Geballte Ladung Liebe - Katharina Wolf Sammelband

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Zu Hause

Ich war so unglaublich hilfsbedürftig und kam mir vor wie ein kleines Kind. Mit einem gebrochenen Bein konnte man so gut wie nichts alleine tun. Ich humpelte wie ein Zombie mit zwei Krücken klackernd durch die Wohnung. An Duschen war gar nicht erst zu denken und beim Baden legte ich mein eingegipstes Bein auf den Badewannenrand und gab mein Bestes, nicht zu ertrinken. Aber das Schlimmste war: Es juckte. Es juckte erbärmlich!

»Nora, das ist eklig.« Seine Abneigung betonte Sebastian mit jeder Silbe. Er sollte mal nicht so übertreiben. Nur weil ich versuchte, mich mit der Gabel unter meinem Gips zu kratzen. Hier am Essenstisch lag nun mal nichts anderes in greifbarer Nähe, das mich als Kratzhilfe unterstützen könnte.

Seit einigen Minuten - gefühlten Stunden – gingen wir gemeinsam die komplette Hochzeitsplanung noch einmal durch.

Jan schnarchte hinter uns auf dem Sofa und bekam nichts von Sebastians angehender Panik mit. Hiro gab alles, um ihn zu beruhigen, aber es war hoffnungslos. Es waren nur noch wenige Tage bis zu ihrem großen Tag. Dem Tag, den Sebastian sich so perfekt vorstellte, dass er niemals an seine Vorstellungen herankommen können würde.

Wieder und wieder sortierte, kontrollierte und hinterfragte er sämtliche Verträge und Dokumente. Blumen, Catering, Auto, Band, Fotograf ... Ich hatte bereits auf Durchzug geschaltet.

»Bestimmt haben wir etwas Wichtiges vergessen. Irgendetwas ganz Essenzielles. Wie, wenn man Stunden den Koffer für den Urlaub packt und am Ende keine Socken dabei hat.« Sebastian raufte sich die Haare und seufze theatralisch. Jan schmatzte daraufhin hinter mir und wälzte sich auf dem Sofa einmal von der linken auf die rechte Seite. Eines der Kissen landete auf dem Boden.

»Quatsch.« Hiro streichelte Sebastian über den Rücken. »Nichts war je so gut geplant. Nicht mal die Mondlandung.«

»Na ja, ein kleines, ganz klitzekleines Problem könnte es eventuell geben ...«, wisperte ich und legte meine Stirn sorgenvoll in Falten. Sebastians Augen weiteten sich und er starrte mich entsetzt an.

»Was?« Er schien kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen.

»Na ja, deine Trauzeugin wird wohl in Jogginghose und mit nur einem Schuh ihre Unterschrift leisten müssen. Ich hoffe, das stört dich nicht weiter.« Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Sieht eventuell etwas seltsam auf den Hochzeitsfotos aus, aber ich dachte da an eine Federboa und an einen krassen neonfarbenen Hut im Royal-Style, um den Rest zu kaschieren.« Hiro grunzte vor Lachen und sogar Sebastian schien lange nicht so geschockt, wie ich es erwartet hatte.

»Als hätte ich je damit gerechnet, dass du ein elegantes Kleid in deiner Garderobe finden würdest ...«

»Ich wollte mir echt noch eins kaufen, aber dann kam das dazwischen.« Ich zeigte unnötigerweise auf meinen Gips, der nicht nur plump aussah, sondern mittlerweile auch mit zahlreichen, eher unschönen, Zeichnungen verziert war. Hauptsächlich von Hiro der regelmäßig mit mir auf meinem Bein Tic-Tac-Toe spielte. Von wem der gigantische Penis mit Zylinder und Schnurrbart stammte, wusste ich nicht. Den musste wohl jemand geschaffen haben, während ich geschlafen hatte.

»Ich kümmere mich um dein Outfit ... wie immer.« Er zwinkerte mir zu und verstärkte damit mein ungutes Gefühl in der Magengegend.

»Jan, du hilfst, oder?«, rief Sebastian in Richtung Wohnzimmer.

»Klar«, kam es leise zurück.

Ich wandte meinen Blick zu Jan, der in Pyjamahose und oberkörperfrei auf dem Sofa hockte. Die Decke war inzwischen auf den Boden gerutscht. Da saß er, müde im Schneidersitz und fuhr sich mit den Fingern durch das zerzauste Haar. Als er einen Schluck Mineralwasser direkt aus der Flasche trank, fiel mir auf, wie muskulös seine Oberarme waren. War er damals auch schon durchtrainiert gewesen? Ich erwischte mich dabei, wie ich ihn anstarrte, und blickte beschämt und mit rasendem Puls wieder geradeaus.

»Okay, Bruderherz, zieh dich an, wir gehen shoppen!«

Jan gab keine Widerworte, streckte sich noch mal genüsslich, gähnte und stand auf. Neben der Couch lag seine Sporttasche, die momentan die Rolle eines Kleiderschrankes übernommen hatte. Er kramte in ihr nach einer Jeans und einem Pullover. Dann drehte er sich in unsere Richtung und ich schaute weg.

Ich hatte nur einen kurzen Blick auf seine Bauchmuskeln und die weichen Härchen um seinen Bauchnabel erhaschen können, doch das hatte schon genügt. Ich kam mir vor wie ein Stalker und merkte, wie meine Ohren heiß wurden. Oh Gott, nein, ich wurde rot! Wie peinlich! Und mit dem Gips am Bein konnte ich nicht mal schnell vor Scham das Weite suchen.

Ich musterte die Maserung des Tischs vor mir und versuchte, meinen Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ich war so eine Idiotin. Ich war die Königin aller Idiotinnen! Warum reagierte ich so auf ihn? Warum konnte ich das einfach nicht abschalten? Ich war doch kein Teenie mehr.

»Hiro, du bleibst hier bei Nora, okay?

»Klar, bin gerne der Babysitter.«

Ich schaute ihn böse an und er lachte auf eine fiese Art und Weise.

»Du kannst ruhig auch mitgehen. Ich brauche keinen Aufpasser.«

»Klar brauchst du einen«, gab Sebastian bissig zurück. »Schau dich doch mal an!« Ich zog einen Schmollmund und schaute ihn böse an.

»Ich bin 24 Jahre alt!«

»Ja, und ziehst dir direkt ‚ne Line Crack rein, sobald du alleine bist.« Er zeigte mit dem Finger drohend auf mich.

»Alter, Sebastian ... Krieg dich wieder ein. Erstens zieht man sich Crack nicht rein. Crack raucht man! Und zweitens hab ich nichts da. In meinem Zustand werde ich mir schlecht was besorgen können und von ‚nem Lieferdienst weiß ich noch nichts. Also keine Panik!«

Sebastian schnaubte einmal verächtlich als Antwort und ging dann mit stampfenden Schritten Richtung Schlafzimmer. Dort knallte er die Tür so laut zu, dass der Kalender im Flur von der Wand fiel und wir alle vor Schreck zusammenzuckten. Ein unangenehmes Schweigen breitete sich in der Küche aus und ich schaute beschämt auf den Tisch. Einige Minuten später kam er wieder zurück und rief Jan zornig zu sich. Es erinnerte mich ein wenig daran, wie ein Herrchen seinen Hund zum Gassi gehen rufen würde. Beide zogen sich dick an und verließen die Wohnung, ohne sich zu verabschieden. Dafür verzichtete Sebastian nicht darauf, die Wohnungstür noch einmal ordentlich ins Schloss fallen zu lassen. Ich zuckte zusammen und atmete dann erleichtert aus. Ich blickte zu Hiro, der mir immer noch gegenüber saß.

»Sorry, ich wollte nicht ...«

»Mach dir nichts draus. Er ist eigentlich nicht sauer. Er ist nur krank vor Sorge. Verständlich, oder?«

Ich zuckte mit den Achseln. Sebastian übertrieb maßlos. Er verhielt sich wie eine Glucke.

»Na ja, jetzt haben wir zumindest erst mal ein paar Stunden Ruhe«, sagte Hiro erleichtert und lehnte sich zufrieden auf seinem Stuhl zurück.

»Wir?« Ich zog die Augenbrauen spöttisch in die Höhe. »Wie redest du bitteschön von deinem Zukünftigen?«

»Ich bin froh, wenn die Hochzeit vorbei ist. Der Stress tut ihm nicht gut und mir im Übrigen auch nicht.«

»Er kann ziemlich zickig sein, stimmt‘s?« Ich schmunzelte, immerhin kannte ich Sebastian schon recht lange und gut.

»Kann er! Ist er aber nur, wenn er gestresst und schlecht gelaunt ist ... oder wenn seine beste Freundin mit drei vollkommen fremden, zwielichtigen Gestalten, die zudem alle unter Drogeneinfluss stehen, in einen Verkehrsunfall verwickelt wird.«

»Ist ja gut, ich habe den Wink verstanden.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und schaute aus dem Fenster. Ich hasste es, ein schlechtes Gewissen zu haben.

»Kommst du klar damit, dass Jan hier ist?« Der Themenwechsel kam zu plötzlich und verwirrte mich.

»Ja, passt schon. Geht halt nicht anders.«

»Er ist wieder Single.«

»Toll ...«

Hiro musterte mich kritisch und ich hielt seinem Blick stand. Wollte er mich einschüchtern?

»Ist gestern etwas zwischen euch vorgefallen?«

»Wie kommst du darauf?«, fragte ich tonlos und so gleichgültig, wie mir möglich war.

»Jan war etwas nervös und seltsam heute Morgen und außerdem starrt er dich an. Selbstverständlich nur, wenn du nicht hinsiehst.« Meine Reaktion auf diesen Satz entging Hiro natürlich nicht. Ich lief rot an und mein verzweifelter Gesichtsausdruck sprach vermutlich Bände. Natürlich ließ mich das Ganze nicht kalt. Jans Anwesenheit, seine Blicke, der Kuss gestern ...

»Meinst du, das mit euch, na ja, meinst du, ihr habt noch eine Chance?«

»Ich glaube, der Zug ist abgefahren.« Ich sprach leise und konnte die Traurigkeit in meiner Stimme nicht verbergen. Ich spürte, wie mein Kinn anfing zu beben. Ach Mann, bitte nicht. Ich wollte jetzt nicht heulen!

»Wie kommst du darauf? Also warum denkst du, dass das mit euch nichts mehr werden kann?«

»Es ist zu viel passiert, es ist alles so lange her.«

»Aber hebt das eine nicht das andere auf?« Hiro lachte. Er hatte gut reden. Es ging schließlich auch nicht um sein verkorkstes Leben. »Man könnte auch sagen, dass es schon so lange her ist, dass Gras über alles gewachsen sein müsste. Ein Neuanfang. Ganz einfach.«

»Ganz einfach?«

»Ja.«

»Nein, Hiro, es ist eben nicht so einfach. Ich bin ein anderer Mensch. Die Trennung, die Zeit danach. Das alles hat mich verändert. Ich bin nicht mehr die Nora von früher. Das wird Jan auch schon festgestellt haben.«

»Er ist garantiert auch nicht mehr der Jan von früher. Jeder verändert sich. Das Leben geht weiter und man schreitet voran.« Ich schüttelte den Kopf.

 

»Er ist immer noch mein Jan. Es ist erschreckend, wie wenig er sich verändert hat.«

»Dein Jan?« Hiro zog eine Augenbraue skeptisch nach oben. Ich lächelte und zuckte mit den Achseln. Ich wusste, dass er eben nicht mehr mein Jan war, und doch würde er immer mein Jan bleiben. Ein wenig schizophren war das ja schon.

»Früher dachte ich, dass mit uns ist für immer. Dass es niemanden geben wird, der besser zu mir passt, der mir mehr gefallen wird. Und weißt du was? Es stimmt. Er war perfekt. Perfekt für mich. Klar hatten wir auch Probleme und haben uns auch mal gestritten oder so. Aber trotzdem kann ihm einfach niemand das Wasser reichen.«

Hiro sagte nichts dazu. Er nickte nur nachdenklich.

»Kaffee?« Nach einigen Minuten durchbrach er das Schweigen und stand auf.

»Gerne.«

Wir saßen noch lange da und sprachen über Gott und die Welt. Nur der Name Jan fiel nicht mehr.

Irgendwann verlagerten wir unseren gemütlichen Nachmittag auf die Couch. Wir schauten doofe Sendungen auf RTL2 und irgendeine Reality-Show mit dieser Kardashian. Wir lachten viel und ich vergaß den Ärger mit Sebastian schnell. Hiro schaffte es, mich abzulenken. Später öffneten wir eine Flasche Rotwein und aßen dazu Lebkuchen. Eine perfekte Kombination für die Vorweihnachtszeit.

Ich mochte Hiro. Nicht nur, weil er mit meinem besten Freund zusammen war und demnach einen guten Geschmack bewies. Er wusste auch, wann man den Mund zu halten hatte. Das Gespräch vorhin war sehr intim gewesen. Aber er hatte gespürt, dass es mir nah ging, und mich nicht weiter bedrängt. Eine wichtige und sympathische Eigenschaft.

Nach einiger Zeit hörten wir den Schlüssel in der Tür und Sebastian betrat mit Jan im Schlepptau die warme Stube. »Wir haben gleich noch Essen besorgt. Ich mache heute Lasagne«, sagte Sebastian gut gelaunt und ich jubelte daraufhin mit Hiro um die Wette. Sebastian zog skeptisch eine Augenbraue in die Höhe. Er war es nicht gewohnt, mich so gut gelaunt zu sehen. Das war wohl auch der Anlass, warum er genauer betrachtete, was hier in seiner Abwesenheit vor sich gegangen war. Sein Blick blieb an den beiden Weingläsern und der Rotweinflasche auf dem Wohnzimmertisch hängen.

»Mensch Hiroki, muss das sein?«

»Was?« Hiro war sichtlich verwirrt und verstand wohl nicht ganz, wie die Stimmung so schnell kippen konnte.

»Das.« Er ging zum Wohnzimmertisch und nahm die Weinflasche wütend an sich.

»Oh.« In diesem Moment fiel ihm auf, dass die Flasche voller war, als er erwartet hatte.

»Ich habe nicht mal ein halbes Glas getrunken.« Im Gegensatz zu Hiro verstand ich, was Sebastian so wütend machte. Seine kleine depressive, drogenabhängige beste Freundin soll sich ja keine Ersatzdroge anschaffen. Ich war ihm nicht böse wegen seiner Anschuldigung. Ich wusste, dass es war nur Sorge war und keine Boshaftigkeit. Sebastian sah mich an und nickte mir dann kaum merklich zu. Wir hatten uns verstanden. Er stellte die Flasche wieder ab und ging zu Jan in die Küche, der gerade die Einkäufe aus den Tüten und in die Schränke räumte.

»Okay!« Sebastian klatschte in die Hände. »Wer hilft beim Salat-Schnippeln?« Hiro und ich hoben beide wie in der Schule die Hand und prusteten dann gleichzeitig los vor Lachen. Sebastian grinste und die getrübte Stimmung, die einige Augenblicke zuvor noch im Raum spürbar gewesen war, war vergessen.

Hiro und ich wurden dazu verdonnert, Tomaten, Gurken und Zwiebeln für einen Salat in kleine Stücke zu schneiden. Die beiden Brüder schichteten in der Zwischenzeit die Lasagne in eine Auflaufform.

Wir verbrachten einen gemütlichen Abend zusammen. Zu viert bereiteten wir das Essen zu, aßen, tranken und lachten viel. Ich genoss die ausgelassene Stimmung, obwohl sie für mich so ungewohnt war, dass es mir manchmal etwas surreal vorkam. Wie in einem Märchen oder einem Traum. Ich wollte nicht erwachen.

Es war so schön und vertraut, dass es mich schmerzlich daran erinnerte, wie sehr mir in den letzten Jahren eine Familie gefehlt hatte.

Wie sehr mir Jan gefehlt hatte.

Ein Versuch

Wie jede Nacht lag ich wach im Bett und erhoffte mir zumindest ein paar Stunden erholsamen Schlaf. Aber mein Hirn rotierte. Immer. Vor allem im Dunkeln, wenn ich alleine war. Erst recht, seit ich nichts mehr genommen hatte. Es kam mir sogar so vor, als brächen die vielen Gedanken, die ich mit Hilfe von Drogen und Alkohol zu unterdrücken versucht hatte, jetzt alle auf einmal auf mich ein. Konnte mich nicht einfach irgendwer k. o. schlagen, damit ich endlich aufhörte nachzudenken und ein paar Stunden Bewusstlosigkeit erhaschen konnte?

Resignierend lag ich auf dem Rücken, hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und blickte an die Decke. Wenn draußen ein Auto vorbeifuhr, glitten Lichtstreifen an ihr entlang. Zumindest ein wenig Unterhaltung, während ich hier einfach nur dalag und mit Gewalt versuchte, mich zum Schlafen zu zwingen, was natürlich nicht von Erfolg gekrönt war.

Ich zuckte vor Schreck zusammen, als sich aus heiterem Himmel leise die Zimmertür öffnete. Jan streckte den Kopf hinein und schaute sich um. In meinem Zimmer war es jedoch so dunkel, dass er nicht sah, dass ich wach war und ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Was wollte er hier?

Er betrat den Raum und schloss die Tür leise hinter sich. Auf Zehenspitzen tapste er zu mir und setzte sich sachte auf den Rand meines Bettes.

Dort blieb er sitzen. Er bewegte sich nicht und hatte sein Gesicht in den Händen vergraben. Er dachte eindeutig nach. Aber das Wichtigste: Was zum Teufel machte er hier?

Eine Weile betrachtete ich ihn, wie er so mit dem Rücken zu mir saß. Er trug eine karierte Pyjamahose und irgendein dunkles Shirt. Irgendwann fuhr er sich mit einer Hand durch sein Haar und atmete geräuschvoll ein und zitternd aus. Dann erhob er sich und ging wieder zur Tür.

»Was willst du hier?«

Jan erschrak und drehte sich zu mir um.

»Bist du schon die ganze Zeit wach?«

Ich setzte mich auf, rückte wegen meines eingegipsten Beines etwas schwerfällig nach hinten und lehnte mich mit dem Rücken an die Wand.

»Ja, ich schlafe nicht sonderlich viel.«

Er blieb weiter neben meinem Bett stehen und schaute abwechselnd zu mir und zur Tür. Nachdem einige Sekunden verstrichen waren, kam er langsam auf mich zu und setzte sich wieder auf die Matratze.

»Ich weiß nicht, was ich hier tue«, gab er leise zu und stützte seinen Kopf mit der Hand ab. Er wirkte so viel zerbrechlicher, als er eigentlich war. In sich zusammengesunken. Traurig. Ich musterte ihn. Er schien mit sich zu ringen, drehte sein Gesicht dann aber doch mir zu und schaute mich direkt an.

»Was ist das mit uns?«

»Ich weiß nicht, was du meinst.« Ich versuchte, kühl zu bleiben und mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich seine Anwesenheit aus dem Konzept brachte.

Er schnaubte verächtlich und schüttelte den Kopf. Seine Augenbrauen waren zusammengezogen. Ganz so, als hätte er Schmerzen. Auf seiner Stirn konnte ich trotz der Dunkelheit tiefe Falten erkennen.

»Bilde ich es mir nur ein? Ist es denn nur für mich so ... so ...« Er überlegte, suchte nach dem richtigen Wort. »So schwierig? Es ist so verdammt schwer, die ganze Zeit so zu tun, als wäre nichts zwischen uns. Als empfände ich nicht das Geringste für dich.«

Mein Herz schlug so kräftig in meiner Brust, dass es fast schmerzte. Er musste es hören. Meine Wangen glühten und Tränen bahnten sich langsam, aber sicher einen Weg nach draußen.

Was zur Hölle geschah hier?

»Was ist mit dir?« Oh Gott, was erwartete der Irre hier von mir? Ich war kurz vor einem Nervenzusammenbruch! Er kniete sich auf die Matratze und kam mir näher. Er rutschte neben mich und nahm mein Gesicht in seine Hände. Er sah mir tief in die Augen und meine Gefühle konnten ihm einfach nicht verborgen bleiben. Die Sehnsucht. Das Verlangen. Die Liebe. All das musste ihm doch geradezu ins Gesicht springen.

Ohne auf eine Antwort zu warten, beugte er sich langsam vor und küsste mich. Dutzende elektrische Schläge durchfuhren meinen Körper. Mein Blut kochte und ich konnte ein Stöhnen nicht mehr unterdrücken. Ich krallte mich verzweifelt an seinem T-Shirt fest und versuchte, ihn gleichzeitig näher an mich heran zu ziehen und von mir weg zu drücken. Der Kuss wurde immer stürmischer und auch Jan kämpfte mit seiner Selbstbeherrschung. Er keuchte, als hätte er gerade einen Marathon hinter sich, und zog mir kurzerhand mein Shirt über den Kopf. Wir waren nicht mehr zu stoppen. Wir küssten, bissen, kratzten. Es gab so viel nachzuholen. Sein Körper, sein Geruch, das war alles so gut. So unglaublich sexy. Es machte süchtig. Ich wollte mehr. Ich wollte ihn ganz.

Er beugte sich über mich und erst, als ich mich erhob und ihm entgegenkommen wollte, zuckte ich zusammen. Ich hatte mal eben kurz mein gebrochenes Bein vergessen. Verdammt.

»Tut es noch weh?«, fragte Jan atemlos.

»Geht schon«, gab ich leise zurück.

Das erotische Prickeln zwischen uns war vorerst verflogen. Mein Bein war ein echter Stimmungskiller. Jan atmete einmal tief durch, rückte neben mich und lehnte sich gegen die Wand. Wir saßen einfach so nebeneinander und schwiegen. Irgendwann musste ich eingenickt sein. Zumindest spürte ich die ganze Nacht Jans Arme um mich. Zum ersten Mal seit Jahren schlief ich ungestört eine ganze Nacht durch.

»Nora, frühstücken wir zusammen?«

Sebastian stürmte in mein Schlafzimmer und ich brauchte ein paar Sekunden, um mich zu orientieren. Sein freudiger und schon fast teuflisch glücklicher Gesichtsausdruck erklärte sich mir erst einige Augenblicke später. Jan lag hinter mir und hatte einen Arm um mich gelegt und ich trug nur Unterwäsche. Schlagartig fiel mir all das ein, was nur wenigen Stunden zuvor hier passiert war. Ich erstarrte im Gegensatz zu Jan, der wohl nun auch langsam aufwachte und sich hinter mir bewegte. Er rieb sich die Augen und schien genauso verwirrt zu sein wie ich. Reflexartig zog er mich wieder enger an sich. Er grummelte etwas und hatte wohl nicht vor, sich aus dieser bequemen und warmen Lage zu entfernen. Ich entfernte sachte seine Hand von meiner Mitte und stand auf. Nun war er definitiv wach. Er stützte sein Gesicht mit der Hand ab und beobachtete mich, wie ich mir eine kurze Hose, die auf dem Boden neben der Schlafcouch gelegen hatte, mit viel Mühe und Not über den Gips zog. Dann kramte ich einen kuscheligen Wollpullover aus der Kommode und schlüpfte hinein. Sebastian stand weiter mit verschränkten Armen an der Tür und musterte erst mich, dann Jan. Die beiden wechselten einen Blick, den ich weder deuten konnte noch wollte. Nicht, bevor ich einen Kaffee intus hatte.

Ich griff nach meinen Krücken, humpelte an Sebastian vorbei und ignorierte den kritischen Blick und die Hand, die sich kurz auf meine Schulter legte. In der Küche angekommen, setzte ich mich an den Esstisch neben Hiroki, der nicht mal Anstalten machte, den Kopf zu heben. Er musste wohl auch erst mal seinen Koffeinhaushalt auf Vordermann bringen.

»Wo ist Jan?«, fragte Hiro plötzlich und schielte zu mir rüber.

»In meinem Bett.« Hiros linke Augenbraue hob sich skeptisch. Mehr gab es dazu vorerst nicht zu sagen. Was auch? Ich hatte keine Ahnung, was momentan Stand der Dinge war. Mir entwich ein Seufzer. Es half ja alles nichts. Zuerst brauchte ich Koffein. Zum Glück standen Tassen und eine Kanne frisch gebrühter Kaffee schon bereit.

Ich konnte Sebastian mit Jan flüstern hören. Allerdings war jedes Wort zu verstehen, denn Sebastian konnte offensichtlich nicht leise reden.

»Und warum liegst du bei ihr im Bett?«, schrie er nun Jan entgegen. Dessen Antwort entging uns bedauerlicherweise, da er es wohl besser verstand, seine Stimme im Zaum zu halten.

»Habt ihr miteinander geschlafen?«

Ein Brummen als Antwort. Worte konnte ich nicht ausmachen. Nur ein Schnauben von Hiro neben mir, der das Ganze wohl komisch fand.

»Das will ich aber auch für dich hoffen«, drohte Sebastian nun in nicht minder dröhnender Lautstärke.

Einige Sekunden später betraten die beiden die Küche. Sebastian begab sich direkt an den Kühlschrank und holte gekochte Eier, Schinken und Tomaten heraus. Jan setzte sich mir gegenüber an den Tisch und hielt seinen Blick starr auf die Tischplatte gerichtet.

»So, ihr beiden ...« Sebastian legte Brot und Wurst vor mich auf den Tisch und setzte sich dann neben Jan. Sein Blick wanderte zwischen uns beiden erwartungsvoll hin und her. »Was ist das jetzt hier?« Er goss Kaffee in eine Tasse und schob sie Jan zu. Der umfasste sie mit beiden Händen und schaute mich über den Tassenrand hinweg an. Er musterte mich zaghaft und wartete wohl auf eine Reaktion von meiner Seite.

 

Ich hielt seinem Blick stand, sagte aber nichts. Dann lächelte er und ich lief rot an.

Waren wir hier im Kindergarten oder was?

»Hallo?« Sebastian winkte mit seiner Hand zwischen uns auf und ab. »Was geht denn? Seid ihr jetzt wieder zusammen oder wie darf ich das jetzt verstehen?«

Ich zuckte mit den Achseln und senkte meinen Blick.

»Ja, sind wir«, kam es von Jan und ich taxierte ihn blitzschnell mit ungläubigem Gesichtsausdruck.

»Oder nicht?« Jan richtete nun das Wort fragend an mich.

Das Blut rauschte in meinen Ohren und mein Gesicht glühte. Mein Mund klappte auf, ich schnappte nach Luft und schloss ihn dann wieder.

Fassungslos schaute ich zu Hiro. Keine Ahnung, warum. Vielleicht hoffte ich auf seine Dienste als Souffleur. So als neutraler und unbeteiligter Betrachter der Situation.

»Also ich weiß es nicht«, entgegnete er schulterzuckend.

»Hey, Nora ...« Jan rückte mit seinem Stuhl näher zu mir und nahm meine Hand in seine. »Wir können es ja langsam angehen lassen, okay? Ich meine, nur wenn wir ...«

Mit meinem Schluchzen unterbrach ich ihn. Mein Kinn bebte und ich spürte, wie sich meine Augen mit Tränen füllten. Das konnte doch nicht wahr sein. Das waren die Worte, nach denen ich mich vier Jahre lang gesehnt hatte. Von denen ich der festen Überzeugung war, dass ich sie niemals wieder hören würde.

»Hey ...« Jan wirkte ziemlich hilflos und überfordert. Er streichelte über meinen Handrücken. »Willst du nicht? Willst du mir nicht noch eine Chance geben?«

Und das war‘s.

Alle Dämme brachen.

Ich heulte so laut und herzzerreißend, dass sich die drei Männer um mich herum ernsthafte Sorgen machten. Mein ganzer Körper zitterte unkontrolliert und selbst das zaghafte Streicheln und Umarmen von Jan und Sebastian konnte mich nicht beruhigen. Aufgestaute Tränen von vier Jahren schossen aus mir heraus und waren nicht zu stoppen.

Ich glaubte das nicht. Sollte wirklich alles gut werden? Einfach so?