Geballte Ladung Liebe - Katharina Wolf Sammelband

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Ich schüttelte den Kopf und lächelte Bianca an. Sie meinte es nicht so. Vielmehr spürte ich, dass sie immer noch verletzt war und die Trennung bis heute nicht ganz verkraftet hatte. Aber wer konnte ihr das übel nehmen? Die große Liebe zu verlieren, ist immer tragisch.

Wie schlimm, konnte ich nur erahnen.

»Ich vertraue Jan«, gab ich selbstsicher zurück.

Sie nickte.

Versetzt

Nach dem Klingeln schnappte ich mir meine Tasche und lief zum Treffpunkt des Abi-Party-Komitees. Im Gemeinschaftsraum der Oberstufe saßen bereits knapp 20 Schülerinnen und Schüler, die alle durcheinander schnatterten.

Pablo stand in der Mitte, klatschte in die Hände und wartete, bis es ruhig wurde.

»Leute, super, dass ihr alle da seid. Dann kann‘s ja losgehen! Soviel vorab: Ich habe bereits eine Location reserviert.« Die Menge jubelte Pablo zu. Zum Glück hatte er die Planung federführend in die Hand genommen. Sonst würde diese Party wohl nie stattfinden.

»Außerdem«, der Jubel wurde leiser, alle hingen an seinen Lippen. »Na ja, ein Kumpel von mir ist DJ. Er meinte, für einen Fuffi würde er uns musikalisch durch den Abend führen. Also wenn ihr einverstanden seid, dann ...« Wieder applaudierten alle und zeigten damit, dass sie mehr als nur einverstanden waren.

»Jetzt bin ich mal gespannt auf eure Vorschläge. Wir müssen uns aufteilen. Wir benötigen noch Technik für die Musik- und Lichtanlage, Getränke, vielleicht auch Knabberzeug. Außerdem müssen ein paar Leute am Abend selbst arbeiten. Wir brauchen einige beim Getränkeausschank und vier bis fünf Jungs sollten nüchtern bleiben und für die Sicherheit sorgen. Oder wir nehmen noch etwas aus unserer Stufenkasse und engagieren einen Security-Dienst, was meint ihr?«

Und da ging die Diskussion los. Einige hatten Kontakte zu Getränkelieferanten oder auch zu Bands, die eventuell noch auftreten könnten. Zwei Jungs aus meinem Physikkurs meldeten sich freiwillig, um sich um die Technik zu kümmern.

Pablo hatte mich kurzerhand mit ihm für den Getränkeausschank eingeteilt. Zum Glück in die erste Schicht, dann hatte ich nach Feierabend auch noch etwas von der Party. Die könnte nämlich echt gut werden.

»Freust du dich?« Pablo erschien auf einmal neben mir und pikste mir in die Seite. Ich schreckte zusammen, was ihn zu amüsieren schien.

»Wird bestimmt lustig, du hast ja alles schon gut durchgeplant.«

Seine Wangen färbten sich rot und er versuchte, seine Verlegenheit mit einem gezielten Boxhieb gegen meine Schulter zu überspielen. Autsch.

Wir unterhielten uns noch weiter über Organisation, Musik und Arbeitsaufteilung, bis ich beim Läuten der Schulglocke zusammenfuhr.

»Wieviel Uhr ist es?«

»Ähm, 12:30 Uhr«

»Jan wollte die Mittagspause mit mir verbringen«, rief ich erschrocken aus und sprang auf. Dabei stolperte ich fast über einen kleinen Hocker, der sich mir mit voller Absicht in den Weg gestellt haben musste.

»Huch!« Ich richtete meinen Pullover und winkte Pablo und den anderen zum Abschied. »Bis morgen dann.«

Ich lief hinaus und sprintete die Straße entlang. Jan und ich hatten ein kleines Stammlokal, in dem es einfache Snacks gab. Außerdem lag es in Fußnähe zu meiner Schule. Der perfekte Treffpunkt. In den letzten Monaten hatten wir uns immer mal wieder hier verabredet. Kurz bevor ich bei dem Lokal ankam, vibrierte jedoch mein Handy und brachte meinen Laufschritt aus dem Takt. Ich blieb stehen und kramte mein Smartphone aus der Hosentasche.

Eine SMS von Jan.

Och nein, nicht schon wieder.

»Ich schaffe es nicht. Tut mir wirklich leid! Ich mach‘s wieder gut.«

Ich plusterte die Backen auf und zog eine beleidigte Schnute. Bullshit!

Ich antwortete nicht. Das wäre definitiv nicht der richtige Zeitpunkt. Ich war gerade wirklich sauer. Und in dem Zustand eine SMS zu schreiben, war alles andere als klug. Ohne mindestens ein Schimpfwort würde ich nicht auskommen.

Ich ging geknickt weiter in Richtung meiner Wohnung. Sollte ich mir irgendwo was zu essen besorgen? Ein Sandwich oder einen Burger zum Mitnehmen? Eigentlich hatte ich gar keinen Hunger mehr. Verdammt. Immer wenn Jan eine Verabredung absagte oder mal wieder durcharbeiten musste, war meine Laune im Keller. Ich fühlte mich gleich vernachlässigt und einsam.

Ich war doch schon immer alleine gewesen. Meinen Vater hatte ich nie kennenlernen dürfen und meine Mutter hatte weder Zeit noch Nerven für mich gehabt. Die Drogen hatten sie vollkommen vereinnahmt. Geld beschaffen, Heroin und Crack kaufen, rauchen, spritzen, im Rausch dahinvegetieren. Das war ihr Leben gewesen. Sämtliche Versuche, von den Drogen wegzukommen, waren gescheitert. Und im Endeffekt hatten sie sie getötet.

Einsamkeit war mir nicht fremd. Ich hatte zwar immer Menschen um mich herum, aber ich gehörte nie so recht dazu. Erst seit ich Jan und seine Familie kannte, hatte sich das geändert. Es war wohl wirklich so, dass man nichts vermissen konnte, was man vorher nicht gehabt hatte.

Jetzt, wo ich erahnen konnte, wie es war, eine Familie zu haben, eine richtige Familie, in der man füreinander da war, mochte ich nie wieder ohne sein.

Etwas berührte mich an der Schulter und kam schnaufend neben mir zum Stehen. Pablo bemühte sich, Luft zu holen, und stützte sich außer Atem auf seinen Knien ab.

»Pablo? Was machst du denn hier?«

»Ich … hab dich … von weitem gesehen und …«

»Du hättest doch rufen können.«

»Hab ich ja …« Er erhob sich und fuhr sich mit dem Handrücken über die verschwitzte Stirn. »Aber du hast mich nicht gehört.«

»Oh, sorry. Ich war wohl in Gedanken.«

Erstaunlich.

»Was ist denn mit deinem Date? Wolltest du dich nicht mit deinem Freund treffen?«, fragte Pablo ein wenig zu neugierig.

»Wurde versetzt«, gab ich eingeschnappt zurück und lief weiter. Pablo folgte mir mit einem mitleidigen Gesichtsausdruck.

»Und nun?«

»Was, und nun? Jetzt geh ich heim und bin beleidigt.«

Pablo lachte und pikste mir mit dem Zeigefinger gegen den Oberarm. Ziemlich nervig. Aber das war mir noch lieber als die ständige Boxerei. Eigentlich war es mir auch lieber, als alleine Trübsal zu blasen.

»Und was ist, wenn wir noch einen Kaffee trinken würden? Irgendwo hier in einem Café?« Er schaute mich gespannt von der Seite an und kickte dann einen Stein vor sich weg. Ich war skeptisch.

»Ähm, ich sollte wirklich nach Hause gehen«, gab ich leise zurück. Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass es nicht richtig wäre, mit ihm alleine in ein Café zu gehen. War das nicht schon fast so etwas wie eine Verabredung?

»Und einen coffee to go auf dem Nachhauseweg? Ich begleite dich.« Er schaute wieder ganz hoffnungsvoll und ich konnte das nicht so recht nachvollziehen. Ich zuckte mit den Schultern. Gegen einen coffee to go sprach ja nichts.

»Okay.«

Er griff nach meiner Hand und zog mich bis zur nächsten Straßenecke einfach hinter sich her.

»Da hinten ist ein Starbucks. Komm, ich lade dich ein.«

Widerworte hatten bei ihm scheinbar keinen Sinn, wurden anscheinend nicht geduldet. Da ich aber eh immer pleite war, traf sich das eigentlich gut.

Einige Minuten später hatten wir beide einen großen warmen Becher Latte Macchiato in der Hand und liefen nebeneinander die Fußgängerzone entlang.

»Und? Weißt du schon, was du danach machst?«

»Wonach? Nach dem Kaffee?«

»Nach dem Abitur.« Er holte mit der Faust aus und ich wich seinem Hieb geschickt aus. Dann lachten wir beide. Haha, ich hatte dazugelernt.

»Was hat mein Arm dir eigentlich getan? Warum boxt du mich andauernd?« Die Frage war sowas von überfällig.

»So oft ist es auch mal wieder nicht«, antwortete Pablo etwas eingeschüchtert.

»Nicht oft?« Ich zog eine Augenbraue skeptisch in die Höhe. »Ständig!«

»Keine Ahnung. Ist eine doofe Angewohnheit. Ein Tick oder so.« Er rieb sich über die Augen und ich musste wieder lachen. So verlegen kannte ich ihn gar nicht. Fast niedlich.

Wir liefen einige Sekunden schweigend nebeneinander her, bevor er seine Frage wiederholte.

»Was sind denn nun deine Pläne nach dem Abi?«

»Ach so. Ja, ich habe ein paar Ideen, mich aber noch nicht endgültig entschieden.«

»Zum Beispiel?«

»Na ja, Studium oder Ausbildung. Irgendwas im kreativen Bereich auf jeden Fall. Du?«

»Ich würde gerne Jura studieren, kommt jetzt ganz stark auf den Abischnitt an. Sonst nimmt mich ja keine Uni.« Ich nickte und versuchte, mir Pablo im eleganten Anzug als Anwalt vorzustellen. Seltsam. »Und dein Freund? Zieht ihr dann zusammen?«

»Ich weiß nicht. Darüber haben wir noch nicht gesprochen. Vielleicht.« Pablo schwieg und ich nippte an meinem Kaffee.

»Aber es läuft alles gut so zwischen euch, oder?«

Ich schnaufte etwas genervt und verdrehte die Augen.

»Ja, alles gut. Stress gibt’s doch immer in einer Beziehung und, na ja, momentan ist es gelinde gesagt etwas schwierig.«

»Warum denn?«

»Er arbeitet viel und ich sollte dafür wohl mehr Verständnis haben.«

Hatte ich ja. Fast immer. Aber manchmal fuchste es mich dann eben doch. Vor allem, wenn wir uns verabredet hatten und er mich sitzen ließ. Wenn ich mich auf etwas freute. Auf ihn freute.

»Mmmh ... er vernachlässigt dich?«

»Nein, so ist es nun auch wieder nicht … ach egal. Lass uns über was anderes sprechen.«

»Aber du liebst ihn, oder?«

»Sehr.«

Enttäuschung

 

Endlich Wochenende. Wie hieß noch mal das Gegenteil von Burnout? Boreout. Davon hatte ich tatsächlich mal gelesen und konnte es jetzt voll und ganz nachvollziehen. Aber nun würde ich selbst etwas gegen die Langeweile in der Schule tun. Ich musste dringend für das Abitur lernen. Dringendst sogar!

Zwar hatte ich mir schon einiges eingeprägt und Dinge wie den Zitronensäurezyklus für Biologie waren mir eh in Fleisch und Blut übergegangen, aber kurz vor der ersten Abi-Klausur am Dienstag musste ich vor allem einiges in mein Kurzzeitgedächtnis pressen. Da kam es mir fast gelegen, dass sich Jan das ganze Wochenende geschäftlich irgendwo bei Hamburg rumtrieb. Er hatte sich vorhin kurz gemeldet, musste dann aber schnell zu einem Termin mit seiner Kollegin. Dieser Fernanda. Ob ich eifersüchtig war? Ein wenig vielleicht. Aber nur aus dem Grund, weil sie momentan mehr Zeit mit Jan verbringen durfte als ich. Und das war schlicht und einfach unfair.

Aber egal. Es gab jetzt Wichtigeres, zum Beispiel die Corioliskraft und die Passatwinde.

Gut drei Stunden quälte ich mich durch meine Erdkundeaufzeichnungen, bevor ich resignierend meinen Ordner und den Atlas zuschlug und mich gähnend nach hinten durchstreckte. Mein Nacken knackte laut. Verdammt. Ich war komplett verspannt und todmüde. Der Blick auf die Uhr über meinem Bett war überraschend. Erst kurz nach zehn. Eigentlich viel zu früh, um an einem Samstag schon schlafen zu gehen. Andererseits … Wer hatte diese Regel denn bitte aufgestellt?

Nach einer schnellen Katzenwäsche kuschelte ich mich in meine weiche Lieblingsdecke und schaltete den Fernseher ein. Ich blieb bei irgendeiner Comedysendung hängen, die mich langsam, aber sicher in den Schlaf lullte.

Plötzlich schreckte ich auf, als das Handy neben meinem Kopfkissen wild zu vibrieren begann. Meine müden Augen brannten und so blinzelte ich verwirrt in das flackernde Licht des Fernsehapparats. Wie lange hatte ich geschlafen? Minuten? Stunden? Ich griff nach dem brummenden Teil neben mir und erblickte Jans Gesicht, das mir entgegenlächelte. Ein Selfie, das er von sich selbst geschossen hatte, als ich mein Handy kurz ohne Aufsicht bei ihm hatte liegen lassen. Ehe ich mich versah, zierte sein Gesicht meinen Bildschirmschoner, es war mein Hintergrundbild und es grinste mir bei jedem seiner Anrufe entgegen. Zu süß!

»Hey Jan.«

»Süße, hab ich dich geweckt?«

»Fast, hab nur gedöst, glaub ich.«

»Alles okay bei dir?« Er hörte sich besorgt und mindestens so müde an wie ich.

»Ich vermisse dich, aber ansonsten ist alles okay.«

»Es wird besser, glaub mir!«

»Mmmh«, gab ich wenig zuversichtlich zurück.

»Wirklich. Momentan läuft es blöd, aber es kommt auch alles auf einmal. Ich betreue vier Projekte. Alle gleichzeitig. Aber das geht vorbei. Dann wird alles einfacher.«

»Okay.«

»Sei nicht traurig.«

»Okay.«

»Du hörst dich aber traurig an.« Er hatte eben seine Nora-Antennen. Er kannte mich zu lange und viel zu gut. Ich konnte nichts vor ihm verbergen.

»Ich bin nur müde, Jan.«

Es war kurz ruhig in der Leitung. Ich lauschte seinen Atemzügen und wünschte mir, er wäre hier und würde sich an mich schmiegen und seine muskulösen Arme um mich legen. Mir einen Kuss auf die Schulter hauchen, auf den Hals, hinter mein Ohr … Wenn ich die Augen schloss, konnte ich es mir vorstellen. Fast schon spüren.

»Jan?«

»Ja?«

»Wann sehen wir uns?«

»Morgen Abend, okay? Ich komme zu dir.«

»Ich freue mich«, flüsterte ich sehnsuchtsvoll.

»Ich mich auch, Nora, ich liebe dich.« Seine Stimme war weich und warm. Wie meine Lieblingsdecke umhüllte sie mich.

»Ich liebe dich auch.«

Den Sonntag hatte ich damit verbracht, mir noch etwas Genetik in den Kopf zu prügeln. Nun fühlte ich mich, als wäre ich in eine Schlägerei verwickelt worden. Matschig und fertig mit den Nerven. Genetik war schrecklich und ich versuchte, so viel wie möglich stupide auswendig zu lernen. Kurz nach 17 Uhr ließ ich Biologie für heute Biologie sein und entschloss mich, zu kochen. Jans Lieblingsessen. Das hatte ich mir vorgenommen. Ich wollte, dass der heutige Abend perfekt wurde. Also schaltete ich in der Küche das Radio an und begann, Schnitzel zu panieren und anzubraten. Dabei tanzte ich zwischen Herd, Kühlschrank und Esstisch hin und her und summte die Lieder mit, die der Radiosender so spielte. Viele Popsongs aus den Charts. Ich erkannte einen Song von Sia und einen von Maroon 5. Neben den Schnitzeln briet ich in einer anderen Pfanne Speck, Zwiebeln und Bratkartoffeln an. Okay, Schnitzel mit Bratkartoffeln war ein simples und bescheidenes Gericht, aber Jan liebte es. Also war es gut und selbst ich konnte es ohne viele hausfrauliche Talente zubereiten.

Die Nachrichten im Radio berichteten von irgendwelchen Wahlen in Sachsen, einem Lokführerstreik, dem Tod eines berühmten Schauspielers, den ich jedoch nicht kannte, und von weiteren Unruhen in Syrien. Der anschließende Wetterbericht versprach Sonnenschein. Schade eigentlich. Ich würde die nächsten Tage in meiner Wohnung mit Lernen verbringen müssen. Das fiel allerdings um einiges leichter, wenn das Wetter weniger einladend war und man das Haus eh nicht verlassen wollte.

Gerade als ich eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank holte und zwei Weingläser auf den Tisch stellte, hörte ich den Schlüssel in der Tür. Den Schlüssel zu meiner Wohnung hatte ich Jan letztes Weihnachten geschenkt. Und es erfüllte mein Herz jedes Mal mit so viel Glückseligkeit, wenn er meine Wohnung betrat, ganz so, als wäre er hier zu Hause. Und das wollte ich sein. Ich wollte sein Zuhause sein. So wie er meines war.

Jan kam lässig in die Küche gelaufen und strahlte mich an.

»Schnitzel!«

»Eigentlich Nora, aber du darfst mich auch gerne Schnitzel nennen.« Er lachte und umarmte mich.

»Ich habe dich vermisst.«

»Jetzt bist du ja hier. Es gibt dein Lieblingsessen und ich hab einen Film ausgeliehen. Heute machen wir uns einen schönen Abend, ja?«

Er küsste mich zur Bestätigung und hob mich auf die Arbeitsfläche der Küche. Schnell wurden seine Küsse ungestümer und seine Berührungen mutiger. Seine Hände hatten die Gabe, mich innerhalb von Sekunden schier um den Verstand zu bringen.

»Hey «, protestierte ich atemlos und wenig überzeugend. »Das Essen wird kalt.«

»Was ist, wenn ich erst das Dessert möchte«, raunte er mir ins Ohr und küsste danach eine feine Linie von meinem Ohrläppchen beginnend meinen Hals hinab.

»Nix da. Ich koche doch hier nicht stundenlang und dann wird alles kalt.« Ich zog ihn leicht an den Haaren von mir weg und küsste ihn noch einmal abschließend auf die Lippen.

»Jetzt wird erst mal gegessen. Dann hast du auch genügend Energie für die Nacht.« Ich zog anzüglich eine Augenbraue in die Höhe und Jan verstand. Seine Augen leuchteten und sein Gesicht zierte ein unanständiges Grinsen.

Ich goss uns beiden Wein ein. Jan aß mit viel Hunger und lobte meine Kochkunst ungemein. Auch mir schmeckte es sehr und ich schwor mir, öfter für Jan zu kochen. Meistens war er es, der die gemeinsamen Abendessen zubereitete. Er konnte das auch einfach besser, musste ich neidlos zugeben. Aber eigentlich machte es mir Spaß, ihm eine Freude zu bereiten und ein wenig unter die Arme zu greifen. Er hatte ja wirklich genug Stress.

Plötzlich klopfte sich Jan hektisch mit der Faust auf die Brust und räusperte sich. Der Grund blieb mir erst verborgen. Doch dann kramte er sein Handy aus der Hosentasche und schaute genervt auf das Display.

»Verdammt! Ich muss da kurz dran gehen.«

Ich nickte. Er gab mir noch einen schnellen Kuss auf die Wange und verschwand dann mit Handy und einem bedrückten Gesichtsausdruck ins Schlafzimmer. Mich ließ er am Esstisch zurück. Ich starrte auf seinen Teller, der noch zur Hälfte gefüllt war. Jetzt würde sein Essen kalt werden. Er hätte doch weiter essen können. Warum musste er denn gleich den Raum wechseln? Ich würde ihn bei seinem Telefonat schon nicht stören. Oder ging es gar nicht darum?

Verheimlichte er mir etwas?

Als er zurückkam, wirkte er gestresst und fuhr sich gehetzt mit den Fingern durchs Haar. Einige Strähnen fielen ihm daraufhin chaotisch in die Stirn.

»Nora, ich muss noch mal kurz weg.«

Ich schaute ihn mit großen Augen an und sagte nichts.

»Es ist ... ach ...« Er stöhnte und holte bereits seine Jacke aus dem Flur. »Meine Arbeitskollegin. Sie muss morgen zu einem wichtigen Termin und braucht noch ein paar Unterlagen. Sie findet sie nicht und ich habe sie, glaube ich, noch bei mir im Büro. Aber dafür habe nur ich den Schlüssel. Deshalb ...«

Er brach ab, als er meinen Gesichtsausdruck sah. Keine Ahnung, wie ich ihn anschaute, aber garantiert nicht begeistert. Ich war enttäuscht, genervt und traurig. Ich war wirklich sehr traurig. Aber auch Jan sah nicht wirklich glücklich aus.

»Nora, ich ...«

»Ist schon okay. Spar‘s dir! Ist doch eh immer das Gleiche ...«

Für heute hatte ich genug.

Der Abend war gelaufen.

Ich wollte nichts mehr hören.

Die Andere

Ich schreckte auf. War ich gerade tatsächlich über meinen Aufzeichnungen zum Thema Ökologie eingeschlafen? Hektisch kramte ich auf meinem Tisch nach meinem Handy. Meine verschlafenen Augen tränten und ich stieß mit der Hand gegen meine Tasse. Der kalte Tee verteilte sich gleichmäßig innerhalb von Sekunden über meinen Notizen.

»Fuck!« Ich schob alles auf einen Stapel und rettete mein Smartphone, das schon die ganze Zeit wie wild vibrierte.

»Ja?«, brummte ich sauer in den Hörer.

»Nora? Was ist denn los?« Es war Sebastian und er hörte sich mehr als besorgt an.

»Hi Sebastian, mir ist nur gerade was umgekippt. Was gibt‘s?«

»Mensch, du bist ja anscheinend ganz schön mies drauf.«

Frag doch mal deinen ach so beschäftigten Bruder, warum, dachte ich mir, hielt aber meinen Mund.

»Ich schreibe in den nächsten Tagen sämtliche Abiturarbeiten. Wie soll ich schon drauf sein?«

»Als müsstest du dir deshalb groß Gedanken machen. Hast das doch eh schon so gut wie in der Tasche.« Wenn er meinte ... Ich war mir da nicht so sicher. »Komm schon, Nora, du musst entspannen, sonst wird das morgen nie was. Lass uns doch auf einen Cocktail treffen?«

»Sebastian, ich werde garantiert nicht kurz vor einer Klausur Cocktails mit dir trinken gehen.«

»Wer sprach denn von Cocktails? Ich habe lediglich von einem gesprochen.«

»Als wäre es jemals bei einem geblieben. Und selbst wenn, ich werde trotzdem nicht mit dir in eine Bar gehen, wenn von den nächsten Tagen meine Zukunft abhängt.«

»Dann komm her zu mir. Ich mach dir einfach hier einen Cocktail. Mama hat Bolognese gemacht. Ist eh viel zu viel. Ich glaube, sie kocht immer noch für vier Personen. Also komm her. Zu Abend essen musst du doch eh.«

Er hatte mich fast.

»Mensch, Sebastian, ich muss echt pauken.«

»Ach komm schon, was du jetzt nicht im Kopf hast, bekommst du in den nächsten Stunden auch nicht mehr rein.«

Ich seufzte resignierend und Sebastian spürte wohl, dass ich in meiner Meinung wankte.

»Noraaaa, Süße, komm schoooon.«

»Okay. Ich bin gleich da.«

»Yippie. Bis gleich!«

Daraufhin legte er sofort und ohne sich zu verabschieden auf. Wahrscheinlich befürchtete er, dass ich es mir ansonsten doch noch anders überlegen könnte. Gib der Alten ja keine Chance, noch mal über alles nachzudenken. Geniale Strategie.

Aber eigentlich hatte er ja auch recht. Ob ich nun über meinen Notizen schlafen oder einfach bei ihm ein paar Nudeln essen würde, machte dann wohl auch keinen großen Unterschied. Ich hatte wirklich genug geackert und jetzt etwas Entspannung verdient. Und dann würde ich heute Abend früh ins Bett gehen und in den nächsten Tagen eine super Leistung abliefern.

Tschakka. Das waren doch mal ein Vorsatz und ein erfolgversprechender Plan.

Keine halbe Stunde später klingelte ich an der Haustür. Mittlerweile war es schon nach 19 Uhr und demnach stockdunkel. Wann würden die Tage endlich wieder länger werden? Da wurde man ja depressiv. Sebastian öffnete die Tür und nahm mich sogleich ungestüm in die Arme.

»Schön, dass du da bist.«

»Als hätte ich eine Wahl gehabt ...«

Sebastian lachte und zog mich in den warmen Flur hinein. »Komm, hab alles schon gerichtet und vorbereitet.« Er war ziemlich euphorisch und freute sich so offensichtlich, mich zu sehen, dass es ansteckend war. Ich musste einfach lachen und schloss ihn noch mal in meine Arme.

 

»Danke, dass du mich aus der Wohnung geholt hast. Ich glaube, das war eine gute Idee.«

»War es mit Sicherheit. War ja auch meine.« Er grinste wie ein Honigkuchenpferd und reichte mir ein großes Glas mit Strohhalm und Schirmchen. »Hier, dein Caipi, und jetzt setz dich. Ich hol das Essen.«

Biancas Essen war immer lecker. Richtige Hausmannskost vom Feinsten. Immer deftig, immer reichlich. Und noch besser schmeckte es natürlich mit meinem besten Freund zusammen. Nur einer fehlte zu meinem Glück. Aber der musste wohl immer noch arbeiten. Zum Verrücktwerden.

Als Sebastian gerade Limetten für einen zweiten Caipi stampfte, hörte ich die Eingangstür ins Schloss fallen und Schritte im Flur. Jan war angekommen, betrat den Flur und zog sich erschöpft die Schuhe aus. Er fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und hing dann seine Jacke an die Garderobe. Er hatte mich noch nicht mal bemerkt.

»Hey Jan, deine Freundin ist da«, rief Sebastian und ich sah Jan zusammenfahren.

»Nora?«

»Hast du noch eine andere Freundin?«, gab Sebastian etwas genervt zurück. Jan kam in die Küche gelaufen und lächelte schüchtern.

»Hey, schön dich zu sehen.« Er beugte sich nach vorne und küsste mich zur Begrüßung.

»Wenn ich dir nicht hinterherrenne, sehen wir uns ja gar nicht mehr«, sagte ich etwas zickiger als beabsichtigt. Jan verzog das Gesicht wehmütig und ich bemerkte zum ersten Mal, wie verdammt müde und kraftlos er aussah. Fast schon krank. Seine Augen waren rot geädert und tiefe Schatten zeichneten sich unter ihnen ab. Überhaupt wirkte er sehr blass. Vielleicht sollte ich nicht zu streng zu ihm sein. Ein Blinder mit Krückstock konnte erkennen, dass es ihm nicht gut ging. Hoffentlich brütete er nichts aus.

»Ich geh erst mal duschen«, gab Jan in einem resignierten Ton zurück und schlurfte mit kleinen Schritten Richtung Badezimmer. Ich schaute ihm besorgt hinterher.

»Ist bei euch alles okay?« Sebastian sah mich besorgt und mit gerunzelter Stirn an. Plötzlich spürte ich, wie mir Tränen in die Augen schossen. Verdammt, das wollte ich nun wirklich nicht. Sebastian nahm meine Hand und umschloss sie mit seiner.

»Nora?«

»Ist schon okay. Wir sehen uns nur in letzter Zeit nicht so häufig und wenn, dann muss er weg oder ist mit den Gedanken immer bei der Arbeit. Ist momentan alles etwas schwierig.«

»Er hat einen anstrengenden Job, das ist kaum zu übersehen. Aber weiß er, dass es dich so sehr belastet?«

»Ich denke schon. Es häuft sich in letzter Zeit. Ich habe irgendwie Angst. Angst, ihn zu verlieren. Es kommt mir jetzt schon so vor, als wäre da eine Distanz, als würden wir uns immer mehr voneinander entfernen.« Ein Schluchzer entfuhr mir und ich schniefte.

»Das bildest du dir doch garantiert nur ein.«

»Vielleicht ...«

Ein Summen unterbrach unsere Unterhaltung. Beide griffen wir gleichzeitig an unsere Hosentaschen. Wir waren eben die typische digitale Generation. Ich musste widerwillig lachen, weil unsere Reaktion die gleiche war. Doch war es keines unserer Handys, das vibrierte. Ich folgte dem Geräusch, bis ich vor Jans Jacke stand, die er einige Augenblicke zuvor erst ausgezogen hatte. Ohne mir darüber Gedanken zu machen, griff ich in die Innentasche und holte sein Smartphone hervor.

Fernanda M. stand auf dem Display. Dazu ein Bild von einer rassigen Schönheit mit dunklem Teint und schwarzem, gewelltem Haar. Spanierin oder Italienerin. Aber das hätte man sich ja bei dem Namen schon denken können. Ich gab ein Schnauben von mir, das meine Abneigung deutlich wiedergab. Ich war sauer. So unglaublich wütend und wusste gerade nicht so recht, wohin mit diesem Gefühl. Jan war doch eben erst nach Hause gekommen. Musste er denn schon wieder von seiner Arbeitskollegin belästigt werden? Das war doch nicht normal! Jeder Mensch hatte das Recht auf einen Feierabend. Aber Jan konnte man ja anscheinend 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche arbeiten lassen. Das ging nicht. Das ging zu weit! Kurz überlegte ich, das Telefonat anzunehmen und genau das zu sagen. Dann siegte aber doch die Vernunft und ich steckte sein Handy einfach wieder zurück in die Jackentasche. Ich würde mich doch nur lächerlich machen. Damit musste er schon selbst klarkommen.

Ich ging zurück zu Sebastian und griff nach meiner Tasche.

»Ich sollte so langsam heimgehen. Morgen wird‘s ernst.«

»Willst du nicht noch kurz warten? Jan kommt doch gleich aus der Dusche.«

»Wer weiß, wie lange das noch dauert, und ich muss heute echt früh ins Bett.«

»Okay ...« Sebastian schaute mich besorgt an und glaubte mir meine Ausrede natürlich nicht. Das war jetzt aber auch egal.

»Drück mir morgen die Daumen, ja?«

»Mach ich, ist doch klar.«

Sebastian umarmte mich und streichelte mir beruhigend über den Rücken.

»Alles wird gut. Wart‘s nur ab.«

Ich nickte, wenn auch wenig überzeugt, und öffnete die Tür. Ich erstarrte sofort.

Beinahe wäre ich in jemanden reingerannt.

Ich trat einen Schritt zurück, um die Person zu betrachten, die direkt vor der Tür stand und sich anscheinend genauso erschrocken hatte wie ich. Denn ihre Hand lag dort, wo man ein heftig schlagendes Herz vermuten würde, und ihr gehetzter Blick sprach Bände.

»Huch«, kam es von mir und ich musterte die Gestalt etwas genauer.

Das war Fernanda.

Mit 150-prozentiger Sicherheit.

»Nora?«, fragte jemand hinter mir und plötzlich standen nicht nur Sebastian und ich dieser Frau gegenüber. Auch Jan, der zu allem Übel nur eine Jogginghose trug und somit oberkörperfrei war, leistete uns Gesellschaft. Seine feuchten Haare komplettierten dieses Bild und machten es perfekt. Na toll! So sollte sie ihn definitiv nie sehen. Dieser Anblick war für mich reserviert!

Jan schien etwas peinlich berührt zu sein und verschränkte die Arme vor der Brust, um wenigstens ein bisschen seine Blöße zu bedecken.

Zu spät, mein Lieber.

Der leichte Rotschimmer auf Fernandas Wangen war kaum zu übersehen. Und es machte sie leider noch hübscher. Wo war ich hier eigentlich gelandet? Ich kam mir sowas von fehl am Platze vor.

»Fernanda, was treibst du denn hier?« Jan brach als Erster das Schweigen. Sebastian griff in dem Moment nach meiner Hand. Keine Ahnung, warum. Es war eine Angewohnheit von ihm. Immer, wenn etwas drohte, ihm oder mir über den Kopf zu wachsen, hielt er meine Hand. Im Augenblick war ich ihm sehr dankbar dafür. Ahnte er etwas?

»Ich war ... ähm« Sie warf ihr langes Haar nach hinten und versuchte wohl, sich zu sammeln. »Ich wollte dir nur die Papiere und Verträge für den Termin vorbeibringen. Damit du dich vorbereiten kannst.«

»Dafür wäre doch morgen noch Zeit gewesen«, gab Jan zurück und griff nach dem Ordner.

»Ich geh dann mal«, sagte ich daraufhin leise und löste mich von Sebastian. Meine Anwesenheit war hier ja nicht länger gefragt oder erwünscht.

»Nora, warte, ich ...« Jan versuchte, nach meiner Hand zu greifen, aber ich entzog sie ihm. Ich war nicht in der Stimmung.

»Ach, du bist Nora«, wandte nun Fernanda das Wort an mich. »Schön, dass ich dich auch mal kennenlerne. Ich habe schon viel von dir gehört.« Sie reichte mir ihre manikürte Hand und ich ergriff sie zögerlich. Mehr aus Reflex. Sollte ich etwas sagen?

»Ähm, ja.« Mann, war ich heute wieder schlagfertig! Fernanda lächelte und zeigte dabei eine Reihe weißer, perfekter Zähne. Am liebsten hätte ich mit den Augen gerollt. Das wäre aber wohl nicht angebracht gewesen. Also drehte ich mich um und umarmte Sebastian schnell zum Abschied. Seine Augen musterten mich besorgt. Ich mied seinen Blick. Jan bekam einen eiligen Kuss. Dann nahm ich meine Beine in die Hand und sprintete los. Ich musste einfach rennen. Wollte weg, so schnell es ging. Weg von der ganzen verzwickten Situation, von ihm, von ihr. Ich konnte mir nicht mal erklären, warum oder woher dieser plötzliche Drang kam. Es war wie eine Art Fluchtreflex. Ich war so überfordert, dass ich nicht wusste, wie ich sonst damit umgehen sollte. Also rannte ich, bis ich zu Hause war.

Vor meiner Haustür angekommen, schnappte ich hektisch nach Luft und mein Kreislauf war kurz davor, den Geist aufzugeben. Meine Lunge brannte, die Kehle war ausgedörrt und meine Augen tränten.