Europäische Regionalgeschichte

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Neuzeitgeschichte reduzierte. Die Entwicklungen von Landes- und Regionalgeschichte waren auch Kinder des Kalten Krieges, dies insofern, als in den Warschauer-Pakt-Staaten Regionalgeschichte als marxistischer Gegenentwurf zu einer als bürgerlich-konservativ diskreditierten Geschichtsschreibung auftrat. In der DDR geschah dies speziell im Bezug zur Landesgeschichte, Hand in Hand mit einer später stückweise revidierten Abwertung der historischen Länder. Eine simple Binarität „alte“ Landesgeschichte versus „neue“ Regionalgeschichte wurde und wird den disziplinären Entwicklungen sicher nicht gerecht, selbst wenn manch zur Schau getragener Gestus theoriefernen Beharrens auf der einen und des gesellschaftswissenschaftlichen Aufbruchs auf der anderen Seite geeignet waren, diesen Eindruck zu erwecken.

Reiches Repertoire

Der bereits eingangs zitierte Ernst Hinrichs begründete sein Konzept einer „offenen Landesgeschichte“ mit der enormen Breite wissenschaftsgeschichtlicher Vorstufen, (inter-)disziplinärer Kontexte und theoretischer Ansätze, aus denen heraus regional orientierte Geschichtsschreibung schöpfen konnte und kann. Die von ihm entworfene Matrix (Abb. 2) ist deshalb auch heute noch geeignet, um die Regionalgeschichte zu verorten.

Hinrichs Matrix ist zweifach chronologisch gegliedert. Drei verschiedene „Schichten“, also Forschungszugänge, sind zu unterschiedlichen Zeiten entstanden: erstens die staatlich-herrschaftliche Schicht (A), die die Kategorie Land als politischen Raum konzipiert, zweitens die geografisch-landeskundliche Schicht (B), die Land als geografischen Raum versteht, und schließlich drittens die sozialwissenschaftlich-anthropologische Schicht (C), die Land als sozialen Raum behandelt. Auch innerhalb dieser Schichten gliedert er (von links nach rechts) Ansätze unterschiedlichen Alters. In Hinrichs Darstellung wird dreierlei sichtbar: Zunächst verweist er auf die alten Vorläufer der herrschaftlich-politischen Landesgeschichtsschreibung in der spätmittelalterlichen Chronistik, in der genealogisch-staatsrechtlichen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts und der ökonomischstatistisch-topografischen Landesbeschreibung der Aufklärungszeit. Übrigens sind genau dieser epochale Kontext und diese Literaturkorpora auch zu adressieren, wenn es um die zweite von Hinrichs benannte Schicht, die der „geographisch-landeskundlichen“ Zugänge, geht. Die Nähe zur Geografie ist ein Konstituens von Landesgeschichte und Regionalgeschichte. Schließlich ist in der dritten „sozialwissenschaftlich-anthropologischen“ Schicht die für die Regionalgeschichte charakteristische Nähe zu sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Ansätzen, darunter die der französischen Annales-Schule, zu greifen, genau wie zu jüngeren kulturalistischen Zugängen aus dem Bereich der Neuen Kulturgeschichte, Historischen Anthropologie und Alltagsgeschichte.


Abb. 2 Konstitutionselemente von Landesgeschichte in der Gegenwart (Quelle: Hinrichs 1985, 5)

Landesgeschichte und/ oder Regionalgeschichte

Doch, um auf die zu Beginn des Kapitels zitierten Stimmen zurückzukommen, die die Unterscheidung zwischen Regionalgeschichte und Landesgeschichte in der aktuellen Wissenschaftspraxis für mehr oder minder obsolet halten, stellt sich die Frage, was an Trennendem bleibt, wenn es so viel Verbindendes gibt. Eine Antwort fällt schwer. Vielleicht muss sie offen bleiben. Andreas Rutz (2018) wählt in seinem Forschungsüberblick über landes- und regionalgeschichtliche Forschung in Europa den perspektivischen Kniff, einfach alle Formen regional orientierter Historiografie als „Landesgeschichte“ zu etikettieren. Er propagiert die Europäisierung der Landesgeschichte, ganz ähnlich wie Ferdinand Kramer (2011) dies unter Hinweis auf die Kleinräumigkeit des europäischen Kontinents tut. Kramer leitet das Potenzial der Landesgeschichte aus der historiografischen Bearbeitung der regionalen Dimension europäischer Geschichte ab. Und die Unterschiede? Die epochal starke Konzentration der landesgeschichtlichen Forschung auf das Mittelalter ist – wie bereits erwähnt – aufgebrochen. Mit der Öffnung zur neuzeitlichen Geschichte hat Landesgeschichte gerade in den föderal verfassten Staaten der Bundesrepublik Deutschland und der Zweiten Österreichischen Republik an gesellschaftlicher Relevanz gewonnen, weil sie das Bedürfnis nach „Bundeslandgeschichte(n)“ bedient. Die Schweizergeschichte wird, offensichtlich aufgrund des kleinräumig strukturierten und kantonal organisierten Föderalismus der Schweiz, weniger als Landes- denn als Regionalgeschichte verstanden und betrieben (Sonderegger 2011). Walter Rummel (2015) sieht nach wie vor markante Unterschiede zwischen Landes- und Regionalgeschichte und er kritisiert sogar, dass diese „leider durch die bisweilen nicht mehr beachtete, begriffsgeschichtliche korrekte Verwendung der Begriffe verwischt werden“ (Ebd., 31). Zum Kern verbliebener Unterschiede führt er aus:

So geht die Landesgeschichte in der Regel von einem administrativ vorgegebenen Raum aus, selbst wenn dieser nicht mehr existiert […]. Im Vordergrund darauf bezogener Forschungen stehen historische Verhältnisse, Entwicklungen, Erscheinungen, Personen und Ereignisse, die stark vom administrativen Gefüge des Raumes geprägt sind oder es zu sein scheinen und die ihrerseits in die Räume zurückwirkten. Für die Regionalgeschichte hingegen erschließt sich der Raum nicht durch Grenzen, sondern erst durch eine auf Prozesse und Strukturen bezogene Fragestellung. So betrachtet ist der Raum sekundär und konkret erst ein Ergebnis der Forschungen. Es sind daher jeweilige sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtliche Prozesse und Strukturen, die jeweilige Räume überhaupt erst ausprägten (Ebd.).

Dieses Zitat erinnert an jenes vom Kapitelbeginn. Das ist kein Zufall, denn im Kern adressiert es eben denselben Unterschied zwischen beiden Perspektiven, den auch bereits Ernst Hanisch ansprach.

Europäische Regionalgesichte

Verkompliziert wird die Verortung der Regionalgeschichte noch durch das Adjektiv „europäisch“, das in jüngerer Zeit die regionalgeschichtliche Denomination zu dem erweitert hat, was auch in dieser Einführung vertreten wird: eine am europäischen Problemhorizont orientierte, vergleichende historische Regionalforschung. Dass der europäische Horizont großes analytisches Potenzial für regionalhistorische Forschung besitzt, wird sich in zahlreichen Beispielen der Folgekapitel zeigen. Zum innovativen Charakter der Regionalgeschichte erscheint freilich noch ein relativierender Hinweis aus der Feder des Regionalhistorikers Miloš Řezník erwähnenswert. Er hält den Umstand, dass in den 1990er-Jahren Regionalgeschichte oft mit damals innovativen Zugängen wie Alltagsgeschichte und Mikrogeschichte identifiziert wurde, für ein Missverständnis. Denn die Anwendung alltags- oder mikrogeschichtlicher, historisch-anthropologischer oder historisch-demografischer Zugänge sei zwar meist, forschungspragmatischen Motiven folgend, im Rahmen von Regionalstudien angewandt worden, jedoch:

Soweit unter der Regionalgeschichte die Geschichte von konkreten Regionen verstanden wird, bleibt der regionalhistorische Wert dieser allgemeinhistorischen Forschungen im Grunde ein – gleichwohl bedeutendes – Nebenprodukt (Řezník 2019, 29–30).

Nebenprodukt oder nicht – die Offenheit der Regionalgeschichte für diverse historiografische Zugänge der Allgemeingeschichte gehört zu ihren großen Potenzialen. Diese Offenheit wird in Kapitel 3 anhand verschiedener Beispiele ausgelotet.

Drei Zugänge zur Regionalgeschichte

Für den Moment soll es nun genügen, eine annäherungsweise Definition dessen zu versuchen, was eine regionalhistorische Perspektive ausmacht. Stephen Jacobson et al. haben hierzu eine dreigliedrige Unterscheidung vorgeschlagen. Im Feld regional orientierter Geschichtsschreibung lassen sich demnach drei unterschiedliche Methodologien unterscheiden: erstens ein materialistischer, zweitens ein konstruktivistischer und drittens ein juridisch-institutioneller Ansatz (Jacobson et al. 2011, 15–16). Der materialistische Ansatz setzt im Gefolge der regionalhistorischen Agenda der französischen Annales-Schule in Regionalstudien die historische Entwicklung mensch licher Gesellschaften in Beziehung zu ihrer materiellen Umwelt. Dieser Weg sei – trotz der Konzentration vieler Werke der früheren Annales-Schule auf die Vormoderne – auch einflussreich für wirtschafts- und sozialhistorische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, z. B. für die Untersuchung regionaler Muster der industriellen Entwicklung und Unterentwicklung. Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte stehen in einem Naheverhältnis zueinander.

Ein zweiter, konstruktivistischer Zugang richtet seine Aufmerksamkeit auf die Konstruktion ethnischer, religiöser und nationaler Identitäten. Das Verhältnis zwischen den Entwicklungen regionaler und nationaler Identitäten steht hier ebenso zur Debatte wie regionale Erinnerungskulturen und z. B. die Erfindung von Traditionen (Hobsbawm & Ranger 1983; Küster 2002).

Im Rahmen eines dritten, juridisch-institutionellen Ansatzes findet das Adjektiv „juridisch“ auf private, öffentliche, zivil- und kirchenrechtliche Rechtsordnungen Anwendung. Die Kategorie des Institutionellen wird hier auf politische und kirchliche Körperschaften angewendet. Beide waren in der Geschichte Europas wichtige Akteure der politischen Definition von Regionalität: Die italienischen Stadtrepubliken, die Fürstbistümer des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, die mehreren hundert geistlichen und weltlichen Träger von Grund- oder Landesherrschaft sind – auch – notwendiger Bezugspunkt regionalhistorischer Forschung.

 

Literaturtipps

Ellis, S. G. & Michailidis, I. (Hg.). (2011). Regional and Transnational History in Europe. Cliohworld readers: Bd. 8. PLUS-Pisa University Press.

Freitag, W., Kißener, M., Reinle, C. & Ullmann, S. (Hg.). (2018). Handbuch Landesgeschichte. De Gruyter Oldenbourg.

Hinrichs, E. (1985). Zum gegenwärtigen Standort der Landesgeschichte. Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte: Neue Folge der „Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen“, 57, 1–18.

Hirbodian, S., Jörg, C. & Klapp, S. (Hg.). (2015). Methoden und Wege der Landesgeschichte. Landesgeschichte: Bd. 1. Jan Thorbecke Verlag.

1Anm.: Die Lebensdaten bereits verstorbener Personen werden bei der erstmaligen Nennung in Klammern angeführt.

2. Region als Konzept und historischer Gegenstand

In der aktuellsten historischen Literatur fehlt es nicht an Beispielen eines ratlosen Umgangs mit der Regionskategorie, der sich oft damit zufrieden geben muss, die Unschärfe des Terminus zu konstatieren und auf mögliche Funktionskontexte zu verweisen (Řezník 2019, 30).

Wer sich mit Region als Konzept und historischem Gegenstand beschäftigt, wird in Quellensprache und Forschungsliteratur des deutschsprachigen Raumes vor allem auf zwei Begriffe stoßen: Land und Region. Der lateinische Regionsbegriff wurde schon in der Antike in Bezug auf geografische Einheiten verwendet und bedeutete „Richtung“, „Lage“, „Grenze“, „Gegend“, „Landschaft“ oder auch „Stadtbezirk“ (Stauber 2009, 858; Stowasser 1997, 434). Zunächst wurde der Terminus insbesondere auf die Stadtviertel Roms bezogen, dann auf die Binnenlandschaften Italiens. Als Beispiel für eine solche geografische Verwendung heißt es bei Julius Caesar (100 v. Chr.– 44 v. Chr.) etwa:

Auximo Caesar progressus omnem agrum Picenum percurrit. cunctae earum regionum praefecturae libentissimis animis eum recipient exercitumque eius omnibus rebus iuvant. […] item ex finitimis regionibus quas potest contrahit cohortes ex dilectibus Pompeianis (Caesar 2014, Liber I, 15, 26–29).2

Řezník weist in seinen Reflexionen zu Regionalität als historischer Kategorie darauf hin, dass die Frequenz des Regionsbegriffs in der deutschen Sprache einer bemerkenswerten Entwicklungskurve folgt.

Das „Digitale Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart“ (DWDS) ist ein für Historikerinnen und Historiker immens hilfreiches Tool aus den digitalen Geisteswissenschaften bzw. Digital Humanities. Im Falle des Suchwortes „Region“ zeigt es den interessanten Befund auf, dass der Begriff im Deutschen bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts hinein keine Rolle spielt, dass seine Verwendung Mitte des 19. Jahrhunderts einen ersten Peak erreicht und dass die eigentliche Karriere des Substantivs „Region“ im Deutschen mit dem Zweiten Weltkrieg beginnt.


Abb. 3 Wortverlaufskurve „Region“ im DWDS (Quelle: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache 2020, dwds.de)

Um diese quantifizierende Feststellung durch einen qualifizierendhermeneutischen Zugang zu ergänzen, um ins 18. Jahrhundert, also die Zeit des ersten merklichen Aufkommens des Begriffs, vorzustoßen, bieten sich die monumentalen enzyklopädischen Werke der Zeit an, in denen immense Bestände zeitgenössischen Wissens gesammelt und dokumentiert wurden.

Historische Lexika als Quellen

Wenn solche Nachschlagewerke herangezogen werden, ergeben sich unterschiedliche Befunde. Johann Heinrich Zedlers (1706–1751) Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste (Johann Heinrich Zedlers Universal-Lexicon Online, zedler-lexikon.de), ein Mammutwerk, zwischen 1731 und 1754 in mehr als 60 Bänden verlegt, widmet der Kategorie „Region“ keinen eigenen Artikel. Aber im 1737 erschienenen sechzehnten Band wird dem Begriff „Land“ ein Beitrag gewidmet. Land wird hier sowohl mit dem lateinischen terra als auch regio übersetzt.

Land – Regio – Terra

Dominant ist in diesem Lemma eine geografische Definition im Sinne geomorphologischer und klimatischer Bedingungen, die bestimmte Landnutzungen erlauben. Allerdings nimmt der Artikel eine Zweiteilung vor. Er unterscheidet zwischen dem natürlichen und dem politischen Status eines Landes. Ersterer beinhaltet die bereits genannten „natürlichen“ Bedingungen, Letzterer Faktoren wie den Bevölkerungsreichtum, Lage und Ausstattung von Siedlungen sowie Militärisches.

Ein weiteres, breit rezipiertes lexikalisches Großunternehmen des deutschen Sprachraumes wurde von Johann Georg Krünitz (1728–1796) begründet und erschien zwischen 1773 und 1858 in 242 Bänden (Oeconomische Encyclopädie Online, kruenitz1.uni-trier.de). Die Oekonomische Encyclopädie oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirthschaft widmet dem Regionsbegriff ein eigenes, wenngleich sehr kurzes, Lemma (Bd.121/1812, 646).

Naturwissenschaftlicher Regionsbegriff

Region wird hier naturwissenschaftlich konzipiert als „1) Kreis, als Luftregion; 2) eine gewisse Gegend, der Erde, des Himmels, wie auch des menschlichen Körpers“ (Ebd.). Auf verschiedene Zusammenhänge (Atmosphäre, Erdoberfläche, Körper) angewendet, wird hier also vor allem der partikulare Charakter der Kategorie greifbar. Wesentlich ergiebiger ist auch im Krünitz das Lemma „Land“ (Bd. 59/1793, 396–404).

Land als Festland

Land wird definitorisch zunächst in drei Grundkategorien differenziert: Erstens Land als Festland im Gegensatz zu dem mit Wasser bedeckten Teil der Erdoberfläche im Sinne von lateinisch aridum, littus, terra, aber auch continens, im Französischen terre, continent. Zweitens als Festlands-Erdoberfläche in Abhängigkeit von der Landnutzung.

Landnutzung

Hier werden landwirtschaftlich nutzbares und ackerbaulich fruchtbares Land (lat. ager, arvum, fundus, solum; franz. terre), das Land im Gegensatz zur Stadt (lat. ager, campus, rus; franz. campagne, pays) sowie flaches Land im Gegensatz zum Gebirge unterschieden.

Herrschaft

Die dritte Grundkategorie repräsentiert einen politischen Landesbegriff, den eines durch herrschaftliches Wirken abgegrenzten Teils der Erdoberfläche. Land wird hier verstanden als ein „von einer ganzen großen Völkerschaft bewohnter und einem Ober=Herrn unterworfener Theil der Erdfläche, Lat. Provincia, Regio, Principatus, Regnum, Territorium; Fr. Contrée, Païs, Terre“ (Ebd., 398). Für die Leserinnen und Leser unserer Einführung ist der Befund nicht ohne Ironie, dass der Regionsbegriff in Form der lateinischen regio just hier erscheint, Region mithin einen politischen Landesbegriff repräsentiert, der die Kategorie Herrschaft (regio, regnum, rex, regis) in den Vordergrund rückt. Gerade die Regionalgeschichte, die nach eigenem Selbstverständnis Regionalität bevorzugt nach sozioökonomischen, sozialökologischen und kulturellen Kriterien konzipiert, verwendet einen Begriff, der dem Politischen entspringt.

Wie dem auch sei, das Lemma „Land“ der Krünitz’schen Enzyklopädie bietet interessante Lesefrüchte und es schließt mit einem Merkspruch für das Land, der auch für die Definition von Regionalität dienlich ist. Die verschiedenen Bedeutungen des Wortes Land, sind in folgende Zeilen zusammengebracht:

Wo der Schiffer fährt ans Land, littus.

Wo zum Feldbau fettes Land, solum.

Wo der Bauer baut sein Land, agrum.

Wo der Bürger liebt sein Land, patriam.

Wo viel Viehzucht auf dem Land, ruri.

Wo der Herr beschützt sein Land, regionem.

Das erfreuet Stadt und Land, incolas (Bd. 59/1793, 404).

Den deutschen Sprachraum verlassend, sollte ein weiteres sehr wichtiges Lexikon des 18. Jahrhunderts erwähnt werden. Die Encyclopédie von Denis Diderot (1713–1784) und Jean-Baptiste le Rond d’Alembert (1717–1783) widmet der Region einen sehr umfangreichen Artikel. Auch hier findet zunächst ein naturwissenschaftlicher Wortgebrauch

Anwendung, zum einen in Bezug auf Höhenschichten der Atmosphäre, zum anderen auf die menschliche Anatomie, nämlich die Unterscheidung verschiedener Körpergegenden. Aber in der zweiten Hälfte des Artikels wird es für die hier angestrebte Regionsdefinition noch interessanter. Zum einen wird der äquivalente Gebrauch des Begriffs in verschiedenen europäischen Sprachen verdeutlicht: Für das Deutsche werden die Begriffe „Landschaft“ und „Land“ angeführt. Zum anderen findet sich hier eine im weitesten Sinne geografisch-politische Erklärung: Bezogen auf die Erde bezeichne der Begriff Region einen Ausschnitt, der von verschiedenen Völkern unter dem Dach einer Nation bewohnt werde. Dieser habe wiederum seine eigenen Grenzen und sei üblicherweise einem Monarchen oder Despoten unterstellt. Große Regionen könnten wiederum in kleine Regionen und diese wiederum in kleinste Regionen unterteilt werden – je nach dem Volk, das dort wohne [ethnische Definition]. Eine weitere Unterscheidung argumentiert geo- bzw. hydromorphologisch entlang von Flussläufen oder bezogen auf Gebirge. Demnach unterscheiden die Bezeichnungen haut / bas (hoch/nieder) die Lage einer Gegend am Ober- oder Unterlauf eines Flusses bzw. im Gebirge (Diderot & d’Alembert 1765, 16–17). Noch heute übrigens manifestiert sich diese Logik in den Namen mehrerer französischer Départements (z. B. Haute-Loire, Haute-Marne, Haut-Rhin, Bas-Rhin, Haute-Saône, Haute-Savoie, Alpes-de-Haute-Provence, Hautes-Alpes, Hautes-Pyrénées). Auch die Gegensatzpaare ultérieur / citérieur (jenseits / diesseits) bezogen auf Flüsse oder Gebirge – analog den habsburgischen Reichsteilen Trans- und Cisleithanien – und intérieur / extérieur bezogen auf (De-)Zentralität z. B. zu einer bedeutenden Stadt, sowie die Qualifizierung nach Himmelsrichtungen finden hier Erwähnung.

Insgesamt betrachtet, dokumentieren die hier sondierten Lexika des 18. und 19. Jahrhunderts bereits eine sehr ausdifferenzierte Konzeption von Regionalität, die als Substrat des rezenten wissenschaftlichen Regionsverständnisses gelesen werden kann. Gleichwohl entsteht nicht selten der Eindruck, dass im gegenwärtigen kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschungsbetrieb nicht immer besonders präzise mit dem Regionsbegriff verfahren wird. Das wiederum führt zu der Frage, wie die Geschichtswissenschaft der Gegenwart sich zu diesem verhält.

Region in der Geschichtswissenschaft

Ganz allgemein lässt sich Region ähnlich abstecken, wie dies auch die Regionalwissenschaft und die Raumplanung tun, das heißt, dass eine gewisse Homogenität struktureller Merkmale in Bezug zu gesellschaftlichen Funktionen und Praktiken gesetzt wird. Bei jedem Raum, so heißt es bei dem Historiker Jürgen Osterhammel, stelle sich „die zentrale Frage nach den Faktoren, die seine Einheit begründen und die es erlauben, von einem integrierten Raumzusammenhang zu reden“ (Osterhammel 2009, 156).

Gesellschaftliche Integration und politische Raumgestaltung

Es sind Faktoren wie zum Beispiel der Verkehr, die Kommunikation, die Migration und der Handel, die diese Integration leisten. Reinhard Stauber grenzt dazu die Herstellung eines politischen Territoriums als eine Folge bewusster herrschaftlicher oder staatlicher Raum-Gestaltung ab. Hier sei das „aktive Eingreifen eines zentralen Gestaltungswissens bei Grenzfeststellung, Kartierung, Zuweisung von Tätigkeitsräumen für Institutionen o. Ä.“ Voraussetzung (Stauber 2009, 858). Genau besehen lässt sich dieses herrschaftliche bzw. staatliche Wirken aber ebenso unter das oben genannte Faktorenbündel subsummieren. Auch Herrschaftspraktiken sind gesellschaftliche Praktiken und lassen sich von diesen nicht trennen.

Ein Exempel hierfür sind frühneuzeitliche Bergbauregionen. Natürlich sind das Vorkommen bestimmter Bodenschätze, die Kenntnis der Lagerstätten durch den Menschen, technologische Fähigkeiten in der Gesellschaft zu deren Abbau und gesellschaftliche Arbeitsteilung erforderlich, die die Versorgung eines Bevölkerungsteils gewährleistet, der selbst nicht in der Landwirtschaft tätig ist. Aber meist ist es ja die Herrschaft, die diese Ressourcenvorkommen kontrolliert und die diese Arbeitsteilung organisiert. Das österreichische Salzkammergut, genauer die beiden frühneuzeitlichen Salzwirtschaftsregionen des oberösterreichischen und des steirischen Salzkammerguts, waren politisch definierte wirtschaftliche Sonderzonen und als solche den landesherrlichen Verwaltungen des Landes ob der Enns und der Steiermark entzogen.

 

Historische Landschaft und Geschichtsregion

Weitere Stichworte, die bei der Sichtung geschichtswissenschaftlichen Verständnisses von Regionalität zu erörtern sind, sind das der „historischen Landschaft“ und das der „Geschichtsregion“ (Kap. 3.1.3). Der Osteuropahistoriker Stefan Troebst hat sogenannte Geschichtsregionen einmal wie folgt definiert:

Ein vorläufiger Definitionsvorschlag dafür, was unter einer geschichtsregionalen Konzeption zu verstehen ist, könnte lauten, dass es sich um eine geschichtswissenschaftliche Methode transnational-vergleichender Art mit dem Potential zu einer Theorie mittlerer Reichweite handelt, um eine Forschungsstrategie, in die Kontrollmechanismen mittels Quellenbiß und Komparation gleichsam eingebaut sind. Der kulturwissenschaftliche Untersuchungsrahmen „Geschichtsregion“ ist dabei ein heuristischer Kunstgriff, mittels dessen nicht-territorialisierte, aber epochal eingegrenzte historische Mesoregionen staaten-, gesellschaften-, nationen- oder gar zivilisationenübergreifender Art zur Arbeitshypothese komparativer Forschung genommen werden, um spezifische Cluster von Strukturmerkmalen langer Dauer zu ermitteln und voneinander abzugrenzen. Nicht die einzelnen Merkmale sind dabei einzigartig und somit clusterspezifisch, sondern ihre jeweilige Kombination. Großflächige, indes epochengebundene Cluster dieser Art können als Geschichtsregionen bezeichnet werden. Diese sind dabei, wie Arno Strohmeyer hervorgehoben hat, „fluktuierende Zonen mit fließenden Übergängen“, die in sich entsprechend in Zentren und Peripherien gegliedert werden können. Und auch hier ist das Spezifische nicht ohne ein Umfeld denkbar, ist die eine Geschichtsregion nur im Kontext anderer zu fassen. Entsprechend sind also Relationalität und Beziehungshaftigkeit komplementär zur Binnenstruktur einer Geschichtsregion (Troebst 2013, 406–407).

An diesen vergleichsweise komplexen Sätzen und der schieren Länge dieser Definition offenbart sich, dass sich der Autor hier nicht leicht damit tut, den Begriff „Geschichtsregion“ zu definieren. Die zentralen Kriterien seien noch einmal herausgegriffen:

Erstens, es handelt sich um nichts Ontologisches, so in der Welt Vorhandenes, sondern um eine Methode, einen „kulturwissenschaftlichen Untersuchungsrahmen“.

Zweitens werden Gebiete untersucht, die nicht einem (politischen) Territorium zugeordnet, aber epochal, das heißt zeitlich, abgegrenzt werden. Sie erstrecken sich über die Grenzen von Staaten, Nationen, Zivilisationen hinweg.

Drittens sollen mittels Vergleich spezifische Cluster struktureller Merkmale von langer Dauer herausgearbeitet werden. Ein Beispiel für eine solche Geschichtsregion – und quasi „Mutter aller Geschichtsregionen“ ist der Begriff oder das Konzept „Ostmitteleuropa“.

Es gibt namentlich in der Forschung zur Osteuropa-Geschichte eine breite Diskussion zur Tragweite des Konzepts der Geschichtsregion, auf die hier nicht näher eingegangen wird. Aus Sicht der Regionalgeschichte, der Landesgeschichte und der historischen Landeskunde ist auf die älteren Wurzeln des Begriffs in der Geografie hinzuweisen. Im späten 19. Jahrhundert hatte der deutsche Geograf Friedrich Ratzel (1898), wenn er von einer „historischen“ oder „geschichtlichen“ Landschaft sprach, durchaus das historische Zusammenspiel von materieller Welt und menschlicher Aktivität im Sinn (Faber 1979, 7). Sein auch für die Geschichtswissenschaft einflussreicher französischer Kollege Paul Vidal de la Blache (1845–1918) unterschied zwischen région naturelle und région politique (Ebd., 9).

Stauber (1994) unternimmt eine weite Definition von Region mit konstitutiven Kriterien. Region ist demnach ein relativ selbstständiges Teilelement eines größeren Ganzen. Sie ist abgrenzbar. Ihre Landschaftsgebundenheit ist nicht als geodeterministische Einbahnstraße zu sehen, sondern konzediert auch eine Determinierung durch den Menschen und seine Tätigkeit. Es besteht Entwicklungsoffenheit, Vernetzung in einer komplexen Struktur unter- und übergeordneter Einheiten, Eigenständigkeit der historischen Entwicklung und des historischen Bewusstseins der Bewohnerinnen und Bewohner. Als alternative Kriterienkataloge unterscheidet Stauber Homogenitätskriterien (Sprache, Konfession, Recht, Wirtschaftsinteressen etc.) und Bewusstseinskriterien (Zusammengehörigkeitsgefühl, gleichgerichtete Außenbeziehungen, gemeinsame Sozialisation, Kommunikation und Erfahrung).

Konstruktivismus

Nunmehr schon seit einem guten Vierteljahrhundert betont die regionalhistorische Forschung den konstruktiven Charakter von Region. Gerald Wood und Andrea Komlosy bringen dies so auf den Punkt:

Selbst der Wissenschaftler, der diesen Begriff nutzt, kann nicht hoffen, im weiten Feld der Empirie eine quasi „naturwüchsige“ Region zu finden, die abseits jeglichen menschlichen Tuns gewissermaßen eine eigenständige Existenz fristet und nun des Menschen harrt, der sie entdecken und anderen davon Kunde bringen möge. Dieses naive Regionsverständnis war übrigens lange Zeit verbindlicher und zentraler Gegenstand im Gedankengebäude der Geographie (auch und gerade als Hochschuldisziplin). Ein solcher positivistischer Regionsbegriff ist natürlich ebenso ein gesellschaftliches Konstrukt wie alle anderen auch […] (Wood & Komlosy 1997).

Die Anschlussfähigkeit mit konstruktivistischen Perspektiven in der jüngeren Sozialgeografie ist offensichtlich. Der Geograf Anssi Paasi sieht diese Konstruktion im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen und Machtgefügen. Regionale Identität als regionales Bewusstsein von Menschen, die innerhalb oder außerhalb einer Region leben, wird Paasi zufolge in einem dialektischen gesellschaftlichen Prozess von einer Vielzahl beteiligter Akteurinnen und Akteure ausgehandelt. Dabei wirken zwei tendenziell gegensätzliche, aber miteinander verwobene Kräftefelder, eines „von oben“ – also politische Kontrolle, Regierung und Verwaltung – und eines „von unten“ – also Akzeptanz bzw. Identifikation mit einem Territorium oder Widerstand dagegen. Oder anders formuliert: Egal wie eine Region „von oben“ definiert wird, wenn keiner mitmacht, gibt es diese Region nicht (Paasi 2003).

Region und „Heimat“: top-down und bottom-up konstruiert

Anders herum stehen, wie Wilfried Müller und Martina Steber zeigen, die meisten vermeintlich bottom-up gewachsenen, unter dem Signet von „Heimat“ und „Heimatschutz“ seit dem 19. Jahrhundert inszenierten, regionalen Identitäten für die eminent enge Bindung solcher Identitätsangebote an die Entwicklung von Staatlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert. „Das bayerische Schwaben“, so Steber, „ist ein Kind der Moderne“ (Müller & Steber 2018, 660; Steber 2010).

Der Landeshistoriker Ferdinand Kramer schlägt drei Perspektiven vor, um die durch die Begriffe Region und Regionsbildung sowie „die damit assoziierten Räume, Landschaften, Territorien, Herrschaften etc.“ definitorisch fassen zu können:

Drei Perspektiven auf die Definition von Region und Regionsbildung

Erstens ist eine mehr oder weniger herrschaftsfreie Perspektive zu nennen, die geographische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Spezifika, Sprache und Kultur als Identifikations- und Unterscheidungsmerkmale kennt. Zum zweiten ist in einem Kontext von Herrschaft die Perspektive der Regierenden auf die von ihnen beherrschten und in verschiedenen Regionen verwalteten Räume zu sehen, was in der Regel mit dem Begriff der „Provinz“ belegt wurde. Zum dritten ist die Perspektive eigener, autochthoner oder erworbener autonomer Rechte, Macht und Herrschaft zu beachten, wie dies etwa durch die Erblichkeit in zahlreichen Adelsherrschaften oder durch Republiken, Stadtstaaten in Norditalien, in der Schweiz oder im Reich, durch geistliche Territorien oder Kommunen möglich wurde (Kramer 2011, 2–3).

In Summe bewegt er sich mit diesem Vorschlag weitgehend innerhalb eines politikgeschichtlichen Paradigmas. Damit steht er auch in der regionalhistorischen Szene nicht alleine da. Jacobson et al. distanzieren sich zum Beispiel von einem Regionsverständnis, das entweder rein geografisch oder ökonomisch argumentiert oder das Region nur als konstruierte Identität aus Erinnerung und Kultur herleitet: