und betrachtete die Auslage im Schaufenster. Einige aktuelle Bestseller standen neben Romanen, Gedichtsammlungen und Kinderbüchern zu den Themen Weihnachten und Advent. Ich hatte ein komisches Gefühl dabei, hier zu sein.

Das war unser Platz gewesen.

Hier hatten wir uns kennengelernt und danach regelmäßig getroffen. Beinahe spürte ich ihn neben mir. In meinem Kopf war er ständig präsent, aber hier sah ich ihn schon fast physisch vor mir stehen. Seinen großen, stattlichen Körperbau, seinen interessierten Blick auf die Buchrücken, den Finger, den er immer über die Zeilen gleiten ließ, und seine Lippen, die stumm das wiedergaben, was im Buch geschrieben stand. Fast war es so, als hörte ich sein freundliches, warmes Lachen.

»Die Autorin magst du doch, oder?« Sebastian riss mich aus meinen Gedanken und zeigte auf ein Plakat. Eine Lesung von Kerstin Gier wurde darauf angekündigt. »Sie stellt anscheinend nächste Woche ihr neues Buch vor. Willst du hin? Ich kann mich noch daran erinnern, dass du früher jedes Buch von ihr verschlungen hast.«

Ich nickte und betrachtete die Ankündigung mit leuchtenden Augen. Ich würde tatsächlich sehr gerne hingehen. Sie war eine meiner absoluten Lieblingsautorinnen und ihr neues Buch hatte ich noch gar nicht gelesen. Das ging wohl im ganzen Umzugstrubel unter. Normalerweise stand ich nämlich direkt am Erscheinungsdatum schon in der Buchhandlung. Vielleicht war das genau das Richtige, um meine trübe Stimmung etwas aufzuhellen. Die Bücher von Kerstin Gier waren lustig und leicht. Dramen konnte ich nicht mehr ertragen. Ich hatte davon selbst mehr als genug. Mein ganzes Leben war ein einziges Drama!

Ich hatte eine große Portion Spaghetti Carbonara verputzt und trank nun ein Glas Rotwein. Anscheinend kam mein Appetit langsam wieder zurück. Das lag bestimmt an Sebastian. Seine gute Laune steckte an, genau wie seine aufgedrehte Art. Das machte hungrig. Ich hatte ihn in den letzten Jahren nicht wirklich vermisst, das musste ich zugeben. Ich war viel zu sehr mit dem Studium, mir selbst und meiner Depression beschäftigt. Da war kein Platz für irgendjemand anderen gewesen. Aber nun wurde mir klar, dass er mir gefehlt hatte. Nicht bewusst. Aber vielleicht wären meine letzten Jahre anders verlaufen, wenn Sebastian da gewesen wäre. Vielleicht wäre ich dann nicht so tief gefallen? Womöglich hätte er mir helfen können.

Hätte ich es zugelassen? Ich glaube nicht.

»So, jetzt die Sitzordnung. Du hattest dir doch schon was überlegt, oder?«, fragte Hiroki.

Sebastian kramte in seiner Tasche und breitete dann einen riesigen Plan aus, der fast den ganzen Tisch einnahm. In letzter Sekunde rettete ich mein Weinglas beziehungsweise Sebastians Aufzeichnungen, je nachdem, wo man seine Priorität sah, und trank es schnell aus.

Auf dem Plan waren alle Tische aufgezeichnet. Es waren acht große Kreise zu sehen an denen jeweils acht Personen Platz hatten. Ach du meine Güte. So viele Menschen kannte ich nicht mal! So wie ich den Plan deutete, war die Sitzordnung auf Paare ausgerichtet. Acht Personen, also vier Paare pro Tisch. Mir schwante Böses ... ich war Single. Also neben wem würde ich wohl sitzen müssen? Doch hoffentlich nicht neben ihm?

Bitte nicht Jan.

»Also, das ist der Brauttisch. Oder Bräutigamtisch. Der wird anders geschmückt sein als die anderen.«

Ich versuchte meinen Kopf so weit zu drehen, damit ich die geschriebenen Worte neben den Tischen erkennen konnte. Aber das Überkopflesen musste ich wohl noch üben.

»An dieser Seite sitzen Hiroki und ich. Rechts von mir sind dann du als meine Trauzeugin und meine Mum.« Ich atmete erleichtert auf. Bianca. Das würde gehen. Es war zwar seltsam, da ich sie ja auch schon vier Jahre nicht gesehen hatte, aber ich hatte sie schon immer sehr gerne gemocht. Somit wäre es garantiert okay, einige Stunden neben ihr zu sitzen.

»So ... neben Bianca und somit gegenüber von uns sitzen dann natürlich Hirokis Eltern uuund«, er holte einmal Luft und griff nach seinem Bier, nahm einen Schluck und schaute dann wieder auf den Plan. »Ja, ähm ...« Unsicher räusperte er sich und kratzte sich am Hinterkopf. »Links neben Hiroki sitzt dann Jan, sein Trauzeuge, mit seiner Freundin Fernanda.«

Die letzten Worte waren kaum mehr zu verstehen, so leise murmelte er sie vor sich hin. Trotzdem hatten sie sich direkt in mein Herz eingebrannt. Wie Salzsäure. Sebastian schaute mich mit gesenkten Liedern von unten schuldbewusst an. Er hatte mir bisher nichts davon gesagt. Das Thema Jan hatten wir bei unseren wenigen Telefonaten in den letzten Jahren immer erfolgreich und geradezu zwanghaft umschifft. Er wartete. Wartete auf eine Reaktion von mir. Ich reagierte nicht.

»Plane mal Fernanda nicht allzu fest ein, da läuft‘s nicht so gut«, unterbrach Hiroki die unangenehme Stille.

»Hiroki, sag doch sowas nicht. Das ist nicht fair.«

»Du weißt, was ich von ihr halte ...«

»Jan ist dein Trauzeuge?«, versuchte ich von dem unangenehmen Thema abzulenken und schaute dabei Hiroki neugierig an. Ich versuchte mir meinen Unmut nicht anmerken zu lassen. Er steckte sich gerade ein Grissini in den Mund, kaute schnell fertig und spülte mit einem Schluck Bier nach.

»Jap. Er ist einer meiner besten Freunde.«

Ich nickte und hörte Sebastians hastigem Themenwechsel über Tischdeko und Sitzordnung mit halbem Ohr weiter zu.

Jan war sein Trauzeuge. Jan war mit Fernanda zusammen. Der Fernanda. Seiner Arbeitskollegin. Ob sie wohl noch immer zusammen arbeiteten? Seit wann sie wohl ein Paar waren? Lief da etwa schon etwas während unserer Beziehung? Bestimmt! Das konnte doch kein Zufall sein.

Warum schmerzte es so? Selbst nach so langer Zeit tat es weh. Und ich hatte nichts, um die Schmerzen zu betäuben.

Verdammt.

Ich lag wach auf dem Schlafsofa und starrte an die Decke. Meine Arme hatte ich hinter dem Kopf verschränkt. Ich konnte nicht schlafen. Seit der Trennung von Jan konnte ich schon nicht mehr durchschlafen. Nur wenn ich auf einer Party war, ordentlich was getrunken und geraucht hatte, dann fiel ich in eine Art komatöse Bewusstlosigkeit. Leider genügte das kleine Glas Rotwein von vorhin nicht im Mindesten, um mich zur Ruhe zu bringen.

Ich erhob mich und schlüpfte in meine Hausschuhe. Vielleicht fand ich ja irgendetwas, das mich in den Schlaf wiegen konnte. Mit leisen Schritten ging ich aus meinem Zimmer und bog nach links zur Küche ab. Dort wurde ich aber schnell von hellem Licht, einem blubbernden Wasserkocher und Hiroki im Bademantel begrüßt.

»Huch«, entwich es mir erschrocken. »Du trägst eine Brille?«, war dann direkt das Erste, was meinem Hirn zu später Stunde auffiel. Er lächelte mir mit müden Augen entgegen.

»Nur wenn mich keiner sieht. Kannst du auch nicht schlafen?«

»Nein.«

»Tee?«

»Lieber was Hochprozentiges.«

Hiroki zog die linke Augenbraue skeptisch in die Höhe. Ich setzte mich an den großen Esstisch und beobachtete ihn dabei, wie er heißes Wasser in zwei Tassen goss. Eine der beiden stellte er vor mir ab und ich begutachtete das Etikett am Teebeutel.

»Fencheltee? Ernsthaft? Ich bin doch kein Säugling.«

Daraufhin stellte er mir kommentarlos eine Flasche Rum dazu. Fencheltee mit Rum? Das war ja widerlich. Andererseits ... Ich drehte den Verschluss auf und schüttete einen ordentlichen Schwung in die Tasse. Einen Versuch war es wert.

Wir saßen uns eine Zeit lang schweigend gegenüber und schlürften unseren Tee. Jeder hing seinen Gedanken nach.

Der erste Schluck war ekelhaft, aber dann ging es eigentlich. Ich trank unbeirrt weiter.

»Kannst du öfter nicht gut schlafen?«

Ich nickte, ohne ihn anzuschauen.

»Wie lange schon?«

»Knapp drei oder vier Jahre, schätze ich.« Ich hatte keinen Grund, es zu verheimlichen. Ich nippte wieder an meinem Fenchel-Rum-Tee und betrachtete den runden Rand, den die Tasse auf dem Tisch hinterlassen hatte.

»Wegen Jan?«

Ich zuckte zusammen. Ich schaute auf und blickte direkt in Hirokis Mandelaugen, die mich neugierig musterten. Ich nickte zaghaft.

»Ich denke, die Trennung hat einen großen Teil dazu beigetragen«, bestätigte ich leise.

»Warst du deshalb mal beim Arzt? Ich meine, dagegen kann man doch etwas tun, oder?«

Ich atmete lange ein und seufzend aus. Das war ein schwieriges Thema.

»Ganz am Anfang war ich bei einem Experten, das hat aber nicht wirklich geholfen.« Ich schwieg und dachte an die Zeit vor vier Jahren, kurz nach der Trennung, zurück. An meinen Nervenzusammenbruch. An die Einsamkeit. Die Panikattacken. Die Gespräche beim Therapeuten. »Die Medikamente konnten mir nicht helfen.« Ich zuckte mit den Schultern. »Also hab ich‘s gelassen.«

Warum erzählte ich ihm das eigentlich alles? Ich kannte ihn keine zwei Tage. Und trotzdem mochte ich ihn. Vielleicht fiel mir das Reden bei ihm auch leichter, eben weil wir uns kaum kannten. Weil ihn mit meinem früheren Ich nichts verband. Weil er Jan und mich nie als Paar erlebt hatte?

 

Jan.

Wie er wohl heute war? Hatte auch er sich verändert?

Ich hatte Angst vor unserem ersten Treffen. Das erste Treffen nach vier verdammt langen Jahren. Lange würde es nicht mehr auf sich warten lassen. Das wusste ich. Das spürte ich. Ich hatte Angst.

Party

»Und du willst echt mitgehen?«

»Warum nicht? Sieht man mir an, dass ich nicht so auf Muschis stehe?«, gab ich schnippisch zurück.

Sebastians Spiegelbild schaute mich aufgrund meiner Wortwahl etwas schockiert an. Er bemühte sich, meinen Kommentar zu ignorieren, und gelte sich die Haare weiter in Form.

»Wir gehen da mindestens einmal im Monat hin. Ist nun mal eine Homoparty. Darüber musst du dir im Klaren sein.«

»Sei mir armen Hetero-Mädchen gegenüber mal nicht so diskriminierend!«

Er tippte mir mit Zeige- und Mittelfinger fest gegen die Stirn und ging dann an mir vorbei in die Küche. Ich folgte ihm und lehnte mich mit der Schulter gegen den Türrahmen.

»Ich hab eh keinen Bock mehr auf Kerle. Ich möchte nur ein wenig mit euch feiern.«

»Dann komm eben mit, wird bestimmt lustig.«

Er reichte mir eine Flasche Bier und ging mit zwei weiteren an mir vorbei in Richtung Schlafzimmer.

»Schatz, Nora geht auch mit, bist du bald mal fertig? Och Mensch, wenn du schon zwanzig verschiedene T-Shirts durchprobieren musst, dann leg sie doch danach wieder zusammen ...«

Ich grinste. Die beiden waren ja jetzt schon wie ein altes Ehepaar. Irgendwie süß und beneidenswert.

Wenig später betraten wir die Diskothek und wurden sofort von drei riesigen Transen in Beschlag genommen, die Sebastian und Hiroki großzügig mit Küsschen begrüßten.

»Mädels, das ist Nora, meine Trauzeugin«, stellte mich Sebastian stolz vor und die drei Mädels bestaunten mich wie das achte Weltwunder. Dabei hatte ich weitaus mehr Grund zum Gaffen. Die waren alle um die drei Meter hoch. Ungelogen. Da oben musste der Sauerstoff schon ziemlich dünn sein.

»Ach Gottchen, Süße, du bist ja eine Schönheit.«

»Und das ist die Ex vom hübschen Jan? Die hätte er mal lieber behalten sollen!«

»Die bekommt doch was viel Besseres ab als diesen Miesepeter.«

»Da ist sie hier aber auf der falschen Party.«

Dann lachten sie alle laut und durcheinander und ich stand da wie ein begossener Pudel. Mit offenem Mund und mit vor Schock weit aufgerissenen Augen. Alle hier kannten Jan und wussten von uns.

»Lasst sie in Ruhe und verschreckt sie nicht gleich nach zehn Sekunden. Ihr seid echt schrecklich«, nahm mich Hiroki in Schutz und zog mich an den drei Mädels vorbei zur Garderobe. Dort gab ich meine Jacke und meine Tasche ab. Handy und Geld steckte ich in meine Jeans. Auch Sebastian und Hiroki ließen ihre Jacken dort und nahmen die Marken entgegen.

Dann betraten wir den Saal.

In der Mitte befand sich eine riesige Tanzfläche, auf der sich gefühlt tausend Körper aneinander rieben. Die bunten und blinkenden Strobolichter ließen das Ganze noch mehr wie ein Horrortrip aussehen. Zuerst fiel mir die Orientierung schwer. Ständig wurde ich geblendet. Aber als sich meine Augen langsam etwas an die Atmosphäre gewöhnt hatten, erblickte ich rechts von mir die Bar. Mein Ziel für heute Abend.

»Ich bin dann mal da hinten«, verabschiedete ich mich von den beiden und lief schnurstracks zu einem freien Barhocker, von dem aus ich eine gute Aussicht auf die Tanzfläche hatte.

Ich bestellte mir zwei Jacky Cola. Den einen kippte ich in einem Zug hinunter, den anderen trank ich etwas gemächlicher. Schneller als alle anderen um mich herum war ich trotzdem. Ich beobachtete Hiroki und Sebastian eine Zeit lang auf der Tanzfläche. Anscheinend waren die beiden hier recht bekannt. Zumindest wurden sie ständig von irgendjemandem begrüßt oder angetanzt. Sebastian war schon immer sehr kontaktfreudig gewesen. In einem Raum voller Fremder konnte man davon ausgehen, dass ihn am Ende nicht nur alle kannten, sondern auch mochten. So war er nun mal. Hiroki schien ähnlich aufgeschlossen zu sein. Gerade eben hatte er einem großen Muskelprotz im armfreien Shirt ein High-Five gegeben. Okay, die beiden amüsierten sich eindeutig. Ich ließ den Blick weiter durch den Raum wandern. Die Barhocker waren nun alle belegt. Ziemlich viele unterschiedliche Gestalten, die sich hier um mich tummelten. Die durstige Kundschaft stand am Tresen und winkte den spärlich bekleideten Barkeepern mit Geldscheinen zu, um ihrem Getränkewunsch noch mehr Dringlichkeit zu verleihen. Lächerlich. Als würden die sich von einigen fünf-Euro-Scheinen hetzen lassen ...

Am anderen Ende der Bar stand eine Frau mit tiefem Ausschnitt und lockigem Haar. Sie zwinkerte mir zu und ich konnte nicht anders als zu lachen und ihr mit meinem Getränk zuzuprosten.

Als Sebastian und Hiroki nach einiger Zeit zu mir kamen, um sich auch etwas zu bestellen, trank ich bereits meinen achten Longdrink und erreichte so langsam den Pegel, den ich gerne den Rest des Abends halten wollte. Mindestens. Ich fühlte mich gut. Etwas schwindelig, mit pelziger Zunge, aber gut gelaunt und bereit den Abend zu rocken.

»Alles okay bei dir?«, fragte mich Hiroki außer Atem und legte in einer fast schon brüderlichen Geste den Arm um meine Schulter. Sie mussten ziemlich ausgiebig getanzt haben. Ich konnte sogar etwas Schweiß auf seiner Stirn erkennen.

»Ja, Hiro, alles gut«, dann schnaubte ich und musste lachen »Hiro, so wie Superhero. Du bist mein Hero, Hiro.«

»Wie lange waren wir weg, dass du schon so betrunken bist?«

»Ich bin eben fix«, lachte ich und trank mein Glas aus.

Trotz meines Rausches wollte sich die gewünschte Entspannung nicht einstellen. Ich trank ja nicht, weil ich hier Party machen wollte und die Gesellschaft der Menschen so immens genoss. Garantiert nicht. Mir ging es darum, den Kopf endlich mal frei zu bekommen. Man könnte auch sagen, ich wollte mir damit einfach das Hirn wegpfeffern. Ich hatte es geschafft, über vieles nicht mehr nachzudenken, aber leider war es schier unmöglich, die Gedanken komplett auszuschalten. Und seit ich wieder zurück in meinem kleinen Heimatort war, arbeitete mein Hirn auf Hochtouren. Aber heute würde ich es wenigstens für ein paar Stunden zum Schweigen bringen.

Was aber, wenn der Magen schneller auf den Alkohol reagierte als das Hirn?

Langsam wurde mir übel. Ich ging auf die Damentoilette und ließ kaltes Wasser über meine Arme laufen. Danach legte ich mir meine angenehm gekühlten Hände in den Nacken. Mit geschlossenen Augen verweilte ich ein paar Sekunden in dieser Haltung und genoss das Gefühl auf meiner überhitzten Haut.

Das tat gut.

Nebenbei bekam ich mit, wie Frauen kamen und gingen. Pinkelten, Hände wuschen, knutschten und ein Mädel, das schon besonders lange in ihrer Kabine verschwunden war, schniefte sehr auffällig. Ich ahnte, was das zu bedeuten hatte.

Als die Blondine im weißen Minirock aus der Kabine geschwankt kam, rieb sie sich noch mal schwungvoll die Nase. Auffälliger ging‘s nicht, was?

Anfängerin!

Ohne lange zu fackeln warf ich der schniefenden Blondine einen Zwanzig-Euro-Schein entgegen, der im Waschbecken vor ihr landete. Sie starrte hinein und dann zu mir.

»Gib mir was ab.«

»Fick dich!«

»Hab dich nicht so!«

»Am Arsch. Warum sollte ich dir bitteschön was geben?« Die hatte aber echt eine bescheidene Laune. Vielleicht sollte sie sich lieber noch etwas mehr reinziehen.

»Weil ich weiß, was du da drin gemacht hast, und dich nur allzu gerne bei den Türstehern verpfeife. Gib also was her und mach keinen Terz.«

Sie schnaubte und kramte fahrig in ihrer Tasche. Sie warf mir ein kleines durchsichtiges Beutelchen entgegen, das ich gerade noch so auffing. Dann schnaubte sie noch mal voller Verachtung und verließ die Toilette, natürlich nicht, ohne mich noch mal ordentlich anzurempeln.

Ich grinste. Was soll‘s? Darauf hatte ich jetzt richtig Bock.

Ein Wink des Himmels!

Ich ging in eine der freien Kabinen, schloss die Tür hinter mir zu und kniete mich vor den geschlossenen Klodeckel. Dass der Boden unter meinen Knien klebte, ignorierte ich.

Ich öffnete den Beutel und kippte knapp die Hälfte des weißen Pulver auf den Deckel. Nicht gerade sehr hygienisch, aber es war ja auch nicht so, dass die Scheiße hier gesund war. Also machten die paar Bakterien wohl auch keinen großen Unterschied mehr. Ich tastete meine Hosentaschen ab und schaute mich um. Nichts Nützliches zur Hand. Ich fand lediglich Münzen, noch ein paar kleine Scheine und mein Handy. Keine Kreditkarte oder sonstiges. Na ja, es musste auch so irgendwie gehen.

Mit Hilfe der langen Kante meines iPhones versuchte ich, eine saubere Kokslinie zu formen und gleichzeitig ein paar Klümpchen zu verkleinern. Als ich mit meinem Werk zufrieden war, rollte ich einen Zehn-Euro-Schein zu einem Röhrchen, steckte es in mein rechtes Nasenloch und zog mir die Hälfte der Linie rein. Dann ein schneller Nasenloch-Wechsel, und der Rest war an der Reihe. Danach leckte ich noch über die Seite meines Handys, denn ich wollte ja nichts vergeuden.

So.

Gleich.

Nicht mehr lange und dann war alles gut.

Ich saß auf dem Klodeckel und wartete auf die Wirkung, die nach einigen Minuten einsetzte und mich grinsen ließ.

Ich wusste, wie unvernünftig es war und dass ich mir so eine Realität schuf, die eben keine war. Und trotzdem ... Das waren die Momente, für die ich lebte.

Ich war frei. Frei von allen Sorgen. Ich spürte die für Koks übliche Euphorie. Der ganze Kummer und Ballast war weg. Klar, in wenigen Stunden wäre er wieder da. Aber das war mir jetzt einfach scheißegal!

Ich verließ die Damentoilette und ging für schätzungsweise ein oder zwei Stunden auf die Tanzfläche. Ich musste mich einfach bewegen.

Diesen Zeitraum verbrachte ich damit, meine Hüften kreisen zu lassen und mich im Takt der Musik vollkommen zu verausgaben. Ich tanzte mit anderen Frauen und mit Männern. Mit Frauen, die wie Männer aussahen, und Männern, die wie Frauen aussahen. Ich glaube, ich tanzte sogar mal mit Hiro. Superhero. Ich lachte schon wieder über meine Gedanken und entschloss mich, den Rest Koks gleich auch noch wegzuziehen. Der Rausch ließ langsam nach und ich wollte nur ungern mit Drogen in der Hosentasche zu Sebastian nach Hause gehen. Wenn er etwas finden würde, wäre ein hysterischer Anfall vorprogrammiert. Er würde ausrasten, mir den Hals umdrehen und womöglich nie mehr ein Wort mit mir reden.

Ich wiederholte mein Ritual mit Handy und Geldschein auf dem Damenklo und fand mich wenige Minuten später mit einem Glas Wasser an der Bar wieder. Ich hatte zwar keinen Durst, aber den würde ich so auch nicht bekommen. Eine der Auswirkungen von Kokain. Daher trank ich lediglich aus Vernunft. Ich lachte über mich selbst. Vernunft war in dem Zusammenhang natürlich auch genau das richtige Wort. Weil es so vernünftig war, Drogen zu nehmen.

»Auf Wasser umgestiegen?« Hiroki und Sebastian standen plötzlich neben mir und wirkten beide euphorisch und verschwitzt. Ich nickte und lächelte die beiden an. Sebastian freute sich und umarmte mich. Der hatte wohl auch schon den einen oder anderen Cocktail zu viel intus. Dadurch wurde er immer so sentimental und kuschelbedürftig. Cute.

»Habe ich dir schon gesagt, wie froh ich bin, dass du wieder da bist?«, nuschelte er mir ins Ohr.

»Ich bin auch froh, wieder bei dir zu sein«, sagte ich und meinte es auch so. Ich liebte Sebastian einfach. Er umarmte mich noch fester und drohte, mich zu ersticken.

Über seinen Rücken hinweg sah ich Hiro stehen, der mich mit einer hochgezogenen Augenbraue musterte. Er kam einen Schritt auf uns zu, beugte sich leicht vor und sah mir mit gerunzelter Stirn tief in die Augen. Dann richtete er sich mit einem wissenden Gesichtsausdruck wieder auf, tippte sich auf die Nasenspitze und gab mir so zu verstehen, dass er mich besser durchschaute als sein zukünftiger Gatte.