Geballte Ladung Liebe - Katharina Wolf Sammelband

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»So hat es bei seinem Vater auch angefangen.« Biancas Worte kamen mir wieder in den Sinn. Ich schüttelte wie wild mit dem Kopf, um diese deprimierenden Gedanken zu verscheuchen. Aber es war wie mit einem unangenehmen Ohrwurm. Ich konnte diese schrecklichen Worte einfach nicht aus meinem Hirn verbannen.

Nein. Nein, Jan war nicht so!

Nein!

Und trotzdem konnte ich dieses komische Gefühl in mir nicht ausblenden.

Ein Gefühl des Verlustes. Angst, Eifersucht, Übelkeit, Traurigkeit, Wut. All das und noch viel mehr.

»Was, in Gottes Namen, war das eben?«

Bemühungen

Ich hatte es geschafft.

Es war tatsächlich vorbei.

Ich hatte alle Abiturprüfungen hinter mich gebracht und war gar nicht mal so unzufrieden. In Biologie konnte ich zwar zwei Fragen mehr schlecht als recht beantworten, aber was soll‘s? Es war vorbei!

Ich sprang beflügelt die Stufen des Schulgebäudes hinunter und hielt, unten angekommen, für ein paar Sekunden mein Gesicht Richtung Sonne und atmete durch. Ich war die letzten Tage und Wochen so dermaßen angespannt gewesen. Nicht nur körperlich. Ab jetzt sollte alles besser werden.

Und wie konnte ich am besten entspannen?

Ich lief los. Die Bibliothek war mein Ziel.

Ich war monatelang gezwungen gewesen, auf gute Romane zu verzichten. Die einzigen Bücher, die ich zur Hand genommen hatte, waren Schulbücher oder Fachliteratur gewesen. Selbst nach dem Lernen traute ich mich nicht, zu einer schönen Liebesgeschichte oder einem Thriller zu greifen, da ich sofort ein schlechtes Gewissen bekam. Wenn ich Zeit hatte, den neuesten Bestseller von Ken Follett zu lesen, konnte ich mir auch noch mal den Aufbau des Auges anschauen und einprägen. Aber nun war diese Zeit ja endlich vorbei.

Ich war literaturausgehungert!

Ich liebte die Bücherei und ich liebte es zu lesen. Schon lange war es mein liebstes Hobby. Als Kind entwickelte ich diese Leidenschaft zu Büchern eher unfreiwillig. Es war schlichtweg ein Ersatz. Ich hatte kein Geld für Vereine oder für ein Musikinstrument gehabt. Ein Deutschlehrer hatte meine Liebe zu Büchern entdeckt und wollte mich unbedingt fördern. Also schenkte er mir einen Bibliotheksausweis. »Das günstigste Hobby, das es gibt«, meinte er. »Und gleichzeitig auch das schönste.«

Seitdem war ich süchtig nach Büchern. Denn dieser Lehrer hatte Recht behalten. Selbst ein armes Waisenkind, wie ich es war, konnte sich Bücher ausleihen. Und die Bücher bescherten mir nicht nur wunderbare Stunden in fernen Welten und Zeiten, sie ermöglichten mir, aus meinem Alltag zu entfliehen. In den Geschichten fand ich Freunde, wenn auch keine realen. Das größte Glück war allerdings, dass ich hier in dieser Bücherei Jan kennengelernt hatte.

Meinen Jan.

Uns verband sofort etwas. Es war von der ersten Sekunde an besonders mit ihm gewesen. Wir lasen die gleichen Bücher, wir unterhielten uns über unsere Lieblingsschriftsteller und wir trafen uns hier regelmäßig. Zuerst waren es Zufälle. Dann häuften sich diese und wirkten irgendwann alles andere als zufällig, bis mir Jan schließlich gestand, dass er absichtlich zur gleichen Zeit wie ich hier war und auf mich wartete. Daraufhin lud er mich auf einen Kaffee ein und ich gab ihm meine Telefonnummer. Eins kam zum anderen und seitdem waren nun mehr als zwei Jahre vergangen.

Die glücklichsten Jahre meines Lebens.

Wenn ich so zurückdachte, wurde mir eines noch stärker bewusst: Ich durfte das mit Jan nicht ignorieren und aussitzen. Wir beide gehörten zusammen. Das war eine Tatsache. Diese Distanz, die ich zwischen uns spürte, durfte nicht noch mehr Besitz von uns ergreifen. Ich musste alles daran setzen, ihn zu unterstützen und ihm zu zeigen, wie sehr ich ihn liebte und vertraute. Das war meine Aufgabe als seine Freundin.

Und damit würde ich genau heute starten.

Ich lieh mir drei Bücher aus. Verstummt von Karin Slaughter, das Lina während Mathe gelesen hatte. Sie hatte sehr von dem Buch geschwärmt und mich damit neugierig gemacht. Außerdem hatte ich noch ein Auge auf zwei Thriller von Sebastian Fitzek geworfen. Von dem hatte ich bislang auch nur Gutes gehört. Ich war gespannt und freute mich auf meine wohlverdiente Freizeit.

Beschwingt ging ich nach Hause und legte die Bücher im Schlafzimmer auf den Nachttisch. Meist las ich abends im Bett. Da war es am gemütlichsten.

Es klingelte an der Tür. Ich öffnete und erblickte Jan. Er machte einen bedrückten Gesichtsausdruck und schaute mich verlegen an. Seinen Schlüssel hielt er unbenutzt in der Hand. Er schien sehr unsicher zu sein. Geradezu eingeschüchtert.

»Hey.«

»Hey.«

»Abi-Arbeiten gut überstanden?« Ich nickte. Jan lächelte ganz schwach und griff dann schüchtern nach meiner Hand. »Ich hoffe, du bist nicht mehr böse.«

»Ach was ... Komm rein.« Ich umarmte ihn und gab ihm einen dicken Schmatzer mitten auf den Mund. Jan grinste und erwiderte den Kuss hungrig. Zum Glück fiel ihm nicht auf, wie ich mich plötzlich verspannte und für einen kurzen Moment nach Luft schnappte.

Ein fremdes Parfum.

Ich war mir sicher. Ich roch ein fremdes Parfum an ihm. Eindeutig ein Frauenduft. Verdammt.

Nora, reiß dich zusammen. Du vertraust ihm und wolltest nicht schon wieder ein Drama vom Zaun brechen. Das hat nichts zu bedeuten. Das kann alles sein. Ein Raumspray auf der Büro-Toilette, ein neuer Duftbaum im Auto oder er hatte sich einfach heute Morgen bei der Flasche geirrt und nach Biancas Duftwässerchen gegriffen. Es könnte alles Mögliche sein. Also versau dir nicht diesem kostbaren Abend.

Es funktionierte fast perfekt. Das komische, unangenehme Gefühl und die im Untergrund brodelnde Wut konnte ich wunderbar unterdrücken. Alles würde schon gut werden.

Ich schien erstaunlich geübt darin zu sein, mich selbst an der Nase herumführen.

Wir saßen gemeinsam auf dem Sofa und schauten einen Actionstreifen. Irgendein Film mit Bruce Willis. Aber wie das eben bei Filmen mit ihm so war: kannte man einen, kannte man alle. Ich war schon nach knapp 30 Minuten fast eingenickt und lehnte mit geschlossenen Augen an Jans Schulter. Er hatte den Arm um mich gelegt und streichelte mir übers Haar.

»Morgen ist doch deine Abi-Party, oder?

»Mmmh«, bestätigte ich mit einem leisen Brummen.

»Du schenkst Getränke aus?«

»Jap. Aber ich bin direkt zur ersten Schicht eingeteilt. Danach kann ich also selbst feiern. Sag mal ...« Ich drehte meinem Kopf zu ihm und zog die Augenbrauen hoch. »Du kommst doch, oder?«

»Klaro!« Er küsste mich auf die Stirn und strich einige Haarsträhnen hinter mein rechtes Ohr. »Ich denke, ich arbeite bis 19 Uhr. Danach mach ich mich noch hübsch für dich und fahre dann direkt rüber. Ich will ja nicht, dass du dich für mich schämen musst.« Er lachte und schaute mich herausfordernd an.

»Dann streng dich aber mal an, du.« Sein Gesicht verzog sich geschockt und seine Augen weiteten sich.

»Na warte!« Mit einem drohenden Knurren stürzte er sich auf mich und kitzelte mich so lange durch, bis ich um Gnade winselte.

Abiparty

»Party!« Pablo schrie mir ins Ohr und zog mich hastig hinter die Theke. »Du siehst scharf aus, so verkaufen wir bestimmt eine Menge Cocktails. Shake it, Baby!«

Ich zog die Augenbrauen hoch und winkte ab. Pablo musste schon einiges getrunken haben. Ich sah aus wie immer. Jeans und Top. Wenn ich mir meine Klassenkameradinnen so anschaute, konnte ich kein bisschen dagegen anstinken. Moni aus meinem Biokurs hatte eigentlich, na ja, nichts an. Sie trug irgendwie einen Gürtel um den Hintern und noch einen weiteren quer über die Brüste. Mehr war es wirklich nicht. Aber verdammt, sie konnte es tragen.

Ich schaute mich hinter der Theke um und wurde sofort von zwei Mädels angeschrien, die sich bemühten, mir ihre Bestellung trotz der lauten Musik verständlich mitzuteilen.

»Zwei Tequila Sunrise!«, brüllten die beiden synchron.

Ich nickte und schaute auf den Zettel, der vor mir auf der Theke angebracht war. Eine sehr ausführliche Anleitung.

Tequila Sunrise: 6 cl Tequila, 10cl Orangensaft, 1 cl Zitronensaft und 2 cl Grenadine. 4 Euro. Daneben war ein Bild von einem fruchtig und lecker aussehenden Cocktail zu sehen. So konnte wirklich jedes Kindergartenkind Cocktails mischen. Auch wenn es das natürlich nicht sollte.

Ich machte mich an die Arbeit und war begeistert von dem Ergebnis. Ich stellte die beiden Getränke auf den Tresen, nahm 8 Euro entgegen und legte die Münzen in die Kasse. Das lief ja wie geschmiert.

Drei Stunden lang mixte ich Cocktails wie ein Weltmeister und hatte wirklich Spaß dabei. Unentdeckte Talente zeigten sich hier. Vielleicht sollte ich doch über eine Karriere in der Gastronomie nachdenken? Eventuell wäre das ja eine Möglichkeit, sich etwas dazu zu verdienen. Wenn ich mich nun nach meinem Abschluss für ein Studium entscheiden würde, müsste ich mir eh über einen kleinen Nebenjob Gedanken machen.

Immer, wenn wir zwischendurch hinter der Theke mal Zeit hatten, tranken wir auch selbst etwas. Jeden Cocktail, den wir anboten, hatte ich bereits probiert. Man musste ja wissen, was man so verkaufte.

Pablo kam mit zwei hohen Gläsern in meine Richtung getorkelt. Anhand der blauen Farbe erkannte ich zwei Swimming Pool. Die hatte ich heute bestimmt schon mindestens 20 Mal gemixt. Er reichte mir eines der Gläser und wir nahmen beide einen großen Schluck mit Hilfe unserer pinken Strohhalme. Er verzog danach angewidert das Gesicht.

»Bäh, ist der süß!«

»Das hättest du dir aber bei den Zutaten schon denken können«, lachte ich. Immerhin bestand ein Swimming Pool zu einem großen Teil aus Kokossirup und Sahne. Mir schmeckte er dafür sehr. Aber wahrscheinlich war nach fünf Cocktails eh alles egal. Ich hatte einen ordentlichen Schwips und war mehr als froh darüber, nun endlich abgelöst zu wurde. Zum Glück war meine Schicht zu Ende. Ich war so langsam nicht mehr in der Verfassung, die Cocktailliste zu lesen und Wechselgeld korrekt herauszugeben.

 

Pablo und ich verließen mit unseren blauen Cocktails den Arbeitsbereich - wir standen den anderen ja eh nur im Weg - und mischten uns stattdessen unters Volk. Seit wann lief mir Pablo eigentlich ständig hinterher? In den letzten Wochen häufte es sich. Aber ich empfand es nicht als unangenehm. Zwar war er manchmal etwas aufdringlich und seine Boxerei regte mich ziemlich auf, aber er war nett und lustig. Ich hatte nicht viele Freunde und wusste ihn daher sehr zu schätzen. Wir lästerten über einige Leute, die sich auf der Tanzfläche seltsam bewegten. Im Grunde war er es, der lästerte, mir immer wieder auf die Schulter tippte oder dagegen boxte , um danach, wenn er sich meiner Aufmerksamkeit sicher war, auf irgendwelche zappelnden Menschen zu zeigen. Zum Glück war heute auch einer dieser Partyfotografen anwesend. Die peinlichsten Auftritte wurden von ihm garantiert glorreich festgehalten. Da würden sich morgen einige beim Betrachten der Bilder bestimmt in Grund und Boden schämen. Aber die meisten meiner Klassenkameraden waren auch wirklich zum Brüllen. Sturzbetrunken und ohne jegliches Schamgefühl verrenkten sie sich auf der Tanzfläche - egal ob zu Techno, Rock oder Helene Fischer. Ich lachte viel, war mit meinen Gedanken aber nicht zu 100 Prozent auf der Party oder bei meinem Gesprächspartner.

Wo blieb Jan?

Ich kramte in einer Hosentasche nach meinem Handy und erkannte zwei Anrufe in Abwesenheit und eine SMS von Jan.

»Wird später.«

Mehr nicht. Mein genervtes Schnauben konnte ich nicht unterdrücken. Ich tippte ein paar Mal auf meinem Handy rum und sah, dass auch die Anrufe von Jan stammten.

»Ich warte auf dich«, antwortete ich und steckte dann, nicht ohne mit den Augen zu rollen, mein Smartphone wieder in die Hosentasche.

Als ich aufblickte, erkannte ich, dass mich Pablo aufmerksam beobachtete. Von seiner ausgelassenen Art war nichts mehr zu spüren. Auch seine Belustigung war komplett verflogen. Er machte sich eindeutig Sorgen. Um mich etwa?

»Alles okay?«, fragte er mit für ihn untypischer leiser Stimme.

»Ja, warum?«

»Du siehst traurig aus.«

»Ach was.« Ich winkte ab und zwang mir ein Lächeln auf. Pablo zog die rechte Augenbraue hoch. »Nee, echt jetzt. Alles dufte. Komm, lass uns noch Getränke holen!«

Pablo besorgte uns zwei Mai Tai. Die waren erstaunlich lecker, auch wenn meine Zunge mittlerweile etwas pelzig war und ich nicht immer zielgenau mit Strohhalm und Mund agieren konnte. Wenn ich nicht aufpasste, würde ich mir damit noch ein Auge ausstechen. Wir gingen zu einer Sofaecke hinüber, auf der einige unserer Klassenkameraden bereits saßen. Sie machten bereitwillig Platz für uns und wir quetschten uns dazwischen. Schon stand der Partyfotograf mit gezücktem Objektiv vor uns und bat darum, noch etwas zusammen zu rutschen. Pablo schnappte sich sein Cocktailglas und hielt es sich vors Gesicht. Knips, ein Blitz und schon war der Fotograf wieder verschwunden.

»Was sollte das denn eben?«

»Ich lass mich nicht so gerne fotografieren.«

»Warum das denn? Stehst doch sonst so gerne im Mittelpunkt«, neckte ich ihn und kicherte.

»Ich bin nicht besonders fotogen. Und so besoffen, wie ich jetzt bin, hab ich bestimmt keine Kontrolle mehr über meine Gesichtsmuskeln.« Er schnitt eine hässliche Grimasse und lachte daraufhin laut los. Auch ich musste grinsen. Das war schon eher der Pablo, den ich kannte. Der war nämlich in keiner Weise zurückhaltend.

Plötzlich erschien ein Glimmstängel vor meiner Nase, den mir der Typ rechts von mir rüberreichte. Ihn kannte ich nur flüchtig aus ein oder zwei Grundkursen. Das Teil, das er zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, betrachtete ich skeptisch. Ein Joint. Ich machte große Augen. Drogen? Ich verstand, dass wir alle Grund zum Feiern hatten. Aber Drogen? Ernsthaft? Ich griff nach dem rauchenden Ding und reichte es, ohne ihm große Aufmerksamkeit zu schenken, nach links weiter. Pablo nahm ihn entgegen und zog gierig daran. Ich begnügte mich mit meinem Cocktail und das reichte mir auch vollkommen. Ich war betrunken und mir war schwindelig.

»Ich sollte mir vielleicht mal eine Cola oder so holen«, sagte ich mehr zu mir selbst.

»Ich besorge dir was.« Schon sprang er auf und war weg.

Ich schaute ihm nach und ließ den Blick dann weiterwandern. Über meine Klassenkameraden hinweg auf die Tanzfläche. Ich sah viele unterschiedliche tanzende und zuckende Gestalten. Einige Mädels, die ich nur vom Sehen kannte, versuchten sich gerade mehr schlecht als recht am Macarena-Tanz. Natürlich begleitet von einem wahren Blitzlichtgewitter dieses aufdringlichen Fotografen. Zwei Jungs in roten Lederjacken liefen im Partnerlook an mir vorbei und hinterließen eine penetrante Parfümwolke. In einer Ecke knutschte ein Pärchen auf obszöne Art und Weise und ließen uns an ihrer Zungenakrobatik teilhaben.

Wo blieb bloß Jan?

Wieder schaute ich auf mein Handy. Nichts. Ich seufzte und fuhr mir mit meinen Händen durch die Haare. Was war nur mit uns los? Das konnte so nicht weitergehen. Ich wollte doch einfach nur mit ihm zusammen sein, war denn das zu viel verlangt? Er war nie da. Ich war immer alleine. Ich war doch viel zu lange alleine gewesen. Fast mein ganzes Leben lang musste ich mich ohne Halt, ohne Partner und ohne richtige Familie durchschlagen. Kaum hatte ich jemanden gefunden, bei dem ich mich geborgen fühlte und mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen wollte, da entfernte er sich wieder von mir. Und das Schlimmste war: Ich hatte den Eindruck, dass ich rein gar nichts dagegen tun konnte. Als würde er mir einfach so entgleiten. Wie Sand zwischen den Fingern. Alles schien so hoffnungslos.

»Hier, deine Coke.« Pablo riss mich aus meinen trüben Gedanken und reichte mir ein Glas mit kalter Cola. Ich trank gierig und viel zu hastig. Mit meinem betrunkenen, wirren Kopf und den zitternden Händen schüttete ich mir die Hälfte in mein Dekolleté.

Verdammt.

Pablo ließ sich wieder neben mir nieder und stürzte mit zwei Jungs noch einige Schnäpse hinunter. Er zog noch mals an einem Joint und widmete sich dann wieder mir. Er hatte glasige Augen und schaute mich argwöhnisch an.

»Und, wo bleibt er?« Seine Frage ließ mich erstarren.

»Wer?« Ich wusste genau, auf wen er anspielte. Ich wollte mir allerdings nichts anmerken lassen.

»Wer wohl? Dein Freund natürlich.«

»Ich weiß nicht«, gab ich kleinlaut zurück.

»Wieder am Arbeiten?« Woher wusste er das denn?

»Ich denke, ja ...«

»Er macht ziemlich viele Überstunden, findest du nicht auch?«

Ich setzte mich gerade hin und schaute ihn direkt an. Was sollte das denn jetzt? Er kannte Jan doch gar nicht. Hatte ich so viel von ihm erzählt? Nein. Er wusste so gut wie nichts über unsere Beziehung Und mit Sicherheit nichts über unsere Probleme. Es ging ihn ja auch nichts an. Gar nichts.

»Komm schon, Nora, so blind kannst du doch nicht sein. Du bist das intelligenteste Mädchen, das ich kenne, und du raffst es ernsthaft nicht? Du raffst nicht, dass er dich bescheißt?«

»Was? Wie kommst du denn auf sowas? Wie kannst du sowas sagen?« Ich wurde laut und schaute ihn schockiert an.

»Mensch, Nora. Wach auf! Wie lange geht das denn schon? Geschäftsreisen, Überstunden … alles mit seiner hübschen Arbeitskollegin? Da muss es doch bei dir klingeln, verdammt. So sehr kann doch niemand auf dem Schlauch stehen.«

Wir hatten uns mittlerweile beide erhoben und standen uns wutschnaubend gegenüber. Er roch nach Anis. Der letzte Schnaps musste Ouzo oder etwas ähnliches gewesen sein. Ich wandte mein Gesicht ab. Ich wollte ihn nicht direkt ansehen. Er war gemein.

»Pablo, du hast keine Ahnung. Du kennst weder ihn, noch kennst du mich sonderlich gut. Okay? Also halt dich da raus! Wie kannst du so etwas behaupten? Wie kannst du meinen Freund so schlecht reden? Das ist unfair und ich werde das nicht zulassen.«

»Verdammt, Nora, ich weiß es! Ich weiß, dass er dich betrügt. Mit ihr. Ich weiß es. Geht das endlich in deinen Kopf?«

Ich drehte mich um und ging. Ohne zurückzublicken, schritt ich über die Tanzfläche an schwitzenden Menschen vorbei. Ich streifte den einen oder anderen Kerl, kam dadurch ins Straucheln, fing mich aber wieder. Ich ging weiter. Immer geradeaus Richtung Toilette. Gleich würde ich weinen. Ich spürte es. Ich wollte nicht hier vor allen in Tränen ausbrechen. Das alles war so schon schlimm genug. Ich wollte mich verkriechen, und zwar schnell. Hinter einer verschlossenen Kabinentür würde ich sicher sein. Doch noch ehe ich die rettende Tür zur Damentoilette erreichen konnte, packte mich Pablo am Handgelenk und riss mich zu sich herum.

»Lauf jetzt nicht weg!«

Ich schaute ihn mit Tränen in den Augen an und war so dermaßen von der Situation überfordert, dass ich ihn weiter sprachlos anstarrte. Unfähig, mich zu wehren. Unfähig, mich abzuwenden. Ihm einfach hilflos ausgeliefert.

»Nora, rede mit mir. Ich will dir doch nur helfen.«

Und dann brachen alle Dämme. Erst kullerte eine Träne meine Wange hinunter, und dann kam der Rest. Unaufhaltsam. Ich fing ungehalten an zu schluchzen und konnte rein gar nichts dagegen tun. Wieder wollte ich mich umdrehen und auf der Damentoilette verschwinden. Das war mir alles so peinlich. Doch Pablo ließ mich nicht gehen. Er zog mich an sich und umarmte mich.

Es tat gut. Oh Gott, und wie gut das tat. Wie sehr ich solche Nähe brauchte. Körperliche Nähe war für mich so unglaublich wichtig und Jan hatte sie mir schon so lange vorenthalten. Viel zu wenige Umarmungen. Kaum Berührungen und wenn, dann oft nur flüchtig, ohne Gefühl. Ich war so alleine. So einsam! Was sollte ich nur tun? Was? Mein Kopf war wie leergefegt. Die schockierenden Worte von Pablo in Kombination mit dem Alkohol waren zu viel für mich. Ich war fertig mit den Nerven. Mir war schlecht, alles drehte sich, ich hatte Kopfschmerzen und ich blamierte mich hier. Ich stieß mich etwas von Pablo weg und kramte nach einem Taschentuch. Ich fand keines und in Ermangelung an Alternativen wischte ich mir die Nase einfach an meinem Handrücken ab. Ich überlegte, was ich nun zu Pablo sagen sollte. Ich hasste ihn für das, was er mir hier an den Kopf geworfen hatte. Andererseits war ich ihm dankbar dafür, dass er sein Bestes tat, um mich zu trösten.

Und nun? Ich musterte meine Schuhe und überlegte, was ich tun sollte. Dann schaute ich verlegen nach oben und in dem Moment knallten feuchte, warme Lippen auf meine. Ich starrte mit weit aufgerissenen Augen in das Gesicht von Pablo. Seine Lider waren geschlossen. Geradezu genießerisch. Ich spürte seine Zunge, die versuchte, meine Lippen zu teilen.

What the hell?

Ich schnappte schockiert nach Luft und hatte innerhalb dieser Zehntelsekunde sofort seine feuchte Zunge in meinem Mund. Mehr aus einem Reflex heraus erwiderte ich den Kuss. Er schmeckte nach Schnaps und Zigaretten. Das war mein erster Gedanke. Mein zweiter war: Verdammt, was geschieht hier eigentlich?

Ich stieß ihn von mir, ging einen Schritt zurück und schaute ihn streng und wütend an. Er hatte einen schuldbewussten Gesichtsausdruck und ging wieder einen Schritt auf mich zu. Er streckte seine Hände nach meinen aus.

»Nora, ich ...«

Nein! Es reichte nun wirklich.

Ich ging wortlos an ihm vorbei und verließ die Party. Es war genug. Ich war betrunken, ich hatte geweint, ich war geküsst worden ... Die Party war vorbei. Eigentlich war sie in dem Moment zu Ende gewesen, als Jan geschrieben hatte, dass er sich verspäten würde.

Er war gar nicht erst erschienen.

Schluchzend und mit einem gnadenlosen Schluckauf lief ich die Straße entlang. Ich hatte meine Jacke vergessen, mir war kalt und ich zitterte am ganzen Leib. Trotzdem wollte ich laufen. Ein Taxi war keine Alternative. Ich wollte laufen. Ich wollte rennen. Rennen und schreien und etwas kaputtschlagen. Was auch immer.

Ich lief kopflos irgendwelche Straßen entlang, kam vor Erschöpfung ins Straucheln, stolperte, knallte mit der Schulter gegen eine Hauswand und fiel der Länge nach hin. Ich weinte noch immer und ich hatte mir die Knie aufgeschürft. Alles tat so schrecklich weh. Aber nichts übertraf den Schmerz in mir drin. Die eiskalte Hand, die sich um mein Herz krallte und dafür sorgte, dass mir immer mehr die Luft wegblieb. Ich drohte zu hyperventilieren. Panik stieg in mir auf.

 

»Aaaaaaaaaaaahhh!« Ich brüllte mir die Anspannung von der Seele und spürte doch keine Erleichterung. Mein Herz steckte noch immer in einem Schraubstock.

Dann ein Vibrieren an meinem Bein. Ich schrak zusammen und griff mit hektischen Fingern nach meinem Handy.

Jan!

Jan rief an.

Warum rief er an?

Wo war er?

Sollte ich dran gehen?

Ich atmete zitternd ein und drückte den Knopf mit dem grünen Hörer.

»Ja?« Meine Stimme hörte sich sicherer an, als ich mich fühlte. Ich saß auf dem kalten, feuchten Boden und zitterte am ganzen Leib.

»Nora? Nora, wo bist du?«

Ich schaute mich um. Wo war ich? Keine Ahnung.

»Auf dem Heimweg.«

»Oh Gott, Nora, es tut mir so leid, ich bin zu Hause. Es ist keine Bahn mehr gefahren. Keine einzige. Irgendein Streik. Am Bahnhof war totales Chaos. Und keiner konnte weiterhelfen. Und dann war mein Handyakku leer und es hat angefangen zu regnen. Dann wollte ich ein Taxi nehmen, aber da war ich auch nicht der Einzige. Es hat alleine über eine Stunde gedauert, bis ich ein Taxi zu Gesicht bekommen habe ...«, Jan redete noch weiter, doch ich hörte ihm nicht mehr wirklich zu. Der Lokführerstreik. Klar. Ich hatte es in den Nachrichten gehört.

War das die Wahrheit? War es wirklich so einfach? Er wollte kommen und konnte nicht? Keine andere Frau? Er betrog mich nicht? Oder?

Ich wollte so sehr daran glauben. Ich musste einfach daran glauben. Das war doch mein Jan. Jan und ich, wir gehörten zusammen!

Was wusste denn Pablo schon?

Nichts.