Frevlersbrut

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Z serii: Die Erste Tochter #2
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Die Tür öffnete sich, und unwillkürlich breitete sich Vairrynn wie eine Decke über seine Schwester und seine Kusine, nicht nur seinen Arm, sondern sein ganzes Selbst. Unter der Tür stand Eftnek Neoly, und er war bleich wie das Grab.

»Ich muss …«, begann der Holzsteinschnitzer rau, hielt inne. Er sah Vairrynn an, überrascht und ein wenig verwirrt, und irgendetwas glänzte in seinen dunklen Augen, sodass sie fast schwarz wirkten. Noch nie in seinem Leben hatte Vairrynn einen solchen Blick in dem Gesicht eines anderen gesehen.

Er starrte den Holzsteinschnitzer an, während ihm das Blut schmerzhaft in die Fingerspitzen schoss, weil Jemsi sich mit einem leisen Jammern auf die Seite gedreht und dabei seinen linken Arm freigegeben hatte. Eine kleine Hand verkrampfte sich in dem dünnen Stoff seines kurzärmeligen Oberteils. Myn war wach.

»Du solltest nicht hier sein«, sagte Eftnek, und das Dunkle aus seinen Augen bebte in seiner Stimme.

»Wo bitte sollte ich denn sonst sein?«, entgegnete Vairrynn. Er wollte nicht auf Konfrontationskurs mit Eftnek gehen, nicht heute. Er tat es trotzdem. Aber Eftnek stand nur weiter an der Tür, als würde er sich nicht in das bunte Mädchenzimmer hineinwagen.

»Vater?«, drang da Myns Stimme in die Stille zwischen den beiden Männern. »Kommt Mutter nach Hause?«

Es war eine Kinderstimme, die da sprach, und es war eine Kinderfrage. Myn wusste die Antwort, und trotzdem setzte sie sich auf und sah ihren Vater mit großen, erwartungsvollen Augen an. Eftnek Neoly vergrub das Gesicht in seinen zitternden Händen und begann zu weinen. Schatten tropften durch seine Finger hindurch. Vairrynn zog Myn an seine Brust zurück, weg von der Dunkelheit, die er aus ihrem Vater heraussickern sah wie Wein aus einem löchrigen Schlauch.

»Du solltest nicht hier sein«, sagte Eftnek, und das Dunkle aus seinen Augen bebte in seiner Stimme. Was um der Einheit Willen war da passiert?


Ktorram Asnuor kam zu Lys Neoly am Abend vor ihrer Hinrichtung. Er hatte hin und her überlegt, ob es nicht grausamer wäre, überhaupt nicht zu erscheinen – und er hatte längst, was er wollte.

Nur stimmte das nicht ganz.

Er wollte ihr in die Augen blicken und das Wissen darin sehen, dass er gewonnen hatte. Und so fand sich Asnuor in der vor Alter modernden Gefängniszelle wieder, deren spärliches Licht Lys Neoly dreizehn Jahre jünger aussehen ließ. Er hatte keine Probleme, ihren Körper unter all den Schichten schwarzen Stoffes zu erahnen, die die Wypriester der Widernatürlichen aufgezwungen hatten, und er konnte sich an eine Zeit erinnern, da das Licht golden gewesen war auf ihrer Haut und in ihrem Haar. Das metallene Geräusch der Gefängnistür hatte sie sich halb von ihrer Pritsche aufrichten lassen, und sie blickte ihm mit ihren dunklen, rotbraunen Augen entgegen.

»Da bist du also«, sagte sie. »Ich habe auf dich gewartet.«

Eine eigenartig gedämpfte Resignation war in ihren Gesten. Er zeigte ihr die Zähne. Kein Lächeln, auch wenn es so aussah.

»Tatsächlich? Was hat dich so sicher gemacht, dass der Oberste Priester seine Aufmerksamkeit einer verurteilten Nembdr schenken würde?«

Sie sah ihn müde an, und Asnuor erkannte, dass das schäbige Licht ihn getäuscht hatte; Lys’ Gesicht zeigte jedes einzelne jener Jahre, die sich in ihre Seele geätzt hatten.

»Ich bitte dich, Ktorram. Hörst du nie auf, deine Spielchen zu spielen? Sag schon, was du willst.«

»Was ich will«, echote er, als hätte er keine Ahnung, was sie meinte, und legte die Stirn in Falten. »Oh, ich verstehe. Du denkst, ich würde das Angebot wiederholen, das ich dir vor dreizehn Jahren gemacht habe.« Er grinste. »Nein, meine Schöne, da hast du etwas falsch verstanden. Siehst du, meine genauen Worte damals waren: Gib mir den Jungen oder du stirbst. Und siehst du?« Er machte eine demonstrative Geste. »Du hast dich damals geweigert, mir den Jungen zu übergeben. Jetzt wirst du sterben. Ich bin ein geduldiger Mann, Lys. Dass du mich damals nicht beim Wort genommen hast, ist nicht mein Problem. Es tut mir fast leid, aber mein Angebot war ein einmaliges.«

Er sah zu, wie sich die Flammen des Scheiterhaufens in ihren Augen brachen, und er wusste, dass sie in diesem Augenblick zum ersten Mal glaubte, dass sie sterben würde. Ihn schauderte, weil es so kalt in der Zelle war, aber das war es ihm wert.

»Ich bin nicht dein«, sagte sie, der letzte Widerstand, den sie ihm noch entgegensetzen konnte.

»Wieder falsch, mein Schatz. Du bist eine verurteilte Nembdr, und damit Eigentum des Wyordens. Mein Eigentum.« Er beugte sich zu ihr vor. »Aber die Wahrheit ist doch: Seit Jahren gehört jede Xa deines Lebens mir. Jeder einzelne Moment.« Lächelnd richtete er sich auf und klopfte sich imaginären Staub von seinem Ärmel. »Ich habe mit deinem Ehemann gesprochen. Armer Kerl. Hätte ich geahnt, wie sehr du ihn im Dunkeln gelassen hast in der ganzen Angelegenheit, hätte ich ihn vielleicht verschont.«

Ihre Augen hoben sich ihm entgegen, und sie waren dumpf wie Steine. Er hatte schon immer wissen wollen, ob man auch Fels brechen konnte.

»Du hast es ihm erzählt? Was zwischen uns passiert ist?« Lys’ Stimme verriet eine Mischung aus Müdigkeit und Furcht, die jemand anderem das Herz gebrochen hätte. Oder zumindest berührt. Doch Asnuor war nicht jemand anderer. Er war es nie gewesen.

»Welchen Zweck sollte das wohl haben? Das macht doch keinen Unterschied mehr nach so langer Zeit. Ich enttäusche dich ja nur ungern, mein Schatz, aber diese Nacht hat nur deine Welt erschüttert, sonst niemands.« Er gab ihr sein bestes anzügliches Lächeln. Sex war eine ausgesprochen nützliche Waffe. Doch es gab schärfere.

»Nein, Lys, unser kleines Geheimnis ist sicher bei mir. Außerdem: Glaubst du wirklich, dass nach allem, was passiert ist, ein weiterer Verrat deinerseits noch einen Unterschied machen würde? Nein, so viel Selbstwertgefühl hast du dem Holzsteinschnitzer nicht gelassen. Und wir wissen beide, dass es in Wahrheit nur einen Weg zu seinem Herzen gibt, zum Guten oder zum Schlechten.«

»Nohaín«, hauchte sie, und ihre harten Augen glänzten seltsam. »Du hast ihm Sannáhs Tagebuch gezeigt. Große Göttin …«

Das bisschen Farbe, das noch in Lys’ Gesicht gewesen war, verschwand, und der Kontrast zwischen ihrer Haut und dem schwarzen Gewand war befriedigend in seiner Harschheit. Asnuor konnte die Risse in ihren Steinaugen sehen. Der Triumph war fast zu weit für seine Brust. Wenn er sie jetzt berührte, würde sie ganz einfach in sich zusammenfallen? Seine Finger zuckten, aber es war noch zu früh. Er war noch nicht fertig.

»Warum um alles in der Welt hast du das getan?«, flüsterte sie.

Asnuor zuckte mit den Schultern, als wäre die Sache kaum weiterer Worte wert. »Wenn ich etwas nicht leiden kann, dann ist es Schwäche. Und dein Mann ist schwach, Lys. Wäre er das nicht, hättest du nie all deine kleinen Spielchen treiben können. Ich bin nachtragend. Und ich will, dass du mit dem Wissen stirbst, deinen Mann verdammt zu haben.« Er glaubte, das Ächzen von Fels zu hören und lächelte. »Ich habe seine Dämonen gesehen, Lys. Und sie werden ihn sich holen, das garantiere ich dir.«

Gebrochene Steindumpfheit antwortete ihm aus ihrem Blick und ihren Gesten, und er wusste, er hatte es geschafft. Ihre Niederlage rollte wie Norrnbeerenwein über seine Zunge.

»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte sie leise. »Aber weißt du was? Ich habe nicht genügend Kraft übrig, dass mich das berühren könnte. Du hast mir nicht genug gelassen. Es gibt nur noch eins, das mir etwas bedeutet, und da du mir nichts anderes übrig gelassen hast, muss ich dich bitten.«

Ihre Augen fingen seinen Blick ein, und da war etwas unter all der Gebrochenheit, aber es gab zu viele Risse, und er konnte nicht erkennen, was es war. Die Süße ihrer Worte jedoch durchflutete seine Glieder: »Ich flehe dich an, Ktorram. Bitte, verschone meine Kinder.«

Ihre Hände waren in der Geste demütiger weiblicher Bitte über die Brust gekreuzt, und in seinem quasi-orgasmischen Rausch antwortete er ihr wegwerfend: »Ich will Sannáhs Sohn, Lys. Was sollten mich schon die beiden Bälger interessieren, die du mit dem Holzsteinschnitzer in die Welt gesetzt hast?«

Asnuor konnte den exakten Moment benennen, da er verloren hatte. Er hatte nur nicht die geringste Ahnung, warum. Lys’ matte Augen erhielten wieder Glanz, und er sah auf einmal, dass die Risse nur hauttief gingen. Darunter lag blanker Granit.

»Natürlich«, sagte er in dem Versuch zu retten, was zu retten war, »kann kaum jemand vorhersehen, was es den jungen Neolys antun wird, in einem so zarten Alter die Mutter zu verlieren und dabei zuzusehen, wie der Vater langsam im Wahnsinn versinkt. Und das wird er, Lys. Was meinst du, was das Wissen mit ihm machen wird, wen du da in den Schoß seiner Familie geholt hast? Oder was, sollte ich wohl eher sagen.«

Ohne Regung sah ihn das Steinwesen an. »Ich habe drei starke Kinder großgezogen, Ktorram. Stahl, Feuer und Sturm. Sie werden dich überdauern.«

Asnuor lachte überheblich, aber diesmal war es eine Maske, und sie wussten es beide. »Du neigst zum Melodramatischen, mein Schatz. Was war es, das du Mnuran vorgebetet hast? Ich werde sein Herz herausreißen und nichts zurücklassen als ein blutiges Loch? Ich bitte dich, Lys. Dem Allerhöchsten sei Dank, dass du nie auf den Gedanken gekommen bist, zur Feder zu greifen!«

»Mehr hast du nicht mehr zu bieten? Sieh dich doch nur an! Noch vor einer Kma warst du so stolz und selbstzufrieden wie ein Wchlach mit einem gestohlenen Stück Fleisch, und jetzt? Du hältst dich für so unendlich klug, Ktorram Asnuor, und bildest dir ein, die Leute hin und her schieben zu können wie die Figuren auf einem Schachbrett. Aber du versuchst, Dinge zu kontrollieren, die außerhalb des Einflussbereichs eines bloßen Nchrynns liegen. Und nichts weiter bist du. Sannáh hat das gewusst, Nohaín wusste es, und du weißt es auch.«

 

Etwas sprang auf aus den tiefsten Tiefen seines Selbst und knurrte Lys an mit hochgezogenen Lefzen. »Ich werde gewinnen, Lys Neoly! Ich habe bereits gewonnen.«

»Nein. Das hast du nicht.«

»Du wirst sterben«, zischte er.

»Du auch«, lautete die gleichmütige Antwort. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, ehe er herumwirbelte und aus der Zelle stürmte. Mein starrer Blick fuhr ihm eiskalt den Rücken hinauf; selbst ein Mann wie Ktorram Asnuor spürt nicht gerne den Tod im Nacken. Vor allem ein Mann wie Ktorram Asnuor. Ich gönnte mir ein weiches Lächeln und nahm Lys’ Hände in die meinen. Sie schauderte, als würde sie mich tatsächlich spüren. Vielleicht tat sie es ja. Sie war mir nun schon so nahe, und manchmal schauen mir die Sterblichen dann ins Gesicht. Nicht immer weiß ich, was sie sehen. Aber sie wissen, wer ich bin und dass ich auf sie warte.

»Fürchte dich nicht, Tochter«, sagte ich, und tatsächlich verließ ihre Angst die dumpfige Gefängniszelle zusammen mit dem Obersten Priester. Alles, was blieb, war die seine.

Inferno

Ich war noch nie zuvor in Murraptaam gewesen. Meine Eltern hatten es mir schlichtweg verboten. Zu laut war sie angeblich, die Metropole am Murrap, zu überfüllt, zu schmutzig und natürlich zu gefährlich für eine heranwachsende Erste Tochter. Und so hatte Mynrichwy Neoly bis zu dem Tag, an dem ihre Mutter sterben sollte, nie einen Fuß in die Hauptstadt des Reiches gesetzt. Nun stand ich zum ersten Mal in meinem Leben auf dem Großen Platz und erinnerte mich an all die Dinge, die meine Eltern mir stets vorgebetet hatten, wenn ich leise angefragt hatte, ob ich nicht doch endlich alt genug für Murraptaam sei.

Laut war es hier im Herzen des Reiches ohne Zweifel: Ein stetes Summen und Brummen lag in der sturmschwangeren Luft, ein Dröhnen, das in meinen Ohren pulsierte. Es stieg von der Menge auf, die den Großen Platz ausfüllte wie eine bunt wogende Masse und mir gesichtslos erschien, obwohl sie es nicht war. Laut, überfüllt und schmutzig. Mit reglosem Blick starrte ich hinüber zu dem riesigen Haufen aus dreckig-grauem Kness, der nahe bei unserer Tribüne aufgeschichtet war und der heute das Freudenfeuer nähren sollte. Die Galle stieg mir in den Mund, und ich zitterte am ganzen Körper. Nur die starken Hände meiner Muttersmutter, die meine Schultern umschlossen, hielten mich zusammen. Für den Bruchteil eines Moments hasste ich die alte Frau für ihre Stärke. Sie hatte kein Recht darauf. Nicht heute.

Laut, überfüllt, schmutzig, gefährlich. Ich zweifelte nicht länger daran angesichts der Feindseligkeit der wimmelnden Masse zu unseren Füßen, die wie beißender Rauch in der Luft lag. Es würgte mich, jetzt schon, und dabei war noch gar nichts passiert. Laut, überfüllt, schmutzig, gefährlich. Und doch war ich hier, inmitten all der Hässlichkeit, von der man mich bisher so sorgsam ferngehalten hatte, und war schutzlos den sensationslüsternen, verachtungsvollen, rachedürstenden Blicken ausgeliefert, die mir das Fleisch von den Knochen zu reißen drohten. Ich, die ich bis dahin so gekonnt den Augen der Welt entzogen worden war, stand nun zusammen mit meiner Muttersmutter auf einem erhöhten Podest, das die Tribüne noch überragte, auf der die übrigen Neolys aufgereiht waren wie eine bizarre Menagerie, die man zur Belustigung – nein, zur Befriedigung – des Volkes zusammengetrieben hatte und deren Herzstück die Nembdr-Gebärerin und die Nembdr-Brut waren. Eine robuste Witwe mit langem Silberhaar und kräftigen Händen und ein zu kleines, zu zierliches Mädchen mit zu schrägen Augen. Beide hätte man wohl noch einen Tag zuvor keines zweiten Blickes gewürdigt, wäre man ihnen auf der Straße begegnet; heute jedoch drückte ihnen die Blutsverwandtschaft zu der Abnormität ein Schandmal auf.

Nach Halt suchend umkrallte ich zwei Finger meiner Muttersmutter, deren andere Hand beruhigende Kreise auf meine Schulter streichelte, die so sinnlos waren, wie sie für sie schmerzvoll sein mussten. Nur zu gut konnte ich mir die Pein in den Augen Synnda Pánns vergegenwärtigen, als sie zwei Tage zuvor in der Trutzburg angekommen war. Zum ersten Mal hatte ich da die Bedeutung dieses Wortes begriffen, Pein, und ich hatte mich nutzlos danach gesehnt, etwas sagen zu können, das den Schmerz dieser sanften Frau lindern würde, dieser Frau, die von dem Künstlerplaneten Yallchá gekommen war, um ihre Tochter sterben zu sehen, dieser Frau mit den kräftigen Töpferhänden, die ich kaum kannte und die doch die Mutter meiner Mutter war.

Hier sitz’ ich, forme Menschen

Nach meinem Bilde,

Ein Geschlecht, das mir gleich sei,

Zu leiden, weinen,

Genießen und zu freuen sich,

Und dein nicht zu achten,

Wie ich.

Ich schüttelte mich, um die Gedichtzeilen aus meinem Kopf zu bekommen, die belanglos waren jetzt und keinen Sinn machten, aber nichts ergab mehr Sinn.

»Es ist gut, Kind«, sagte Synnda Pánn in meinem Rücken, als wüsste sie nicht, dass das Wort ›gut‹ nichts mehr bedeutete. »Bald ist es vorbei.«

Ihre Finger verkrampften sich um meine Schultern bei ihren eigenen Worten, krallten sich in den gelben Stoff meines Kleides, das Synnda Pánn an diesem Morgen selbst für mich ausgesucht hatte, als könnte es die Menge hasserfüllter Nchrynnai darüber hinwegtäuschen, dass ich die Tochter einer Nembdr war, die Tochter der Baummörderin. Vielleicht war es auch blanker Trotz, der meine Muttersmutter diese lichtumflorte Farbe für uns beide hatte wählen lassen, ein ohnmächtiges Stirnbieten im Angesicht der Mörder ihrer Tochter, der eigenwillige Widerstand einer einfachen Töpferin gegen das gesamte Reich. Synnda Pánn hatte ein Rückgrat aus Fels, und wenn sie am Zusammenbrechen war, dann würde niemand etwas davon sehen. Ich jedoch, ich hatte nicht vorgehabt, irgendjemandem sinnlosen Widerstand zu leisten. Ich fühlte mich winzig, umgeben von der ganzen überbordenden Pracht des Memnáh, die auf den Großen Platz drückte wie steingewordene Geschichte, Berufenenpalast, Einheitstempel und Gründerdenkmal. Und doch gab es etwas in mir, das wohl über die Fingerspitzen meiner Muttersmutter in mein Inneres gesickert sein musste und das über die phallische Architektur abfällig die Nase rümpfte. Es war in diesem Teil meines Selbst, wo kalte Verachtung die Angst überwog. Dazwischen, zwischen Entsetzen und Kälte, gab es nichts.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand, an meine Großmutter gelehnt, mit der wogenden Masse zu meinen Füßen, die ich mich weigerte, als eine Ansammlung empfindungsfähiger, atmender Wesen anzuerkennen. Ich versuchte, den schmutzig-grauen Scheiterhaufen aus getrocknetem Pilzgewächs zu ignorieren, unfähig zu begreifen, dass irgendwann in der nächsten Mnega meine Mutter dort stehen und brennen würde. Stattdessen suchte ich unter den Neoly-Männern, die in vorderster Front auf der schmachvollen Tribüne standen, immer und immer wieder meinen großen Bruder, der nicht weit von unserem Podest in die geifernde Menge blickte, das Gesicht kalkweiß. Er stand zwischen meinem Vater und dem alten Neoly, die beide eine identische steinerne Miene zur Schau trugen. Ihre Augen wirkten wie glänzender Obsidian. Ich wusste, dass mein kleiner Bruder irgendwo weiter hinten bei meiner anderen Großmutter stand, aber nach ihm suchte ich nicht; mir war klar, würde ich seinen Blick einfangen, würde ich die Tränen nicht zurückhalten können, und die Befriedigung, mich weinen zu sehen, wollte ich keinem einzigen dieser Bastarde geben, die gekommen waren, um meiner Mutter beim Sterben zuzuschauen. Ab und zu starrte ich auch hinüber zum Tempel der Göttlichen Einheit mit seinen großen Flügeltüren. Das doppelklingige Schwert des Wy prangte auf der einen Seite und die zerbrochene Ährenkrone der Lchnadra auf der anderen, das verschlungene Zeichen der Einheit in der Mitte. Mir war, als hätte ich vergessen, was das alles bedeutete. Mir war, als hätte ich es nie gewusst.

Schließlich, nachdem ein starker Wind aufgekommen war, der über die Menge fuhr und mich in meinem Kleidchen frieren ließ, schwangen die Türflügel auf. Stille, wieder diese Stille, senkte sich über den Großen Platz, als Ktorram Asnuor heraustrat, Mnuran Sna zu seiner Linken. Sie wurden gefolgt von einer Riege Wypriester, die eine gebundene, schwarzgekleidete Frau flankierten. Vereinzelte geschriene Verwünschungen durchbrachen die unnatürliche Lautlosigkeit beim Anblick der Baummörderin, doch nur seltsam wenige, als sei den Leuten erst in diesem Moment bewusst geworden, dass es hier tatsächlich darum ging, eine lebende, fühlende Nchrynna den Flammen zu überantworten. Vielleicht waren sie aber auch mit Stummheit geschlagen vor Entsetzen, welches Ausmaß an Bösem sich in Fleisch und Blut verbergen konnte, in der Gestalt einer feingliedrigen Frau mit gebundenen Händen und gesenktem Haupt.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die kleine Prozession beim Scheiterhaufen anlangte. Als die Wypriester die schwarzgekleidete Frau an den Pfahl banden, der aus den Kness-Garben herausragte, schloss ich die Augen. Doch das anschwellende Dröhnen der aus ihrer Erstarrung erwachenden Menge konnte ich nicht aussperren.

»Sieh hin, Kind«, hörte ich die Stimme meiner Muttersmutter durch das Dröhnen hindurch. »Du musst hinsehen!«

Das Kalte in mir gab ihr recht. Es war Gesetz, dass die Familie einer Nembdr bei deren Hinrichtung Zeuge zu sein hatte, ganz besonders ihre weiblichen Nachkommen, da es hieß, dass diese Erfahrung das einzige Mittel sei, den Einfluss der Dechalsdienerin auszubrennen. Ich wurde nicht allein von der nach Genugtuung und Sensationen lechzenden Menge beobachtet. Nur mein Status als Tochter der Großen Alten hatte mir eine offizielle Befragung durch die Wypriester erspart, aber niemand konnte vorhersagen, was passieren würde, sollte ich Ktorram Asnuor und den Seinen einen Grund geben, an meiner Wyergebenheit zu zweifeln. Und so sah ich zu, wie die schwarzgekleidete Frau an den Pfahl gefesselt wurde, wie die Priester den Kness mit Öl tränkten und wie die Mörder meiner Mutter auf die Tribüne stolzierten, als wären sie Wys größtes Geschenk an die Nchrynnai. Die Menge jubelte Sna und Asnuor zu, doch ich sah auch Leute, die sich abwandten und versuchten, sich durch die Masse an Leibern zu kämpfen, um den Großen Platz zu verlassen. Einige Frauen vergruben ihre Gesichter an den Schultern ihrer Männer, und ich fragte mich, was sie hier zu suchen hatten, wenn sie nicht gekommen waren, um die Baummörderin brennen zu sehen.

Ehe ich eine Antwort finden konnte, forderte die unwiderstehliche Stimme des Obersten Priesters meine Aufmerksamkeit; selbst jetzt, da ich hasste, was sie sagte, schlug sie in mir eine Saite an, gegen deren Schwingen ich mich nicht wehren konnte. Sie sprach wieder über den furchtbaren Frevel, der begangen worden war und das Memnáh in seinen Grundfesten erschüttert hatte, und sie dankte dem Ersterschaffer dafür, dass die widernatürliche Dechalsdienerin entdeckt worden war, damit sie und ihre Wyvergessenheit aus der Welt gebrannt werden konnten. Die Menge jubelte wieder. Meine Kälte verachtete sie, mein Entsetzen fürchtete sie, und ich hasste sie. Die Stimme aber sagte, nein, heute sei kein Tag des Jubels, sondern ein Tag der Trauer, denn ein Kind der Einheit an den Göttlichen Gegner zu verlieren, sei immer einer Niederlage für das gesamte Memnáh. So widernatürlich die Nembdr auch sei, die dort auf dem Scheiterhaufen auf ihre Strafe warte, sei sie doch einst eine Tochter des Höchsten gewesen. Und aus irgendeinem Grund – das war das Seltsamste – glaubte ich der Stimme die Trauer, die in ihren samtenen Tiefen lag, und die Menge tat es auch, denn es wurde wieder ganz still. Doch irgendwo begann ein langgezogener Schrei in den Himmel zu steigen, der nicht mehr abbrechen wollte, auf den jedoch niemand reagierte. Er war schrill und hoch, der Schrei, und ging mir auf die Nerven, weil er mein Herz zerreißen wollte, das ich doch noch so notwendig brauchte für die schwarze Frau auf dem Scheiterhaufen, die in ihrem Dechalsgewand reglos auf dem schmutzig-grauen Kness stand und ins Nichts starrte. Es war, als wäre sie gar nicht da, und für einen Moment beneidete ich sie um ihre stoische Ruhe. Doch ich hatte sie immer bewundert und beneidet, diese Frau, die alles war, was ich nicht war, streitbar und stark und standhaft. Und die Stimme sprach davon, wie das Feuer das Herz der Frau und deren Familie reinwaschen könne, und dann redete die Stimme von der Macht des Blutes, denn Blut sei Leben und das sei das Gegenteil des Todes, und auch das Blut wasche uns rein, und sie sagte: »Blut das Blut von seinem Blut vergießt, um die Sünden des Blutes zu tilgen, findet Gnade vor Wy.« Kenntyrr, sagte die Stimme immer und immer wieder, denn das ist es, was ›Blut‹ in meiner Sprache bedeutet, und ich hörte meine Muttersmutter laut Atem holen und ein »Der Einheit sei Dank« ausstoßen, das ich einen Moment lang nicht verstand – für einen viel zu langen Moment, in dem sich garstige Hoffnung in mein Herz einzunisten begann, die wahnwitzige Hoffnung, dass meine Mutter doch irgendwie noch überleben könnte. Dann aber begriff ich, dass Ktorram Asnuor nicht länger von Blut, von Kenntyrr, im eigentlichen Sinne redete, sondern von jenem Dolchstoß ins Herz, mit dem ein Verräter seine Ehre vor Wy zurückgewinnen kann, oder von jenem Kehlenschnitt, mit dem ein Mann aus der Familie einer Nembdr der verdammten Frau Gnade vor dem Allerhöchsten erwirkt – und ihr einen qualvollen Tod in den Flammen erspart. Die Hoffnung in meinem Herzen starb in ihren Kinderschuhen, doch gleichzeitig stimmte ich mit jeder Faser meines Ichs in das Dankgebet meiner Muttersmutter ein. Wenigstens würde der Dechalssohn, der sich Oberster Priester schimpfte, der Frau auf dem Scheiterhaufen einen schnellen Tod gewähren; selbst ich wusste, dass dies alles an Gnade war, was von ihm zu erwarten war.

 

Doch während Ktorram Asnuor die Reihen der Neoly-Männer abschritt und jedem einzelnen von ihnen die rituelle Frage nach seiner Bereitschaft stellte, der Nembdr das Kenntyrr zu gewähren, musste ich erkennen, dass es wohl mehr an Gnade war, als die Neolys bereit waren, der Abnormität aus ihren eigenen Reihen zu erweisen.

Es war wie ein Schlag in die Magengrube, eines ums andere Mal, als jene Männer, die ich schon mein ganzes Leben lang kannte, denen ich unzählige Male Wein gebracht hatte, die mich in die Luft gewirbelt hatten, als ich klein war, deren angeregten Gesprächen ich mit aufgesperrten Ohren und offenem Mund zugehört hatte, während sie so taten, als würden sie mich nicht bemerken – als einer nach dem anderen meiner Vettern und Onkel den bohrenden Blick des Obersten Priesters augenblickskurz erwiderte, nur um dann den Kopf zu senken und einen Schritt zurückzutreten. Ich hörte den schweren Atem meiner Muttersmutter in meinem Nacken, obwohl die Menge zu unseren Füßen immer unruhiger wurde, während mir Unglauben und Fassungslosigkeit die Augen weiteten und die Kehle zuschnürten. Großonkel Sekkar (komm schon, Onkelchen): der kurze Blick und ein Schritt zurück. Quescnarm (was du tust, weiß ich, du Bastard): der Schritt zurück, ohne auch nur aufzublicken. Zernteyb (oh, bitte, Onkel Zeb, reiß dich zusammen, es geht hier um Lys, du weißt schon, um Lys, so anders als deine weiche Teggri, Lys, die einst Glut hatte in ihrem Blick und die Stärke der Erde in ihrem Gang): ein Blick voller schmerzhaftem Zögern und dann der verzagte Schritt zurück. Mein Vater … Meine Hände krallten sich in die Brüstung unseres Prangers. Nadahn!, schrie mein Herz, wie ich meinen Vater nicht mehr genannt hatte, seit ich ein Kleinkind gewesen war, und für einen Moment war alles vergessen, was er getan hatte, ich sah nur, dass da mein Vater stand, der alles gutmachen würde.

»Charrann Kenntyrr«, fragte Ktorram Asnuor. Die Frau ist des Mannes … »Seid, Ihr bereit, Morrtahn, Euer Blut zu vergießen«, … denn er sei ihre Welt, und ihre ganze Welt sei sein …, »dem Ersterschaffer zu Ehren und Seine Gnade zu erlangen«, … und Mann und Frau seien Eins bis ans Ende der Zeit …, »für diese Tochter Dechals, um sie dem Nichtsein zu entreißen?«

Die bodenlosen Augen meines Vaters starrten direkt in die durchscheinenden des Obersten Priesters, und es schien, als würde eine Botschaft ausgetauscht, und ich meinte, Widerstand zu erkennen in dem dunklen, dunklen Blick, und dann trat mein Vater mit unbewegter Miene einen Schritt zurück. Ein kollektiver Ausruf des Schocks ging durch die Menge, und ich glaube, mein Herz blieb einen Moment lang stehen, doch dann begann es zu rasen, denn neben meinem Vater stand Vairrynn.

»Nein«, flüsterte ich, »nein!«

Der ununterbrochene Schrei, der in den Himmel stieg, wurde lauter und schriller, und noch immer tat niemand etwas dagegen. Ktorram Asnuor stand meinem Bruder gegenüber, und die beiden hellen Augenpaare verbissen sich ineinander. Der gesamte Große Platz schien den Atem anzuhalten, als sich der Moment immer mehr in die Länge zog, ohne dass sich einer der beiden Männer rührte. Mein Bruder wurde noch blasser als er ohnehin schon gewesen war, aber er zuckte noch nicht einmal mit der Wimper, während ihn der Blick des Obersten Priesters zu verschlingen schien.

»Charrann Kenntyrr«, fragte Ktorram Asnuor schließlich, und die Stimme war wie flüssiger Samt. Ich sah, wie die Kiefer meines Bruders sich verkrampften und seine Hand zu seinem Gürtel fuhr, und dann zog er seinen Kschurr, und die Menge seufzte, und der Oberste Priester lächelte, ach, so weich, und das Lächeln legte sich um meine Kehle wie eine Würgeschlinge. Hätte ich es benennen sollen, ich hätte es Stolz genannt.

»Nein!!«, schrie die Frau auf dem Scheiterhaufen, und Nein!, schrie jede Faser meines Ichs, denn ich wusste, ich würde meinen Bruder verlieren, würde er der Verurteilten den Gnadentod geben. Vairrynn öffnete bereits den Mund, doch da trat mein Großvater vor, den eigenen Kschurr schon gezogen und antwortete an seiner Stelle: »Kenntyrr Charrann.«

»Der Einheit sei Dank«, seufzte meine Muttersmutter wieder, und ich begann von Neuem zu zittern. Der Schrei wurde wieder ein wenig leiser, klang jetzt eher wie ein Wimmern. Der Oberste Priester sah den alten Neoly einen Moment lang mit hochgezogenen Brauen an, als würde er tatsächlich in Erwägung ziehen, es dem Patriarchen zu verwehren, den Platz seines Enkels einzunehmen. Doch dann nickte er huldvoll. Ich glaube, ich habe ihn nie mehr gehasst als in diesem einen Augenblick.

Während der alte Neoly zum Scheiterhaufen hinüberschritt, beobachtete ich hämmernden Herzens die regungslose Gestalt meines Bruders. Vairrynn stand da vor der starrenden Menge wie gefroren, den Kschurr noch immer in der Hand und blankes Entsetzen im Gesicht. Plötzlich sackte er regelrecht in sich zusammen. Vater war einen Augenblick später an seiner Seite, um ihn zu stützen. Im ersten Moment sah Vairrynn ihn dankbar an, doch dann verschloss sich seine Miene, als wäre eine Tür in seinem Gesicht zugefallen, und er befreite seinen Arm ruckartig aus dem Griff meines Vaters. Ich konnte den letzten Blick nicht ausmachen, den Vairrynn Vater zuwarf, welcher Ausdruck in den hellen grauen Augen lag, aber ich sah den jähen Zorn im Gesicht meines Vaters und etwas, das an Abscheu grenzte.

An jedem anderen Ort und zu jeder anderen Zeit hätte mich dieser stumme Austausch zutiefst verstört. Hier und jetzt jedoch hatte ich einfach kein Erschrecken mehr übrig. Denn mein Großvater hatte den Scheiterhaufen erklommen und war vor der Frau im Dechalsgewand zum Stehen gekommen. Stumm sahen sie sich an, der Alte und die Frau, und ich glaubte, sie lächeln zu sehen, was nicht sein konnte. Ein Raunen wie Wind im Gezweig ging durch die Menge, als der Alte das Heft seines Kschurrs an die Stirn drückte und seinen Kopf neigte vor der Frau in einer universellen Geste der Hochachtung. Dann war seine Hand in ihrem Haar und schneller fast, als das Auge folgen konnte, fuhr die glänzende Klinge durch die Kehle der Frau. Ein Strom von Rot ergoss sich über das schwarze Kleid, und wenn ihr Körper noch versuchen wollte, sich ins Leben zu bäumen, so hinderten ihn die Fesseln daran, die ihn an den Schandpfahl banden. Doch erst als der Kopf der Frau schließlich leblos zur Seite fiel, begriff ich, dass die Tote da am Pfahl meine Mutter war.