Geballte Ladung Liebe - Katharina Wolf Sammelband

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Überraschungen

Nach einer relativ kurzen und nahezu schlaflosen Nacht stand ich auf und begann damit, meine komplette Wohnung von Grund auf zu putzen. Keine Ahnung, was mich da geritten hatte. Aber ich war innerlich so ruhelos, dass ich einfach irgendetwas tun musste.

Ich saugte einmal durch und putzte die Fenster, was ich, glaube ich, vorher noch nie getan hatte. Ich spülte Geschirr und schrubbte das komplette Bad auf Knien. Was zur Folge hatte, dass ich sie mir – ungeschickt, wie ich war – erneut an den Fliesen aufschürfte. Dann überzog ich mein Bett neu und wusch eine Ladung Wäsche. Ich fuhr mir mit dem Unterarm einmal über die Stirn. Ich war ziemlich verschwitzt. Also zog ich mich schnell aus und sprang unter die Dusche.

Nun war alles sauber. Die Wohnung und ich.

Ich fühlte mich trotzdem schlecht. Was nicht nur an dem schlimmen Kater lag, den ich hatte.

Es klingelte an der Tür und ich öffnete sie mit einem Handtuch auf dem Kopf. Jan stand davor und lächelte mich so herzlich an, dass mir sofort das Herz in die Hose rutschte. Er umarmte mich und schob mich zurück in die Wohnung. Dort schaute er sich erst mal perplex um.

»Was ist denn hier passiert?«

»Ich habe aufgeräumt und ein wenig geputzt.«

»War die Wohnung schon immer so groß?«

Ich verdrehte die Augen. So schlimm sah es sonst nun auch wieder nicht aus. Ich war doch kein Messie. Nur etwas faul und chaotisch.

»Hier, für dich.« Jan hielt mir ein kleines Päckchen entgegen. Sein Lächeln war so wunderschön, dass ich ihn am liebsten sofort abgeknutscht hätte.

»Was ist das?«

»Eine kleine Überraschung. Ein Geschenk zum Abi.«

»Ich habe doch noch gar keine Ergebnisse.«

»Ja, aber das Schlimmste ist rum und du hast so fleißig gelernt. Da dachte ich ...« Er wirkte sehr verlegen und kratzte sich am Hinterkopf.

»Vielen Dank.«

Er küsste mich wieder und sein Blick war ... hm, wie sollte ich das beschreiben? Verliebt? Ja. Sein Blick war voller Stolz und Liebe. Er machte mich sprachlos.

»Entschuldige bitte wegen gestern. Ich wäre wirklich gerne dabei gewesen.« Er streichelte mir über die Wange und ich versuchte, seinem Blick standzuhalten. Dabei war mein schlechtes Gewissen gerade so unglaublich groß und wog so schwer, dass es mich zu erdrücken drohte.

»Pack es schon aus, ist auch nur eine Kleinigkeit.« Ach ja, das Päckchen. Ich riss das Geschenkpapier hinunter und erspähte ein Buch mit einem wunderschönen Cover. Eine Liebesgeschichte, das erkannte man sofort. Eine Handvoll Worte von Jojo Moyes. Ich hatte bereits ein Buch von ihr gelesen und Jan davon vorgeschwärmt. Das Geschenk war somit garantiert ein Volltreffer.

»Danke«, hauchte ich, fiel ihm um den Hals und küsste ihn stürmisch. Konnte man ein schlechtes Gewissen verdrängen? Es war ja gar kein richtiger Kuss gewesen. Pablo hatte mich überrumpelt, geradezu überwältigt. Außerdem war ich betrunken gewesen. Pablo zudem auch noch bekifft. Man konnte das also geflissentlich vergessen und hinter sich lassen. Es war nichts. Hatte nichts bedeutet.

Plötzlich warf mich Jan über seine Schulter und mir entwich ein überraschter Laut. Er trug mich ins Schlafzimmer und legte mich auf das frisch bezogene Bett. Hastig begann er, mich auszuziehen, und küsste mich dabei immer wieder leidenschaftlich.

Wie ich diesen Mann liebte. Es fühlte sich so gut an. Wie er mich berührte, wo er mich berührte. Mit seinen Fingern, die etwas kälter waren als meine Haut, und mit seinen Lippen, die dafür so heiß waren, dass sie mich schier verbrannten.

Wie Verhungernde liebten wir uns zwei Mal und lagen danach noch Stunden zusammen im Bett und schauten fern. Mein Kopf lag auf Jans Brust und er streichelte mein Haar. Alles war gut. Wir verbrachten endlich mal wieder eine schöne Zeit miteinander und die fiesen letzten Tage und Wochen rückten in den Hintergrund. Ganz weit weg. Hoffentlich für lange Zeit.

Jan übernachtete leider nicht bei mir. Gegen 20 Uhr verließ er, nach vielen weiteren Küssen und Streicheleinheiten, etwas wehmütig meine Wohnung und ging nach Hause. Er musste morgen arbeiten, ich hatte frei. Mir hätte es nichts ausgemacht, wenn er mich morgen früh geweckt hätte. Aber ihm wäre es unangenehm gewesen. Also gab ich nach und ließ ihn gehen.

Alleine in der Wohnung, ging ich erst mal in die Küche und begann, mir ein Brot zu schmieren. Ich hatte einen Bärenhunger und nach den körperlichen Aktivitäten hatte ich einen kleinen Snack auch mehr als verdient. Ich kochte mir einen Tee und nahm beides wieder mit ins Schlafzimmer. Ich setzte mich ins Bett, wickelte die Decke um meine Beine und schaute, während ich mein Abendessen zu mir nahm, eine Talkshow, die ich vorhin begonnen hatte. Aber so richtig spannend war die dann doch nicht. Zumindest hatte ich den Überblick verloren, warum sich die Politiker so anschrien. Den leeren Teller stellte ich gemeinsam mit meiner Teetasse auf dem Nachttisch neben mir ab. Ich schaltete den Fernseher aus und schnappte mir mein neues Buch, das Jan mir heute geschenkt hatte. Ich strich mit dem Daumen voll Vorfreude über das Cover und schlug dann die erste Seite auf.

In dem Moment klingelte es an der Haustür. Ich schaute verwundert auf die Uhr. Kurz vor 21 Uhr. Da würde ich garantiert nicht mehr an die Tür gehen. So begannen Horrorfilme, und zwar alle!

Aber es klingelte noch mal. Und noch mal. Ich legte das Buch auf die Seite und lauschte. Nun klopfte es und ich hörte jemanden meinen Namen rufen. Jan? Das war Jan und er rief nach mir!

Ich riss mir die Decke von den Beinen und lief zur Tür. Ich hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache. Es musste etwas passiert sein. Warum würde er sonst die komplette Nachbarschaft zu so später Stunde wach rufen?

Ich riss die Tür auf und stand vor meinem Freund, der einen angsteinflößenden Gesichtsausdruck aufgelegt hatte und vor Wut schnaubte.

»Jan, was ...?«

Ohne Vorankündigung knallte er mir plötzlich irgendwelche Dinge an den Kopf und ich stolperte einen Schritt zurück. Vollkommen perplex fasste ich mir an die Stirn. Ich schaute nach unten und sah einige verstreute Zettel auf dem Laminat. Einer davon lag so, dass ich das Bild darauf erkennen konnte. Mir wurde ganz heiß und meine Ohren glühten. Das Foto zeigte mich mit Pablo.

Wir küssten uns.

»Was zur ...?« Mehr brachte ich nicht heraus.

»Wie konntest du nur?« Seine Stimme war nicht laut und dadurch nur umso bedrohlicher.

»Ich ... das war nicht ...«, stammelte ich.

»Du wusstest es, du wusstest es genau! Das ist das Einzige, das verdammt noch mal Einzige, was ich nicht tolerieren kann. Was unverzeihlich ist!« Nun schrie er. Ich konnte nicht behaupten, dass mir das lieber war. »Ich kann es verdammt noch mal einfach nicht fassen. Und ich komme her und wir ...« Er schlug die Hände über den Kopf zusammen und schüttelte immer wieder mit dem Kopf, als wolle er sich selbst davon überzeugen, dass das wirklich real war.

»Aber es war doch gar nicht ...«

»Lüg mich nicht an!« Er wurde immer lauter und ich zuckte zusammen. Automatisch ging ich einen Schritt zurück. Er hob eines der Fotos auf und ging einen weiteren auf mich zu. Dass er dabei auf die restlichen Fotos am Boden trat, war ihm egal. Er streckte mir das Bild entgegen. Ich erkannte den Rahmen eines Facebook-Profils. Mein Gesicht war deutlich zu erkennen. Es war mein Gesicht. Leugnen war sinnlos. »Lüg mich verdammt noch mal nicht an!«

Mir liefen Tränen die Wange hinunter und ein leises Schluchzen entrann meiner Kehle.

»Du heulst? Du? Mir ist zum Heulen zumute, verdammt! Also hör auf. Du hast es kaputt gemacht. Du!« Die letzten Worte brüllte er mir so laut ins Gesicht, dass ich mir erschrocken die Hände auf die Ohren presste.

Ich war fassungslos. Ich musste unter Schock stehen. Das war doch alles nicht wahr. Das konnte doch alles einfach nicht wahr sein.

Nein.

»Jan, ich ... bitte, lass es mich erklären.«

»Da gibt es nichts zu erklären!« Dann knallte die Tür und ich war alleine.

Ich war alleine.

Vorbei

Nachdem ich aus meiner Schockstarre erwacht war, schwankte ich wie in Trance zurück in mein Schlafzimmer und setzte mich auf mein Bett. Ich weiß nicht, wie lange ich einfach nur reglos auf meiner Matratze kauerte und auf meine Bettdecke starrte. Ich fuhr gedankenverloren das Blumenmuster mit meinem Zeigefinger nach und zwang mich dazu, weiter zu atmen, während mir die Tränen unaufhörlich die Wangen hinunterliefen. Irgendwann lehnte ich mich zurück und vergrub das Gesicht in meinem Kissen. Es roch nach Jan. Und Sex. Das half nicht wirklich. Ich musste definitiv unter Schock stehen. Ich hatte einen unglaublich schnellen Herzschlag und spürte die Panik, die langsam, aber stetig in mir hochstieg. Ich bekam immer schlechter Luft. Oh Gott. Was war da nur geschehen? Das konnte nicht wahr sein. Das war ein Alptraum.

Ein Alptraum!

Jan hatte weder auf meine SMS noch auf meine Anrufe reagiert. Nichts. Kein Lebenszeichen. Ich war ein Nervenbündel. Vollkommen fertig. Abgebrannt. Am Ende mit meinem Latein.

Verzweifelt.

Ich hatte nicht lange darüber nachgedacht. Die Sonne war kaum aufgegangen, da hatte ich Jacke und Schuhe angezogen und meine Wohnung hinter mir gelassen. Ich konnte mich kaum an den Weg erinnern. Doch nun stand ich hier. Vor der Haustür von Jans Familie. Ich musste ihn sehen. Ich musste alles richtigstellen. Es war doch nichts! Das, was auf den Bildern gezeigt wurde, war eine vollkommen falsche Realität. Es war anders und das musste ich ihm erklären. Und zwar schnell. Bevor es zu spät war.

 

Bitte mach, dass es noch nicht zu spät war.

Ich klingelte.

Nichts.

Ich klingelte wieder.

Ich wartete und klingelte ein drittes Mal.

Dann hörte ich leise Schritte. Die Tür öffnete sich langsam und zaghaft.

Bianca lugte hinaus und machte plötzlich große Augen. In dem Moment wusste ich, dass sie im Bilde war. Sie wusste Bescheid. Jan musste es ihr gesagt haben. Und trotzdem kam sie mir einen Schritt entgegen und nahm mich in den Arm.

»Was machst du denn für Sachen?« Bianca hörte sich traurig und erschöpft an. Sie schüttelte immer wieder fassungslos den Kopf. Mir kamen sofort die Tränen. Ich konnte es nicht unterdrücken. War das ein Abschied? Es fühlte sich danach an. Verdammt.

»Ist Jan da?« Meine Stimme war leise und bebte. Bianca zögerte und musterte den Boden vor ihren Füßen.

»Ja. Aber ich denke nicht, dass er dich momentan sprechen will. Ihm geht es nicht gut. Er ist ziemlich fertig.« Es war kein Vorwurf in ihrer Stimme. Irgendwie machte das die Sache noch schlimmer.

Dann bemerkte ich eine Bewegung hinter ihr. Im Eingangsbereich direkt neben der Garderobe erblickte ich sie. Fernanda. Seine Arbeitskollegin. Warum? Was zum Teufel machte sie hier? Mit verschränkten Armen stand sie im Zwielicht und musterte mich mit vorwurfsvollem Blick.

Mir wurde schlecht. Es war fast so, als ob all meine Alpträume auf einmal wahr wurden. War ich bereits ausgetauscht worden?

Bianca bemerkte meinen Blick und wandte sich auch kurz der Person hinter ihr zu. Sie seufzte erschöpft und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Eine Geste, die mich schmerzlich an Jan erinnerte.

Jan.

Wo war er nur?

Plötzlich stand Fernanda neben Bianca in der Tür, nahm sie am Arm und schob sie sanft in die Wohnung zurück. Es wirkte so vertraut. Warum nur wirkten die beiden so verflucht vertraut miteinander?

Irgendwas lief hier gehörig verkehrt!

»Das Wasser ist heiß, mach uns doch schon mal einen Tee.« Bianca nickte und richtete ihren Blick dann doch noch mal auf mich.

»Nora, gib ihm Zeit. Er ist verletzt, aber er liebt dich, vergiss das nicht. Bitte vergiss das nicht!« Ich nickte mit bebendem Kinn und tränennassem Gesicht. Unfähig, etwas dazu zu sagen. Dann wandte sich Bianca ab und bewegte sich Richtung Küche. War auch Jan dort? Hörte er mich? Hatte er dem Gespräch gelauscht?

Wie bestellt und nicht abgeholt stand ich nun vor dieser unsäglichen Fernanda. Ich schaute kurz zu ihr auf. Fernanda versuchte nicht, ihr süffisantes Grinsen zu verbergen. Dann winkte sie mit ihren manikürten roten Fingernägeln und schloss dabei langsam die Tür.

»Tja, das war‘s dann wohl für dich.« Ihre Stimme war wie Eis. Kalt, spitz und schneidend.

Die Tür fiel ins Schloss und ich starrte auf dunkles Holz. Das Flurlicht erlosch und ich war alleine.

Wieder alleine.

In diesem Moment wurden mir zwei Dinge auf schmerzliche Art und Weise bewusst.

1. Mein Leben würde nie wieder so sein, wie es bislang war. Die kuscheligen Zeiten, an die ich mich gerade begonnen hatte zu gewöhnen, waren unwiderruflich vorbei.

2. Ich hatte mir das ganz alleine zuzuschreiben. Ich war schuld. Ich hatte es verkackt.

- 4 Jahre später -

Zurück

Ich klappte den Koffer zu und versuchte, begleitet von viel Gestöhne und einigen Flüchen, den Reißverschluss zu schließen. Es ging. Irgendwie. Auch wenn ich jetzt Angst haben musste, dass der Koffer wie ein Würstchen in kochendem Wasser direkt am Bahnsteig aufplatzen würde. Dann würde ich eben meine Disney-Unterwäsche auf den Gleisen zusammensuchen müssen.

Das wäre genau der richtige Start in meinen neuen Lebensabschnitt.

So passend!

Erschöpft und genervt ließ ich mich auf meinem Bett nieder und schaute mich um. Alles war zusammengepackt. Viel war es ja nicht gewesen. Richtig heimelig hatte ich es mir hier nie gemacht. Keine Bilder an den Wänden, keine Dekoartikel. Nicht mal Gardinen. Lediglich ein Plakat, das ich selbst im zweiten Semester entworfen hatte, hing über meinem Schreibtisch. Ein Werbeplakat für eine Limonade. Darauf zu sehen war eine Strandlandschaft, blaues Meer und einige Jugendliche mit Getränken in der Hand. Das Poster war für meinen Geschmack viel zu bunt und grell, aber so war die Vorgabe und ich hatte meine erste Eins und einiges an Lob dafür erhalten.

Zwei Koffer und ein paar Kisten mit Büchern standen bereit und warteten wie ich auf den Aufbruch. Na ja, die Kisten würden mir dann irgendwann die Tage folgen. Eine Kommilitonin würde sie mir hinterherschicken. Sie hatte das Zimmer neben mir bewohnt und war einer der wenigen Menschen hier gewesen, mit denen ich mich relativ gut verstanden hatte.

Als ich merkte, dass die Zeit eng wurde, das Semester bald vorbei war und ich ausziehen musste, hatte sie mir angeboten, mir zu helfen. Ich mochte es nicht, Hilfe ohne Gegenleistung anzunehmen. Aber ich hatte leider keine andere Wahl gehabt. Nun wurde vorerst alles bei ihr zwischengelagert. Dafür durfte sie einige meiner Studienbücher behalten. So ganz umsonst half sie mir dann also doch nicht.

Die Zeit hier im Studentenwohnheim war dann wohl zu Ende. Ich ging tatsächlich zurück. Es war ja nicht so, als ob mir eine Wahl gelassen wurde. Das Studium war endgültig vorbei und Sebastian zwang mich dazu, zu ihm zurückzukehren.

Er hatte tatsächlich vor zu heiraten. Ich kannte seinen Freund und baldigen Ehemann noch nicht mal. Ich hatte zwar einige wenige Male in den letzten Jahren mit Sebastian telefoniert, aber viel war dabei auch nicht rumgekommen. Er hatte mir von seiner ersten Begegnung mit Hiroki erzählt und davon, wie er mit ihm zusammengekommen war. Aber gesehen hatte ich ihn noch nie. Immerhin war ich ja vor vier Jahren in eine andere Stadt gezogen, um zu studieren.

Und zu fliehen.

Nun hatte ich einen mittelmäßigen Bachelor in Grafikdesign in der Tasche und wusste nicht so recht, was ich mit mir, meinem Abschluss und meiner Zeit anfangen sollte.

Ich war planlos.

Antriebslos.

Lustlos.

Dann konnte ich genauso gut auch wieder zurück. Hier hielt mich ja auch nichts.

Ich weiß nicht genau, wann es begonnen hat.

Ich hatte mich nie aktiv dafür entschieden. Es war mehr ein schleichender Prozess, der unaufhaltsam mein Leben immer mehr veränderte. Nach der Trennung und meinem Umzug brach ich nach und nach alle Kontakte zu meiner Heimatstadt ab. Meldete mich erst sporadisch und dann irgendwann gar nicht mehr. So lange, bis auch ich nichts mehr von Bekannten, Schulkameraden und Nachbarn hörte. Ich kapselte mich von allem ab. Aber ich schloss auch keine neuen Freundschaften. Ich ging weder auf Dates noch traf ich mich mit Kommilitonen. Ich schloss mit meinem früheren Leben ab, jedoch ohne ein neues zu beginnen.

Ich saß fest. Irgendwo zwischen alt und neu. Kein altes Leben, kein neues. Ich lebte gar nicht, ich überlebte. Und das war kräftezehrend genug.

Die einzige Ausnahme war Sebastian, der sich wie verzweifelt an mich klammerte. Auf bestimmende und fast schon aufdringliche Art und Weise rief er regelmäßig bei mir an und zwang mich nun mehr oder weniger dazu, wieder zurückzukommen. Er würde mir niemals verzeihen, wenn ich seiner Hochzeit fernbleiben würde. Na ja, es war ja nicht so, als hätte ich irgendwelche alternative Pläne gehabt.

Dort würde ich erst mal wieder irgendwo jobben. Als Grafikdesignerin würde ich schon etwas finden. Und wenn ich Geburtstagskarten designen musste. Zwei Bewerbungen hatte ich bereits abgeschickt. Die eine für ein bezahltes halbjähriges Praktikum bei einer bekannten, internationalen Werbeagentur, die andere für eine Assistenzstelle beim hiesigen Stadtmarketing. Da machte ich mir, um ehrlich zu sein, wenig Hoffnung. Aber irgendwas würde schon klappen.

Das Gute war, dass ich erst mal bei Sebastian wohnen durfte. Ich sparte also Geld für die Miete, das ich eh nicht hatte. Sobald ich dann welches verdiente, würde ich mich auf Wohnungssuche begeben und Sebastian und seinen Partner nicht weiter belästigen.

Ich stieg nach drei Stunden Fahrt aus dem Zug aus und schaute mich um. Es war eisig kalt. Ich wickelte meinen dicken roten Wollschal um meine Schultern, schnappte mir meine beiden Koffer und begab mich in Richtung Haupteingang. Schon von weitem erkannte ich Sebastian, der in einem dunkelblauen Trenchcoat in der großen Eingangshalle stand und immer wieder abwechselnd unruhig auf die Uhr und sich in der Menschenmenge nach mir umschaute. Er sah elegant und echt hübsch aus. Da hatte sich in den letzten vier Jahren einiges getan, denn er war zugegebenermaßen wirklich heiß! Dann wendete er seinen Blick nach rechts und streckte die Hand nach jemandem aus. Der junge Mann neben ihm nahm die ausgestreckte Hand und behielt sie in seiner. Sebastian hielt Händchen. Dieser Anblick ließ mich grinsen. Das war eine Premiere für mich. Sebastian hatte, als ich noch hier wohnte, nie eine feste Beziehung gehabt. Er schwärmte zwar ab und an von irgendwelchen Kerlen, aber ich hatte ihn niemals mit jemandem zusammen gesehen. Der Anblick war erfrischend und irgendwie knuffig.

»Nora!« Er hatte mich entdeckt und rannte mir entgegen. An seiner euphorischen Art hatte sich anscheinend nichts geändert. Er umarmte mich und wirbelte mich kurzerhand einmal um sich herum. Immer noch der gleiche Wildfang wie früher. Mir entwich ein Jauchzer. Ein Geräusch, das mich erschreckte, da ich es schon viel zu lange nicht mehr von mir gegeben hatte. Ich kicherte wie ein kleines Kind. Das schaffte wirklich nur Sebastian. Seine Freude war ansteckend. Er setzte mich wieder auf dem Boden ab und drückte mich noch mals fest an sich. War er gewachsen? Er wirkte irgendwie größer.

Männlicher.

»Mensch, Süße, hast du abgenommen!«

»Hi Sebastian, ich nehme das jetzt einfach mal als Kompliment.« Er drückte mich noch fester an sich und wollte mich gar nicht mehr loslassen. Plötzlich erschien der andere Kerl, schaute ihm neugierig über die Schulter und räusperte sich kurz, um auf sich aufmerksam zu machen. Sebastian löste sich widerwillig von mir.

»Nora.« Er atmete einmal durch, stellte sich direkt neben ihn und legte besitzergreifend seinen Arm um seine Taille. »Das ist Hiroki, mein Verlobter.«

Das Wort Verlobter zauberte Sebastian ein breites Lächeln ins Gesicht. Er zeigte stolz auf den Mann neben ihm und ich musste zugeben: nicht schlecht gewählt. Ein großer schlanker Kerl mit breiten Schultern, verstrubbelten, rabenschwarzen Haar und wunderschönen Mandelaugen. Man sah ihm seine asiatische Herkunft an.

»Hallo Nora.« Wir schüttelten uns die Hand und nickten uns zu. Hiroki hatte einen sehr starken Händedruck und ein entzückendes Lächeln. Herzlich und doch auch etwas verschmitzt.

»Hi, Hiroki. Schöner Name, woher kommt der?«

»Der stammt aus Japan. Genau wie meine Mutter.«

»Schön.« War es wirklich. Und interessant. Ich war gespannt, was Hiroki für ein Typ war. Immerhin ging es hier um Sebastian, der mir sehr am Herzen lag. Er hatte nur das Beste verdient. Mein erster Eindruck war gut. Sein Verlobter wirkte sympathisch, freundlich und mindestens genauso besitzergreifend wie sein Partner. Das zeigte mir sein Arm, den er nun selbstbewusst um Sebastians Schulter gelegt hatte.

»So«, Sebastian klatschte in die Hände. »Du hast bestimmt Hunger, also lass uns doch in dem Café gegenüber ein paar Sandwiches essen. Ich zahle.«

Genau in dem Moment begann mein Magen zu knurren und ich erschrak.

»Okay, mein Magen hat gerade für mich geantwortet.« Wir lachten und ich strich mir über den Bauch. Ohne noch weitere Zeit zu verschwenden, schnappten sich Hiroki und Sebastian je einen Koffer von mir und so liefen wir los.

Nachdem ich mir den Mund mit der Serviette abgewischt hatte und meine Coke leergetrunken war, schaute ich auf und bemerkte, dass Sebastian mich beobachtete.

»Mmmh?«, brummte ich fragend und starrte zurück.

»Du hast wahnsinnig abgenommen. Ich meine, du warst nie dick, aber jetzt ...«

»Sie hat eine Figur wie ein Model«, gab Hiroki hinzu und nickte bekräftigend.

Ich rollte mit den Augen. Ich hatte wenig Lust darauf, mir das jetzt von jedem anhören zu dürfen. Ja, es stimmte, ich hatte früher ein paar Kilo mehr gewogen. Na und?

»Übertreibt mal nicht.«

»Und deine Haare ... Die sind so lang. Seit ich dich kenne, hattest du immer einen Bobschnitt. Das war so süß an dir. Aber auch das steht dir, wirklich.«

 

»Danke.«

Schweigen. Ich nahm mein Glas in die Hand und bemerkte auf halbem Wege zu meinem Mund, dass es leer war.

»Wir haben dir was Wichtiges zu sagen«, sagte Sebastian und räusperte sich laut. Er klang sehr ernst, nahm Hirokis Hand und schaute mich angespannt an.

»Du bist schwanger?«

Beide starrten mich erst geschockt an und brachen dann in schallendes Gelächter aus. Ich zog nur die Augenbrauen hoch. Dieses synchrone Reagieren war irgendwie gruselig.

Oder war das Liebe?

»Nein, Nora, es geht um unsere Hochzeit oder eingetragene Lebenspartnerschaft. Mann, wie ich diesen Begriff hasse! Also wie du weißt heiraten wir an Weihnachten. Um genau zu sein am 23. Dezember, weil die verdammten Beamten am 24. nicht mehr arbeiten ...« Er fluchte noch etwas vor sich hin und ließ sich von Hiroki wieder beruhigen, der ihm immer wieder über den Rücken streichelte. Es war sein sehnlichster Wunsch gewesen, an Weihnachten zu heiraten. Als er mir von dieser Idee am Telefon erzählt hatte, konnte ich es zuerst gar nicht glauben. War Weihnachten nicht schon stressig genug? Nicht umsonst gab es zur Weihnachtszeit die meisten Selbstmorde.

Er fand es einfach praktisch, da dann eh die ganze Stadt geschmückt war und so den Tag in einem noch romantischeren Licht erstrahlen lassen würde. Außerdem liebte er Weihnachten schon seit seiner Kindheit. Bianca hatte ihn immer ihr kleines Christkind genannt.

»Na ja«, Hiroki ergriff nun das Wort, da Sebastian sich immer noch über die faulen Standesbeamten aufregte, die ihn nicht an Heiligabend trauen wollten. »Lange Rede, kurzer Sinn: Er hätte dich gerne als seine Trauzeugin.«

Ich schlug die Hände vor dem Mund zusammen und keuchte erschrocken auf. Damit hatte ich nicht gerechnet.

»Mich?«

»Natürlich dich. Du bist doch meine beste Freundin!«

Seine beste Freundin? Nach all der Zeit, in der ich nicht hier war, in der ich mich nicht bei ihm gemeldet und ihn vernachlässigt hatte, bezeichnete er mich noch immer so?

»Immer noch?« Bevor ich mir darüber bewusst war, sprach ich die Frage aus.

»Aber natürlich. Gut, wir haben in den letzten Jahren eine Fernbeziehung geführt, aber das hat doch nichts daran geändert, was ich für dich empfinde.« Er lachte herzlich und selbst ich musste bei dem Wort Fernbeziehung grinsen. Das passte. »Und? Machst du‘s?«

»Aber natürlich. Also, ich denke schon. Wenn ich das kann. Was muss ich denn tun?« Ich hoffte, niemand verlangte eine Rede von mir. Ansprachen vor großen Menschenmengen waren so gar nicht meins.

»Nicht viel. Da sein, hübsch aussehen und unterschreiben«, gab Sebastian abwinkend zurück. Dabei zog er ein Gesicht, als ob dies die leichteste Aufgabe auf der Welt sei.

»Na ja, unterschlag nicht das Wichtigste«, mischte sich Hiroki ein. »Du musst dieses Nervenbündel natürlich auch bei der Planung unterstützen. Jetzt ist Oktober. Zwei Monate haben wir noch und es gibt einiges zu tun.«

»Solange ich kein Brautkleid aussuchen muss, bin ich dabei.« Ich stand auf, umrundete den Tisch und umarmte Sebastian und danach auch noch Hiroki, der mir schon nach dieser kurzen Zeit ans Herz gewachsen war.

Seltsam.

Dabei hatte ich in den letzten vier Jahren gedacht, ich hätte keines mehr. Also der pumpende Muskel, der war da. Aber rein emotional spürte ich schon seit langem nichts mehr. Nach dem Trennungsschmerz und einer ordentlichen Depression hatte ich die Taubheit dankend angenommen. Wenn Gefühle doch drohten, mich zu übermannen, hatte ich nachgeholfen, diese schnellstmöglich zu unterdrücken. Aber nun war da wieder so etwas.

Ein schönes Gefühl. Ein Anflug von Geborgenheit.

Wir nahmen noch das eine oder andere Getränk zu uns, um unser Wiedersehen zu feiern, und fuhren dann zu Sebastian nach Hause. Er wohnte seit zwei Jahren mit Hiroki in einer Drei-Zimmer-Wohnung und ich durfte vorübergehend in das Büro einziehen. Dort stand bereits ein frisch bezogenes Schlafsofa. Sehr gastfreundlich.

»Die Kommode haben wir dir extra freigeräumt, damit du dich hier auch ein wenig entfalten kannst«, erklärte mir Sebastian etwas verlegen und zeigte auf das gute Stück aus dunklem Holz.

»Danke, Sebastian.«

»Tja, hm ...« Sebastian kratzte sich am Hinterkopf und schaute sich im Zimmer um. »Im Bad sind Handtücher und im Kühlschrank Getränke und auch noch ein wenig Auflauf von heute Mittag ... bedien dich einfach und fühl dich wie zu Hause. Den Rest klären wir dann morgen, okay?«

»Okay.« Ich nickte und schaute mich in meinen temporären neuen vier Wänden um. Alles sehr schön hier. Ich schaute zu Sebastian, der immer noch unentschlossen an der Tür stand und nun mit großen Schritten wieder zu mir gelaufen kam, mich ganz fest umarmte und dabei laut in mein Ohr seufzte.

»Es ist schön, dass du wieder da bist. Aber du solltest echt mehr essen. Du bist zu dünn.«

»Jaja.« Ich winkte ab und verdrehte die Augen. Wenn das mein einziges Problem war ...

Der Abend war erstaunlich entspannend und sogar lustig gewesen. Ich hatte mit peinlichem Schweigen und unangenehmen Fragen gerechnet. Hiroki war echt ein toller Kerl und ich konnte Sebastian verstehen, warum er sich in ihn verliebt hatte. Sie passten gut zusammen und waren ein hübsches und mehr als attraktives Paar. Die Hochzeit der beiden würde sicherlich einige Frauen in tiefe Trauer stürzen. Es stimmte wohl doch: Die besten Männer waren entweder vergeben oder schwul.

Leider befürchtete ich, dass die nächste Zeit nicht immer so schön beschwingt und locker bleiben würde. Wir würden um das Thema Jan nicht ewig herumkommen. Auch wenn sich heute alle Beteiligten sehr viel Mühe gegeben hatten, kein Wort über ihn zu verlieren.

Und wenn es nach mir ginge, konnte das auch ruhig so bleiben.