Za darmo

Der Theatermonolog in den Schauspielen von Hans Sachs und die Literarisierung des Fastnachtspiels

Tekst
0
Recenzje
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

2 Figurenkonzeption in G 22 Der farendt Schuler im Paradeiß

Das Fastnachtspiel G 22 Der farendt Schuler im Paradeiß dichtete Sachs am 8. Oktober 1550, zwei Tage vor G 23.1 Den Stoff hatte er bereits ein Jahr zuvor im Meisterlied Der farent schuler mit der pewrin bearbeitet.2 Als Vorlage diente ihm jeweils Exemplum Nr. 463 aus Johannes Paulis Schimpf und Ernst.3 Er nutzte die Exempla-Sammlung4 des Franziskaner-Mönchs – neben dem Dekameron seine am häufigsten verwendete Quelle – in neun weiteren Fastnachtspielen als Vorlage. Im Gegensatz zum Dekameron fällt die Veröffentlichung von Paulis Schimpf und Ernst 1521 in eine Phase, in der Sachs bereits literarisch tätig war.

Die Besonderheit von Paulis 693 heiteren und ernsten Prosaerzählungen5 ist die Einbettung in die Predigtpraxis. Als Predigtgrundlage für Geistliche – so Pauli im Vorwort – sollen die Exempla ein gutes Rezept gegen den Kirchenschlaf sein und darüberhinaus gegen Melancholie helfen.6 Im Unterschied zum Dekameron handelt es sich bei den einzelnen Erzählungen um Exempla, die einer theologischen „Sanktionierung“7 unterlagen.

Paulis gundlegende Dichtungsintention, delectare et prodesse, d.h. mit heiteren Geschichten zur Besserung der Menschen beizutragen, unterscheidet sich nicht wesentlich von der seiner Zeitgenossen.8 Der Untschied zu den neulateinischen Dichtern liegt jedoch im Rezipientenkreis: Widmete sich Pauli der Laienunterweisung in der Predigt und richtete sich damit an Rezipienten mit keiner oder geringer Bildung, so dichteten die Humanisten für einen gelehrten Rezipientenkreis.9

Trotz der konfessionellen Differenz zwischen Pauli und Sachs sowie dessen reformatorischen Zeitgenossen macht sich die Ausrichtung auf einen nicht-gelehrten Rezipientenkreis in der Predigt besonders während der Reformation bemerkbar, weil dessen Zustimmung unabdingbar für die Durchsetzung der neuen Lehre ist. Hier nun greifen Rhetorik und Predigt ineinander, auch wenn bereits Augustinus den Weg geebnet hatte.10 Einerseits bedarf es rhetorisch versierter Prediger, die die neue Lehre in der Volkssprache verständlich verbreiten können; die aber andererseits auch den gelehrten Auseinandersetzungen mit der Gegenseite gewachsen sind.11 Eindrücklich führt dies Kaspar Goldtwurm 1545 in seinen Schemata rhetorica12 vor, die sich nicht auf Inhalte, sondern auf stilistische Eleganz beziehen.13 Sein Werk ist eine „breit angelegte Figurenlehre, wie wir sie auch für den humanistischen Schulbetrieb kennen,“ die er allerdings „explizit für den praktischen Gebrauch des evangelischen Predigers eingerichtet“14 hat. Für Goldtwurm ist die Rhetorik „ein Instrument für die Auseinandersetzungen im Streit der Konfessionen.“15 Dass es ihm vor allem um die Schönheit des Predigttextes geht, begründet er mit dem affektiven „persuasive[n] Wirkungsgrad“, den Texte auf Adressaten haben, wenn sie „‚lüstig und lieblich zu hören‘ sind“.16

Weil die Rhetorik für die reformatorische Wissensvermittlung im Allgemeinen und die Predigtpraxis im Besonderen kirchlich in den Dienst genommen werden kann, erlangt sie nicht nur „Luthers Hochachtung“.17 Sie ist Mittel der Wahl, um dem „Persuasionsdruck in den konfessionellen Auseinandersetzungen“ stand zu halten und der „Mündlichkeit als herrschende[r] Basisperformanzart“18 Rechnung zu tragen. Freilich müssen die Rezipienten über ein gewisses Maß an Grundbildung verfügen, das Luther nachdrücklich fordert. Nur so ist es möglich, Laien überhaupt „in einen ‚öffentlichen‘ Argumentations- und Persuasionsprozess über Glaubensfragen einbinden zu können“.19

Als „Bestandteil christlicher Verkündigung“20 entfaltet die Rhetorik ihre Wirksamkeit insbesondere in der Predigt. Wie dieses Zusammenspiel funktioniert, erläutert Luther mit Bezug auf Apostel Paulus in seinen Tischreden:

Die Dialektik lehrt, die Rhetorik bewegt. Jene gehört zum Verstand, diese zum Willen […] und diese beiden machen eine Predigt aus […]. Aber es kommt noch ein Drittes hinzu, was auch rhetorisch ist, nämlich das Erklären (illustrans) der Predigt. Das geschieht durch Anführungen von Bibelstellen, Beispielen, Gleichnissen und anderem Redeschmuck dieser Art, womit die Zuhörer bewogen werden können, deinem Worte zu glauben und zu gehorchen.21

Im Sinne der artes praedicandi soll nach Luther ein Prediger für die Lehre und Ermahnung (docere und exhortare) auf Dialektik und Rhetorik zugleich zurückgreifen.22 Besondere Beachtung schenkt Luther hierfür den Exempla. Sie erfüllen ihre „Aufgabe sowohl zum docere als auch zum delectare und movere“ und sind „damit allen Teilen der Predigt dienlich.“23 Wie Luther die Wirkung von Exempla in seinen eigenen Predigten verstanden wissen will, zeigen seine Ausführungen zu Joh 14 und 15. Als er vor der Kunst des Teufels, Eheleute und Freunde zu entzweien, warnen will, greift er auf einen Stoff zurück, den auch Sachs 1545 im Fastnachtspiel G 18 Der Teüffel mit dem alten Weyb bearbeitet. Mit folgenden Worten leitet er die Erzählung ein: „Man lieset hievon ein exempel, das mag also ertichtet sein, doch reimet sichs recht hie zu, des Teuffels kunst zu zeigen.“24 Die Fiktionalität einer Geschichte stellt somit kein Problem dar, solange die Geschichte hilft, Inhalte zu vermitteln, die Hörer zu bewegen und das Herz zu berühen; denn „Glaube vollzieht sich im Affekt.“25 „Luthers Rhetorik-Theorie zielt […] im Kern immer auf die Predigt ab als dem maßgeblichen rhetorik-relevanten Kommunikationsereignis der Kirche“26, das nicht nur dem Orator, sondern auch dem Auditor eine entscheidende Rolle zuweist. Der Auditor fällt im Interaktionsgeschehen ein doppeltes Urteil (duplex iudicium): „Das innere Urteil über das Gesagte […] bewirkt nur der Geist Gottes selbst. Das äußere Urteil fällt der Hörer aufgrund der Einfluss nehmenden Rede des Predigers.“27

Zwar gibt es von Luther keine expliziten theoretischen Abhandlungen zur Rhetorik, so dass seine Vorstellungen von ihr aus einzelnen Äußerungen zusammengetragen werden müssen. Dabei zeigt sich, dass er grundsätzlich mit dem Konzept von Melanchthons De Rhetorica libri tres aus dem Jahr 1519 übereinstimmt, wofür insbesondere die Erweiterung um das docere ursächlich ist.28 In Melanchthons Rhetorik sind die handlungsanleitende Rhetorik, die belehrende Dialektik und die exegetische Predigt vereint. Er führt die methodische Lehrrede, die eigentlich zur Dialektik zu rechnen ist,29 als neue rhetorische Gattung ein und erweitert das genus demonstrativum um das docere.30 Er zieht

die Konsequenz aus den eigenen Erfahrungen als Lehrer, der Sachverhalte vortragen muß, und aus den Erfahrungen der Prediger, die Wahrheiten verkünden und erklären müssen. […] Dem genus demonstrativum stellen sich zwei Aufgaben: erstens, daß man mittels treffender Gesichtspunkte (‚per locos suos‘) sofort all das zur Hand hat, was es bezüglich einer Sache gibt; zweitens, daß diese Gesichtspunkte in einer Anordnung vorgebracht werden, mittels derer sich der Hörer den Gegenstand am wirkungsvollsten einprägen kann. Manche nennen dies die methodische Art oder Gattung, manche die apodeiktische, manche die didaktische, manche die epistemische.31

Die besondere Ausrichtung auf die Belange der Theologen zeigt sich im Predigtkapitel de sacris concionibus, das er in die nachfolgenden rhetorischen Lehrbücher nicht mehr integriert, sondern als eigenständige Predigtlehre veröffentlicht.32 In dem kurzen Predigtkapitel entwickelt Melanchthon allerdings schon „die bis heute gültige Gattungsunterscheidung von Schriftpredigt (Homilie) und Themapredigt“,33 wonach die Predigt entweder als Mahnung oder als Lehre verfasst werden sollte.

Letzterer gilt dabei Melanchthons Hauptinteresse, weil die wichtigste Aufgabe der Prediger die Formung guter Sitten ist. Und hier gewinnt nun die neue Redegattung an Bedeutung: Will der Pfarrer seine Gemeinde recht und verständlich belehren, muß die Predigt methodisch eine Lehrrede sein.34

Weil das docere allein allerdings ermüdend sei, bedarf es der Anwendung der poetischen Mittel des delectare oder movere, um einen Sachverhalt angenehm oder mitreißend zu präsentieren.35

Die intendierte Funktion von Paulis Schimpf und Ernst als Reservoir von Predigtexempeln stellt eine spezifische historische Kontextualisierungsmöglichkeit der Fastnachtspieldichtung dar. Melanchthons Rhetorik von 1519 zeigt, wie die Zusammenhänge von Rhetorik, Dialektik und Exegese auch reformatorisches und humanistisches Schreiben beeinflussen. Freilich zielt die Dichtung des Franziskanermönchs nicht wie die von Sachs und Melanchthon auf reformatorische Wissensvermittlung. Weil Pauli seine Exempla-Sammlung für die Anwendung in der Predigt bestimmt hat, ist es ihm möglich, das delectare auf die Erzählung und das docere auf die in der Predigt anschließende Moralisierung zu verteilen. Sachs muss beides in seine dramatischen Texte integrieren, kann damit aber außerhalb des Gottesdienstes die protestantischen Lehren verbreiten.36 Dafür dient ihm im Fastnachtspiel G 22 Der farendt Schuler im Paradeiß maßgeblich die Figurenkonzeption:


1. Szene: Eine Bäuerin ist mit ihrem zweiten Ehemann unzufrieden und denkt an die schönen Zeiten mit ihrem verstorbenen Mann zurück. Ein fahrender Schüler kommt zu ihr und bittet um Almosen. Er sagt, er sei aus Paris, doch die Bäuerin versteht, dass er aus dem Paradies komme. Sie fragt ihn, ob er ihren verstorbenen Mann gesehen habe. Er berichtet, dass es ihrem Mann sehr schlecht gehe, woraufhin sie ihm Geld und Kleidung für ihren Mann mitgibt.
2. Szene: Als der Ehemann nach hause kommt, erzählt ihm seine Frau vom Besuch des Schülers und listet die mitgegebenen Dinge auf. Ihr Mann will wissen, wo der Schüler hingegangen ist. Er wolle ihm noch mehr Geld für den Verstorbenen geben, wie er sagt, beabsichtigt aber, dem Schüler alles wieder abzunehmen.
3. Szene: Der Schüler freut sich über sein Glück, sieht aber den Bauern kommen. Deshalb versteckt er die Kleidung und das Geld. Als der Bauer ihn nach dem Gesuchten fragt, erklärt der Fahrende, dass er ihn in den Wald habe laufen sehen. Der Bauer bittet den Schüler, auf sein Pferd aufzupassen, und geht zum Wald. Der Schüler freut sich, dass er nun auch noch ein Pferd bekommen hat.
4. Szene: Die Bäuerin fragt sich, wo ihr Mann so lange bleibt. Sie will in die Stadt gehen.
5. Szene: Der Bauer bemerkt, dass er betrogen wurde. Er sucht nach einer Ausrede, da er seine Dummheit keinesfalls seiner Frau gestehen will. Als sie zu ihm kommt, berichtet er, dass er dem Schüler auch das Pferd für ihren Mann mitgegeben hat. Sie solle jedoch niemanden davon erzählen. Sie erwidert, dass sie es schon allen Leuten im Dorf erzählt habe. Der Bauer beschließt das Spiel mit der Einsicht, dass jedem Fehler passieren können.

Das Fastnachtspiel hat drei Figuren, die Bäuerin, den Bauer und den fahrenden Schüler, deren Konzeptionen sich nicht zuletzt wegen der acht Monologe deutlich von denen der Vorlage unterscheiden.

 

An dieser nimmt Sachs erhebliche Umarbeitungen vor, die nicht nur der Länge des Fastnachtspiels geschuldet sind.37 Unter Beibehaltung des Handlungsverlaufes gewichtet er einzelne Abschnitte neu und verfeinert die Figurenkonstruktion.38 Vorrangig stellt die folgende Analyse dar, wie Sachs die aus der humanistischen Gelehrtenkultur adaptierte poetologische Kompetenz nutzt, um durch die Figuren seine eigene moralische Deutung in das Fastnachtspiel zu integrieren.

Schon die Eingangssituationen im Schwank und im Fastnachtspiel verdeutlichen, wie Sachs die in der Vorlage gegebene Figur ausgestaltet. Bei Pauli heißt es:

Es was ein fraw die was nit gantz witzig, die was aber reich, vnd het ein sun gehabt der was gestorben. Vff ein mal da was der her in dem rat, da kam ein farner schůler der begert ein suppen von ir, die fraw gab im zů ess, vnd sahe das gernlin das er an het, vnd sprach zů im. Ich sihe das ir ein farner schůler sein, vnd mein sun ist in ein ander welt gefaren, haben ir in nit gesehen. (Schimpf und Ernst 1866, S. 274, Z. 1–8.)

Der Erzähler charakterisiert die Frau im ersten Satz als nicht sehr schlau („nit gantz witzig“). Während ihr Mann in einer Ratssitzung ist – die Handlung spielt folglich im städtischen Milieu –, verköstigt sie einen fahrenden Schüler und fragt ihn, ob er nicht ihren Sohn gesehen habe, da er doch so weit herumkomme, und auch ihr Sohn „in ein ander welt gefaren“ sei.

Sachs lässt sein Fastnachtspiel mit einem Expositionsmonolog (vv. 1–16) beginnen, der wie im Schwank die Protagonistin in das Geschehen einführt. Auch wenn die Nebentextpassagen generell äußerst knapp gehalten sind, zeichnet sich durch „Die Pewrin gehet ein vnnd spricht“ zumindest in diesem Fastnachtspiel für den Leser ab, dass es im bäuerlichen Milieu situiert ist; für die Zuschauer wird dies wahrscheinlich durch die Kleidung ersichtlich. Erst im weiteren Verlauf der Handlung wird dieser Aspekt auch durch Figurenrede offensichtlich, in ihrer ersten Rede indes noch nicht:


Ach wie manchen seufftzen ich senck,
Wenn ich vergangner zeit gedenck,
Da noch Lebet mein erster Man,
Den ich ye lenger lieb gewan,
5 Dergleich er mich auch wiederumb,
Wann er war einfeltig vnd frumb.
Mit jm ist all mein frewdt gestorben,
Wie wol mich hat ein andr erworben.
Der ist meimb ersten gar vngleich,
10 Er ist karg und wil werden Reich,
Er kratzt vnd spardt zusam das gut,
Hab bey jm weder frewdt noch mut.
Gott gnad noch meinem Man, dem alten,
Der mich viel freundtlicher thet halten;
15 Kuͤndt ich jm etwas guts noch than,
Ich wolt mich halt nit saumen dran.

Der Monolog dient über weite Teile als externe Analepse und zugleich als Charakterisierung des zweiten Mannes anhand der Kontrastierung mit dem ersten. Die Alleinrede führt in das wesentliche Thema des Stückes, das Verhältnis der beiden Eheleute, ein. Der jetzige Mann wird als geiziger Mensch, der seine Frau nicht glücklich macht, charakterisiert. Während in der Vorlage der Sohn verstorben ist, betrauert bei Sachs die Bäuerin ihren verstorbenen Ehemann. Durch diese Umänderung kann Sachs ein eifersüchtig-eheliches, letztlich das theologische Ehesakrament selbst betreffendes Konfliktpotenzial in das Fastnachtspiel integrieren, das im Schwank nicht vorhanden ist.

Das als zukunftsungewisse und damit erwartungsweckende Prolepse konzipierte Ende der Rede (vv. 15–16) bringt das handlungsauslösende Motiv ins Spiel: Die Bäuerin würde ihrem verstorbenen Mann etwas Gutes tun, wenn sie nur könnte.39 Im anschließenden Dialog zwischen dem fahrenden Schüler und der Bäuerin wird diese Bereitschaft weiter konkretisiert.

Anders als für die Rezipienten von Paulis Schwank, denen der erste Satz unmissverständlich verdeutlicht, dass es sich um eine nicht sehr intelligente Frau handelt, bleibt diese Information den Figuren im inneren Kommunikationssystem des Fastnachtspiels vorenthalten. Sachs erreicht damit eine Verstärkung der Komik für genau jenen Moment, in dem die Bäuerin im Dialog mit dem Schüler statt Paris Paradies versteht und mit größter Selbstverständlichkeit das Paradies als erreichbaren geographischen Ort behandelt. Wie im Spiel G 57 mit der Absage des Domherrn an die Kupplerin40 vermittelt Sachs das überraschende Moment dialogisch. Die Naivität der Bäuerin ist im Expositionsmonolog nicht erkennbar. Sachs vermeidet regelrecht die Einführung dieser Figureneigenschaft, alle anderen handlungsrelevanten Figureneigenschaften hingegen präsentiert er, wenn auch in komprimierter Form. Die Parallelität von innerem und äußerem Kommunikationssystem führt mit dem Auftritt des fahrenden Schülers zu einem Überraschungsmoment und erzeugt Spannung auf seine Reaktion.

Weiter arbeitet Sachs in der ersten Szene die Rollenverständnisse in Bezug auf die Betrugssituation um. Entscheidet die Frau im Fastnachtspiel von sich aus, dem Schüler etwas für ihren frierenden und darbenden Mann mitzugeben, ist es bei Pauli der Schüler, der die Frau um Geld und Kleidung für den hungernden und frierenden Sohn bittet. Die im Schwank fehlende Reflexion des Schülers über die Situation, in der er sich entschließt, das Missverständnis zu seinem Vorteil zu nutzen, fügt Sachs dem Fastnachtspiel als Monolog (vv. 72–79) hinzu:


Das ist ein recht einfeltig Viech
Vnd ist gleich eben recht fuͤr mich,
Wenn sie viel gelts vnd kleider brecht,
75 Das wer fuͤr mich als gut vnd recht,
Wolt mich baldt mit trollen hienauß,
Eh wann der Pawer kemb ins Hauß.
Er wirt mir sunst mein sach verderben;
Ich hoff, ich woͤl den alten erben.

Der größten Teils proleptische Monolog, der eine Reflexion über das Gelingen des Betrugs ist, gibt nur im ersten Vers eine Wertung des bisherigen Geschehens, wenn der Schüler über die Dummheit der Frau nachdenkt. Die kurze Fremdcharakterisierung übersetzt nachträglich den Erzählerkommentar der Vorlage in die monologische Figurenrede. Weiter monologisiert der Schüler über die Situation, in die er ungeplant geraten ist. Neben der Feststellung, dass die Frau einfältig ist, erkennt er den durch das Missverständnis entstandenen Vorteil. Zum Gelingen muss er jedoch das Haus vor der Rückkehr des Mannes verlassen haben.

Im Schwank hingegen ist es die Frau, die im Beisein des Schülers nach der Übergabe der Kleidung und des Geldes für ihren Sohn über die Situation reflektiert und daraufhin den Schüler fort schickt, damit ihr Ehemann die ‚Geschenke‘ nicht wieder entwenden kann: „Machen euch bald damit hinweg, ee das mein man kumpt, wan er würd es euch sunst wider nemen.“ (Schimpf und Ernst 1866, S. 274, Z. 13–14)

Sachs lässt der Bäuerin zwar ihre Naivität, nimmt ihr aber einen Teil der auf sie entfallenden Schuld, indem er den endgültigen Eintritt des Vermögensverlustes nicht mehr durch selbstschädigendes Handeln der Bäuerin, sondern durch aktives Eingreifen des Schülers herbeiführt, der die Situation vollständig erkennt und ausnutzt.

Der Ausgangspunkt des Missverständnisses – die Bäuerin versteht Paradies statt Paris –, ist in Schwank und Fastnachtspiel identisch. Der Part, den Ehemann zu hintergehen, fällt im Fastnachtspiel dem Schüler zu. Diese Gewichtung kann nur durch den Reflexionsmonolog stattfinden, in dem es gerade nicht darum geht, das Missverständnis aufzuklären, sondern die Gelegenheit beim Schopf zu packen und vor dem Ehemann das Haus zu verlassen. Durch die abermals proleptische Ausrichtung, die im Schwank durch die Figurenrede der Frau und im Fastnachtspiel durch den Monolog gegeben ist, wird ein Spannungsmoment erzeugt, das auf den Auftritt des Mannes und das Gelingen des Betrugs ausgerichtet ist.

Im Hinblick auf die Stellung im szenischen Gefüge handelt es sich bei der Rede des Schülers um einen Überbrückungsmonolog für die verdeckte Handlung im Off, damit die Bäuerin Kleidung und Geld für ihren verstorbenen Mann zusammen suchen kann.

Im Schwank bestätigen sich die Vermutungen der Frau über das Verhalten ihres Mannes, der mit Zorn reagiert, als er von der Schenkung für den verstorbenen Sohn erfährt. Wenngleich Pauli die Erwiderung des Mannes auf den Bericht der Frau mit „vnd meint“ (Schimpf und Ernst 1866, S. 274, Z. 17) als narrativierte Gedankenrede und damit als einzige im Schwank vorhandene Monologandeutung gestaltet, erscheint die Haltung, anders als im Fastnachtspiel, für die Rezipienten ganz eindeutig als Wut: „Der man was zornig, vnd meint sie het im viel geltz geschickt, vnd sasz behend vff ein pferd, vnd ylet im nach, meint er wollt es im wider nehmen.“ (Schimpf und Ernst 1866, S. 274, Z. 16–18)

 

Sachs lässt den Mann seine Frau im Dialog glauben machen, er wolle ebenfalls dem Verstorbenen etwas Gutes tun und reite ihm deshalb nach. Am Ende der zweiten Szene reflektiert der Bauer über die vorgefundene Situation (vv. 159–178). Er schickt zuvor die Bäuerin mit dem Befehl „Geh, heiß mirn Knecht satteln das Roß“ (v. 157) von der Bühne und erhält hierdurch Raum für seinen Monolog. Nachdem sich der Bauer in seiner Reaktion der Frau gegenüber zunächst auffällig zurückgehalten hat, zeigt er jetzt seine wirkliche Meinung mit großem Affekt von Wut, der in den sprachlichen Handlungen von Klage und Drohung seinen Ausdruck findet:


Ach, Herr Gott, wie hab ich ein Weib,
160 Die ist an Seel, vernunfft vnd leib
Ein Dildap, Stockfisch, halber Nar,
Irs gleich ist nit vnser Pfarr,
Die sich lest vber reden leider,
Vnd schickt jrem Man gelt vnd kleider,
165 Der vor eim Jar gestorben ist,
Durch des farenden Schulers list.
Ich wil nach reitn, thu ich jn erjagen,
So wil ich jm die haudt vol schlagen,
In niderwerffen auff dem feldt,
170 Im wider nemen Kleidr vnd Gelt,
Darmit wil ich denn heimwartz kern
Und mein Weib wol mit feusten bern,
Des ploben geben umb die augen,
Das sie jr thorheit nit kuͤn laugen.
175 Ach, ich bin halt mit jr verdorben!
Ach, das ich hab vmb sie geworben,
Das muß mich rewen all mein tag,
Ich wolt, sie het Sanct Urbans blag.

Die einleitenden Worte der Affektdarstellung, einer Apostrophe ähnlich, gehen unmittelbar in eine Fremdcharakterisierung über. In einer repetitiven Analepse rekapituliert der Bauer hier unter Beschimpfung seiner Frau das vorausgegangene Gespräch und enthüllt seine wahre Meinung über ihr Verhalten. Lobt er sie dafür noch im Dialog, bringt er seine Wut im Monolog affektiv zum Ausdruck und will sie mit Schlägen zurechtweisen. Im Zwischenteil (vv. 167–170) fasst er den Entschluss, dem Schüler nachzureiten und ihm die Kleider und das Geld wieder abzunehmen. Zusammen mit den seiner Frau angedrohten Schlägen sind beide Abschnitte auf das zukünftige Geschehen ausgerichtet. Im szenischen Gefüge ist der Monolog als Überbrückungsmonolog gestaltet, wobei die Überbrückung, d.h. die Motivierung, die Frau das Pferd holen zu lassen, eigens für den Monolog konstruiert wurde. Sachs benutzt demnach eine strukturell-gliedernde Funktion, um die wahren Gedanken des Ehemannes darstellen zu können.

Blickt man noch einmal auf die Reaktion des Bauern im Dialog mit der Ehefrau zurück, ist diese vor dem Hintergrund der in Fastnachtspielen sonst typischen Verhaltensweisen bemerkenswert, zeigt sie doch im Vergleich zu diesen die hier vorgenommene größere Komplexität der Figurenkonstruktion.41

In Fastnachtspielen, vor allem in vorreformatorischen, werden Ehekonflikte nicht selten recht umstandslos mit Beschimpfungen und Prügeleien ausgetragen. Im Spiel G 22 fügt Sachs die Beschimpfung erst ein, wenn die Frau abwesend ist. Mithin nimmt er bereits in der ersten Konfrontation des Mannes mit dem Konflikt, im Dialog zwischen Bauer und Bäuerin, eine besondere Akzentsetzung in der Figurenzeichnung vor, indem er das Stereotype gerade nicht figurenspezifisch einsetzt: Es stellt vor allem in der lakonisch-ruhigen, im weitesten Sinne ironisch-nachsichtigen Reaktionsweise eine Alternative zum konfliktfördernden Aufbrausen vor. Diese Verhaltensalternative erhält ihre besondere Kontur in dem anschließenden Monolog, in dem der Ehemann die Bestrafung seiner Frau für ihr Torheit nun doch, als die ‚konventionelle‘ Reaktionsweise, in Aussicht stellt. Damit scheint die Verhaltensalternative der ‚friedvollen Nachsicht‘ fürs Erste abgetan, die der Monolog zumindest andeutet. Tatsächlich aber liefert der Monolog im dramatischen Handlungsbogen einen wichtigen Bezugspunkt für die spätere Einsicht, mit der Sachs die Verhaltensalternative für die Figur restituiert und gegen die Konvention als verallgemeinerbare Konfliktverarbeitungsmöglichkeit in der Ehe offeriert.42

Sachs fügt den Monolog an der Stelle ein, die im Fastnachtspiel wie im Schwank der Übergang zu einem stark geschehensdarstellenden Teil ist. Damit lehnt er sich wieder eng an die Vorlage an, während er durch die Figurenzeichnungen und Handlungsentwicklungen der ersten beiden Szenen weitgehend neue Akzente setzt.

Der Bauer vermutet richtig, dass der Schüler listig die Torheit seiner Frau ausgenutzt hat und dass sie sich von ihm überreden ließ, Kleidung und Geld wegzugeben. Allerdings wird der Schüler auch ohne eigene Reflexion, ob er die Bäuerin hätte aufklären müssen, teilweise entlastet.43 Im Dialog macht die Frau deutlich, dass sie auch künftig den Verstorbenen versorgen möchte, wofür sie sogar Geld beiseite schaffen und sparen möchte. Der Schüler erscheint trotz der Ingangsetzung der Betrugshandlung aus dieser Perspektive nur als ein ‚Medium‘, über das wertvolle Dinge zum geliebten Menschen fließen. Den eigentlichen Ursprung der Handlung verankert Sachs damit im Motiv der Bäuerin, während der hinzutretende Anteil des Schülers lediglich fördernd wirkt. Das naive Motiv, den toten Ehemann zu beschenken, trifft auf die Unverfrorenheit des Schülers, der die vorhandene Naivität ausnutzt.

Die dramatische Entfaltung der Didaxe in der Bearbeitung führt Sachs zunächst wesentlich über die drei Monologe in den ersten beiden Szenen ein. Die Klage der Frau um den verstorbenen Mann als Einstieg in das Spiel kontrastiert er mit den Beschimpfungen des jetzigen Ehemanns in dessen Monolog. Beide Monologe kennzeichnen wechselseitige Fremdcharakterisierungen und Missmut über das Schicksal, mit dem jeweils anderen verheiratet zu sein. Der Monolog des Schülers bringt das beide Haltungen verbindende Handlungsmoment der Situation zum Ausdruck. Die Monologe des Ehepaares bilden den Ehekonflikt ab. Dieser Konflikt ist latent aufgrund der Torheit der Ehefrau gegeben und tritt durch das skurrile Missverständnis handlungswirksam zutage. Wie die Reaktionsweisen des Bauern eine Handlungsalternative beinhalten, so ist auch hier im Ehekonflikt die Chance zu einer Alternative bereits angedeutet. Diese Chance wird ausführlich durch den Monolog eingeführt und am Ende der Geschehnisse für künftiges Handeln wirksam. Denn das für die Bäuerin skizzierte handlungsbegründende motivationale Konstrukt greift sie gegen Ende des Stückes wieder auf, wenn sie in der für sie völlig unerwarteten – vermeintlichen – Freigiebigkeit ihres Mannes Herzensgüte zu erkennen glaubt und ihm in gleicher Weise wie ihrem früheren Mann ewige Liebe und Treue bis über den Tod ins Paradies hinein verspricht.

Der dazwischen liegende Handlungsbogen ist durch die Einfältigkeit des Bauern bestimmt, mit der er der Bäuerin, wie sich zeigt, letztlich in Nichts nachsteht. Die Handlungssukzession ist wieder ganz wie in der Vorlage. Gewissermaßen proleptisch durch den Monolog des Bauern vorbereitet, enthüllt er, wie er sein Geld zurück bekommen will.

Dass der Mann seiner Frau erzählt, er wolle dem fahrenden Schüler noch mehr Geld für den Sohn bringen, kommt an dieser Stelle im Schwank nicht vor. Sachs verstärkt so zunächst den Kontrast zwischen der Haltung des Mannes gegenüber seiner Frau und der im Monolog geäußerten Wahrheit über seine eigentlichen Absichten. Für die Komik, die in diesem vorgeblichen Ziel des Mannes liegt, nutzt Sachs inhaltlich die Schlusspointe von Pauli, die er bereits an dieser Stelle einsetzt.