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Der Theatermonolog in den Schauspielen von Hans Sachs und die Literarisierung des Fastnachtspiels

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5 Zusammenfassung

Die Untersuchung der ausgewählten Tragedis und Comedis mit neulateinischen und antiken Vorlagen hat ergeben, dass Sachs trotz eigenständiger Dramentechnik punktuell dramaturgische Verfahren adaptierte und so seine Dramentechnik weiterentwickelte. Die Dramen Lucretia und Virginia, die auf dieselbe narrative Vorlage zurückgehen, zeigen zwar, dass Sachs von Beginn an eine selbstständige Funktionalisierung der Monologe vornahm. In beiden Bearbeitungen haben die Monologe, wie auch in späteren Fassungen, eine überbrückende Funktion und/oder stellen Affekte als Klage dar. Außer der überbrückenden Funktion findet sich für die Teichoskopie, die Sachs in den Fastnachtspielen nach 1550 häufig als Übergang in den Dialog einsetzt, keine entsprechende Monologstruktur in der Vorlage.

Wie sich der poetologische Aneignungsprozess schrittweise vollzog, macht der Vergleich mit der zweiten narrativen Vorlage, dem Dekameron, deutlich. Hier gliederte Sachs nicht nur die Handlung in Akte und Szenen, deren Einschnitte er mit Monologen strukturell-gliedernd kenntlich machte. Er integrierte auch die aus der Vorlage entnommenen Reflexionen und Affektdarstellungen. Um die Erzählerrede in dramatische Figurenrede umzusetzen, nutzte Sachs den Monolog komprimierend, wenn er in die Handlung mit der Exposition einführt und schwer inszenierbares Geschehen vermittelt, aber nicht darstellt. Diese komplexe Dramentechnik ist nur vor dem Hintergrund der dramatischen Bearbeitungen aus den 1530er Jahren verständlich. Denn in dieser Zeit bearbeitete er zunächst den Pluto und anschließend den Henno. Die im Pluto bereits nachweisbaren Formen wie Expositionsmonolog, Auftrittsmonolog zur Szenenstrukturierung oder die enthüllende Funktion wurden von Sachs erst mit der Henno-Bearbeitung vollständig adaptiert und selbstständig eingesetzt. Dies betrifft sowohl die strukturell-gliedernde als auch die handlungsbezogene Funktionalisierung. Neu auftretende Figuren charakterisieren sich selbst oder andere Figuren, sie enthüllen ihre Handlungsabsichten und geben den Rezipienten damit einen Informationsvorsprung, der die anschließenden Szenen komisch wirken lässt. Mit der strukturell-gliedernden Funktion am Szenen- oder Aktbeginn werden handlungsbezogen neue Figuren eingeführt und Ortswechsel und Zeitsprünge vermittelt.

Im Gegensatz zum Pluto, der simultan zu inszenierende Abschnitte hat, weist der Henno eine sukzessive Anordnung auf, so dass nur der Zutrittsmonolog im Beisein einer zweiten Figur gesprochen wird. Das sukzessive Prinzip ist eine Neuerung, die Sachs erst in den späten 1540er Jahren häufiger anwendete und die nach 1550 das simultane Prinzip fast vollständig verdrängte.

Die Bearbeitung des Judicium Paridis verdeutlicht, dass Sachs nicht unbedingt eine dramatische Vorlage brauchte, um Monologe strukturell-gliedernd oder zur Vermittlung eines Handlungsbogens einzusetzen. Dass er Discordias Rede als Auftritt-Abgangs-Monolog gestaltet, erscheint als Erweiterung des Auftrittsmonologs, der handlungsbezogen eine neue Figur einführt oder eine Enthüllung vermittelt. Es brauchte vielmehr eine dramatische oder narrative Vorlage, mit der Sachs dramentechnische Mittel der Henno-Bearbeitung eigenständig einsetzen konnte: Eine solche Vorlage fand er im Dekameron.

Nach 1550 bearbeitete Sachs 12 schwankhafte Dekameron-Novellen als Fastnachtspiele. Die dramaturgische Umsetzung einer komplexen komischen Handlung mit Hilfe des Monologs konnte er in den Menaechmi finden. Dort basiert die Komik auf einem Verwechslungsspiel mit Missverständnissen. Die Rezipienten müssen gegenüber den Figuren einen Wissensvorsprung haben, der es ihnen ermöglicht, die Missverständnisse als komisch zu empfinden. Das richtige Verständnis konnte Sachs am komprimiertesten mit dem Monolog sichern, indem dieser mit seiner strukturell-gliedernden Funktion einen neuen Abschnitt der Handlung einleitet. Hier konnte Sachs Wiedererkennungsmerkmale verankern, so dass seitens der Rezipienten eine Verwechslung ausgeschlossen war.

Dass die für das Fastnachtspiel bei Hans Sachs gattungskonstituierende Komik an das Handlungsverständnis gebunden ist, markiert den wesentlichen Unterschied zum vorreformatorischen Fastnachtspiel. Für die dramaturgische Umsetzung brauchte es Anknüpfungspunkte, die Sachs in der produktiven Rezeption der neulateinischen und antiken Vorlagen fand.

Teil C: Einzelanalysen ausgewählter Fastnachtspiele

Die poetologiehistorische Untersuchung hat gezeigt, dass die in der Typologie bereitgestellten Monologfunktionen einerseits in allen drei dramatischen Gattungen nachzuweisen sind; in den Fastnachtspielen maßgeblich nach 1550, in den Tragedis und Comedis bereits vor 1550. Andererseits zeigte sich, wie die Monologe auf ein Formenrepertoire zurückgehen, das schon in der humanistischen Gelehrtenkultur bestand und das Sachs sich in der produktiven Rezeption punktuell angeeignet hat.

Die folgenden Kapitel verdeutlichen nicht nur, wie extensiv Sachs die adaptierten Monologformen unabhängig von den Vorlagen in seinen Fastnachtspielen einsetzt, sondern wie er sie eigenständig für seine eigene reformatorische Deutung funktionalisiert. Damit wird der Prozess der Literarisierung greifbar, in dem Sachs die über die Textvorlagen der Tragedis und Comedis vermittelte humanistische Formkultur mit der reformatorisch geprägten Wissensvermittlung in eigenständiger Weise zu funktionaler Konvergenz bringt.

Drei der vier untersuchten Fastnachtspiele gehen auf narrative Vorlagen zurück. Das vierte ist ohne bekannte Vorlage gedichtet. Das Fastnachtspiel G 23 ist eine Bearbeitung einer Dekameron-Novelle. An ihm lässt sich ausführen, wie Sachs die kasuistische Vorlage in einen exemplarischen dramatischen Text umarbeitet. G 22 stellt zusätzlich zur Funktionalisierung der Figurenkonzeption eine spezifische historische Kontextualisierungsmöglichkeit der exemplarischen Fastnachtspieldichtung dar. Neben der Vorlage, einem Schwank aus Johannes Paulis Schimpf und Ernst, der als Predigtexempel dient, beinflussen auch Rhetorik, Dialektik und Exegese Sachs’ Dichtung. Ganz in diesem Sinne ändert er die Vorlage von G 51 – die 71. Historie des Eulenspiegel-Buches – um. Das Hauptaugenmerk liegt in diesem Kapitel auf der Strukturierung von Zeit und Ort. Abschließend wird im Fastnachtspiel G 40 die Funktionalisierung des Monologs zur Vermittlung von Komik herausgearbeitet.

1 Exemplarisches Erzählen in G 23 Der jung Kauffman Nicola mit seiner Sophia

Um darzustellen, wie weit die poetologische Kompetenz von Sachs im Jahr 1550 entwickelt war, ist in einem ersten Schritt der Aufbau des 1544 erschienenen Fastnachtspiels Der schwanger Pawer zu rekapitulieren. Es hat, wie auch G 23 Der jung Kauffman Nicola mit seiner Sophia (Dek. VIII, 10), gedichtet am 10. Oktober 1550, eine Dekameron-Novelle zur Vorlage (Dek. IX, 3).1

Vor allem den Beginn des Spiels G 16 von 1544 hat Sachs in ähnlicher Weise gestaltet, wie es für das vorreformatorische Fastnachtspiel charakteristisch ist: Die Gäste werden begrüßt und die zeitliche Gebundenheit an die Fastnacht wird hergestellt. Zwar nutzt Sachs hier bereits eine spielinterne Figur, doch leitet sie noch in der ersten Rede von der Fastnacht in die Spielrealität über. Auch mit der Länge von 324 Versen und der geringen szenischen Strukturierung bleibt der Nürnberger Dichter dem vorreformatorischen Fastnachtspielcharakter treu. Anders als in seinen Tragedis und Comedis mit Dekameron-Vorlagen finden sich hier keine komplexen Monologe. Lediglich einer, dieser im Nebentext mit ‚er red mit jm selb‘ eindeutig gegenüber anderen Formen der Figurenrede abgegrenzt, findet Verwendung. Er besteht aus einem Vers (v. 128) und bedarf auf der Bühne einer simultanen Präsentation. Sehr wahrscheinlich war es die narrativisierte Erzählerrede der Vorlage2, die Sachs hier veranlasste, erstmals im Fastnachtspiel einen Monolog im Nebentext auszuweisen.

Der Handlungsgang, d.h. die Hinführung zur Intrige, ihr Gelingen und das Ende, ist stark an die Vorlage angelehnt. Dennoch setzt Sachs eigene Akzente, indem er den Betrug im beachtlichen Umfang von 90 Versen mit dem Geiz begründet.3 Auch wenn die Handlungsstruktur der Quelle eine szenische Untergliederung nahelegt, überträgt Sachs diese bis v. 264 nicht. Die Bühne ist bis zu dieser Stelle nie leer, auch nicht, wenn offensichtlich ein größerer zeitlicher Sprung (vv. 113ff.) oder Ortswechsel (v. 158) zu inszenieren sind.4 Dieses Schema durchbricht Sachs, nachdem der Betrug gelungen ist, indem er das Mittel der leeren Bühne zur Szenenstrukturierung (v. 264) einsetzt. Ein Zeitsprung ist an dieser Position nicht in der Vorlage zu finden; es scheint Sachs vielmehr um die Verdeutlichung des Handlungsumschwungs gegangen zu sein. Bevor er den Einschnitt setzt, führt die Handlung zum Gelingen des Betrugs; nach dem Einschnitt macht der Handlungsfortgang deutlich, dass der Betrogene glimpflich davon gekommen ist.

Das Fastnachtspiel G 23 weist dagegen eine deutliche Szenenstrukturierung und 11 Monologe auf, von denen nur einer auf die Vorlage zurückzuführen ist. Die große Anzahl selbstständig eingefügter Monologe zeigt, wie sie funktional der Rezeptionslenkung dienen und Sachs damit die kasuistische Vorlage zu einem exemplarischen Fastnachtspiel umarbeitete. Die Integrationsleistung reflexiver, dilemmatischer Monologe aus den Dekameron-Bearbeitungen der Tragedis und Comedis bedarf von daher einer eingehenden Betrachtung.


1. Szene: Der seefahrende Kaufmann Nicola ist glücklich, denn er hat in Palermo eine Frau, Sophia, kennen gelernt. Aus Liebe zu ihr will er einen Monat länger bleiben. Sein Freund Chaningianus warnt ihn, dass sie ihn um sein Geld betrügen werde, doch findet er bei Nicola mit seinen Bedenken kein Gehör.
2. Szene: Sophia beauftragt ihre Magd, reichlich einzukaufen. Sie erzählt ihr, dass sie an Männern nur das Geld interessiere, weshalb sie Nicola derzeit am meisten liebe. Mit Geschenken habe sie ihn angelockt und werde ihm nun sein Geld abnehmen. Als Nicola zu Sophia kommt, erzählt sie, dass ihr Bruder gefangen genommen worden sei und sie sofort 1000 Gulden brauche, um ihn auszulösen. Sie sei verzweifelt, denn sie habe nur 500 Gulden. Nicola will ihr helfen, indem er ihr die fehlenden 500 Gulden leiht.
3. Szene: Die Magd berichtet, dass ihr Sophia befohlen habe, Nicola nicht ins Haus einzulassen, wenn er komme, um sein Geld zurück zu verlangen. Er könne sein Geld auch nicht vor Gericht einfordern, weil er weder Zeugen noch andere Beweismittel habe. Nicola kommt und wird nicht eingelassen. Die Magd will Sophia davon berichten.
4. Szene: Nicola ärgert sich, dass er nicht auf seinen Freund gehört hat, und will ihn um Rat bitten. Der Freund rät ihm, nach Salerno zu fahren und dort Tuchballen herzurichten, die nur mit Stroh gefüllt sind, sowie 20 Ölfässer mit Wasser zu füllen und diese ins Zollhaus nach Palermo zu bringen. Scheinbar immer noch wohlhabend, soll er so versuchen, Sophia zu ködern, um sein Geld zurück zu erhalten.
5. Szene: Sophia erzählt der Magd, dass Nicola abgereist sei und sie sich ein neues Opfer suchen wolle.
6. Szene: Nicola hat getan, was sein Freund ihm geraten hat, und will nun zu Sophia gehen, um sie mit seiner List ebenfalls zu betrügen.
7. Szene: Sophia hat den Kaufmann im Zollhaus gesehen. Die Magd berichtet, dass Nicola Tuch und Ölfässer ins Zollhaus gebracht hat. Sophia will ihn erneut betrügen. Nicola erzählt Sophia, dass er Ware im Wert von 2000 Gulden im Zollhaus habe und Ware im gleichen Wert noch per Schiff erwarte. Er habe vor, sich hier niederzulassen. Sie lädt ihn zum Abend ein und will ihm das geliehene Geld zurückgeben.
8. Szene: Die Magd wundert sich, dass Nicola nicht bemerkt, dass ihn Sophia nur betrügen will. Nicola erzählt Sophia, dass ihm die erwartete Ware auf dem Meer geraubt wurde. Er müsse 1000 Gulden Lösegeld bezahlen. Sophia will sich 1000 Gulden von einem Freund leihen und ihm damit helfen. Er soll ihr aber die Ware im Zollhaus als Pfand geben. Nicola freut sich darüber, dass sein Plan funktioniert. Sie gibt ihm das Geld.
9. Szene: Die Magd meint, dass der Übermut ihrer Herrin einmal bestraft werde. Sophia kommt hinzu und berichtet wütend, dass sie von Nicola betrogen wurde.
10. Szene: Lehre an das Publikum: Die „Hurerey“ verblende den Menschen so, dass er Ehre und Besitz aufs Spiel setze. Ein junger Mann sollte den Stand der Ehe bevorzugen, denn ‚falsche Frauen‘ würden weder Liebe noch Treue kennen.

Da die Bearbeitung erst mit dem handlungstragenden Teil einsetzt, fällt der Beginn der Novelle und damit gut ein Drittel5 der Vorlage fast vollständig weg. Die als doppelte Intrige konzipierte Handlung ist in der Vorlage nahezu identisch angelegt. Dennoch nimmt Sachs nicht nur Kürzungen vor, sondern setzt neue Akzente und arbeitet Passagen um, so dass dem Fastnachtspiel die Zweideutigkeit der Vorlage fehlt. Diese Unterschiede zeigen sich insbesondere, wenn die Analyse vom Ende des Stückes ausgehend erfolgt. Im Anschluss an die gelungene List fügt Sachs dem Fastnachtspiel eine an das Publikum gerichtete Lehrrede (vv. 374–387) an, die es im Dekameron nicht gibt:

 

Ihr Herrn, zwey ding mercket hiebey:
375 Erstlichen, wie die Hurerey
Ein Menschen verblendt also gantz,
Das er Ehr vnd gut schlecht int schantz,
Im selb schafft armut, schandt vnd spot,
Wirt feindtselig Menschen vnd Gott.
380 Zum andern mag man hie anschawen
Die listig art solch falscher Frawen,
So halten weder lieb noch trew,
Denn so weit sie das gelt erfrew.
Derhalb ein gsel jr muͤssig geh,
385 Begeb sich in den standt der Eh,
Aus dem jm gluͤck vnd heil erwachs;
Das wuͤnschet zu Nuͤrnberg Hans Sachs.

Die Lehre besagt erstens, dass ‚Hurerei‘, die falsche Liebe, Menschen verblendet, ihnen die Ehre nimmt und sie in Not bringt, sowie zweitens, dass listige Frauen nicht treu sind und junge Männer darum lieber in den Stand der Ehe treten sollten.

Erklären lässt sich der lehrende Zusatz mit den divergierenden Funktionstypen der Handlungsdarstellung im Dekameron und bei Sachs. Darin zeigt sich der wesentliche Unterschied, wie Dichtung auf die Rezipienten wirken soll.

Der Dichtungsansatz von Sachs ist exemplarisch, sodass er ein eindeutiges Interpretationsangebot der bearbeiteten Novelle liefert. Ein Exempel ist ein Text, der „‚von außen‘ in einen argumentativen Zusammenhang eines anderen Textes hineingezogen [wird], um diesen in seiner Argumentation durch ein Beispiel zu unterstützen.“6 Unterscheiden ließen sich die Formen des Exempels in einerseits mittelalterlich illustrativ, wobei der faktische „Einzelfall eine schon bekannte Regel erfahrbar macht.“7 Andererseits rhetorisch-argumentativ: hier soll mit Hilfe des Exempels eine „noch unbestimmte Regel“8 gewonnen werden. Während das Exempel in einen „narrativen Kontext eingebunden ist“, von dem es sich „strukturell unterscheide[t]“9, meint exemplarisches Erzählen, dass die Narratio auf ein Ziel ausgerichtet ist.10

Sachs fügt deshalb am Ende des Fastnachtspiels eine Lehrrede an, wenngleich nicht nur sie der Rezeptionslenkung dient. Dafür spricht einerseits der Umstand, dass Sachs nicht durchgehend in dieser Form auf eine Lehrrede zurückgreift. Andererseits sind es vielmehr die Erzählverfahren selbst, wie sie innerhalb des Fastnachtspiels Verwendung finden, die zu den am Ende stehenden Lehren hinführen bzw. selbst das Geschehen bewerten. Man kann in diesem Sinne davon sprechen, dass die Handlung eine Form erzählter Exemplarität ist, d.h. „der zu verhandelnde Fall eine darstellerische Ausgestaltung“ erhält und exemplarisch ist, weil er „in einem bestimmten […] gesellschaftlichen Zusammenhang einen Fall darstellt und das dargestellte Handeln kommentier[t].“11 Sachs kommentiert damit sowohl in der Lehre als auch in den Monologen, oder mit den Worten Stierles: „Was das Exemplum impliziert, ist der moralische Satz. Worin es sich expliziert, sein Medium, ist die Geschichte.“12

Für das Dekameron ist dagegen das kasuistische Erzählprinzip leitend. Der dargestellte Fall illustriert nicht eine bekannte Regel, vielmehr muss seine „Einordnung ins bestehende Wert- und Rechtssystem erst geleistet und diskutiert werden“13. Jolles’ Formulierung, dass ein Kasus zwar die Frage stellt, aber nicht die Antwort gibt14, führt Emmelius mit Bezug auf Stierle15 weiter aus. Demnach ist eine Dekameron-Novelle eine Geschichte,

die einen Kasus manifestiert. Kasus [ist] eine grundsätzlich offene ‚Form des Problematischen selbst‘ […], die in der Geschichtsstruktur der Novelle eine probehafte Lösung enthält, die ihrerseits diskussionswürdig ist, auch wenn dieses strittige Potential in der textinternen Rezeption der brigata dezidiert ausgeblendet bleibt.16

Das bedeutet jedoch nicht, dass Dekameron-Novellen keinen exemplarischen Gehalt haben, er „wird nur poblematisiert, reflektierbar gemacht“ und „zur Beurteilung vorgelegt“17. Darin liegt der grundlegende Unterschied zum exemplarischen Erzählen, das nicht zur Beurteilung, sondern zur Nachahmung anregen soll.18

Die interpretatorische Leistung bleibt im Dekameron den Rezipienten vorbehalten, weil eine eindeutige ‚moralisatio‘ der Novellen, d.h. ihre Kommentierung und Bewertung, ausbleibt. Das Dekameron stellt sich somit als ein Spiel mit dem Rezipienten dar, der sich in einem sicheren narrativen Rahmen wähnt, sich in Wirklichkeit jedoch permanenten Widersprüchen ausgesetzt sieht.19

Während die Rezeption der Dekameron-Novellen eine eigenständige Beurteilung erfordert, regt Sachs mit Hilfe der exemplarischen Handlungsdarstellungen seine Rezipienten zur Nachahmung an oder führt, wie im vorliegenden Fastnachtspiel, vor, wie man sich nicht verhalten sollte.

Insgesamt enthält das Fastnachtspiel 11 Monologe, womit gut ein Viertel (98 Verse) des Stückes aus monologischer Figurenrede besteht. Wie es für das Fastnachtspiel nach 1550 charakteristisch ist, wählt Sachs für den Einstieg in die Handlung einen Expositionsmonolog, der Teile der Vorlage wiedergibt. In der Novelle berichtet der Erzähler Dioneo vor dem Einsetzen der Intrigenhandlung vom Leben in Palermo. Er charakterisiert die Frauen der Stadt, die zwar „schöne frawen warn, aber zucht vnd ern grosse feindin waren, vnd wer ir natur nitt gekennet het sy für die züchtigisten frawen aller welt gehalten het“ (Arigo 1860, S. 533). Es handle sich um Prostituierte, professionelle Betrügerinnen und Beutelschneiderinnen, die Seefahrer und Kaufleute bezirzen, um sie um ihr Geld zu bringen. Sodann schildert er, wie die Liebesgeschichte von Bianchafiore und Nicolo Cingano begann.

Im Expositionsmonolog (vv. 1–20) von Nicola verbleibt gegenüber der Vorgeschichte der Novelle nur die Liebesbeziehung:


Ach, wie wol wil mir hie das gluͤck
Volkuͤmmenlich in allem stuͤck,
Bin hie zu Palermo gelegen
Von meins Kauffman handels wegen,
5 Zwey Monat lang, vnd mir zu frummen
In rechter liebe vberkummen
Ein Edle Frawen, schoͤn vnd zart,
Die mich gantz holdtseliger art
Lieb hat vnd pflegt freundtlicher weyß
10 Mit geschenck, koͤstlich tranck vnd speyß
Derhalb ich noch ein Monat bleib
Zu letzen mich mit diesem Weib,
Wiewol ich gester all mein war
Verkaufft hab, bin bezalet par
15 Golt gulden viertzig vnd fuͤnffhundert;
Auff das ich nit wert außgesuͤndert,
Wil ich gleich jetzt zu jr hingehn.
Schaw, schaw, sich ich nit dorten sthen
Chanigiano, mein freundt, den alten?
20 Ich eil, er sol mich nit auffhalten.

Im ersten Teil (vv. 1–12) reflektiert Nicola in einer vergleichweise kurz ausfallenden Affektdarstellung über sein Glück mit einer Frau. Der reflexive und auch der zweite berichtende Monologabschnitt dienen der Zusammenfassung und Wiedergabe der wichtigsten in der Vorlage präsentierten Sachverhalte. Die beiden Abschnitte stellen in knapper Ausführung dar, weshalb Nicola in Palermo weilt, wie lange er schon vor Ort ist, wie Sophia ihn für sich gewonnen und verführt hat, dass er seine ganze Ware mit gutem Gewinn verkauft hat und nun plant, zu seiner Geliebten zu gehen. 16 Verse liefern den Rezipienten Informationen über die Vergangenheit und die zukünftigen Planungen.

 

Offensichtlich dient der in dieser Art gestaltete Expositionsmonolog vorrangig der Handlungsbegründung, zu der auch die kurz dargestellte Liebesaffektion gehört. An diesem Beispiel ist die Ähnlichkeit zwischen der Funktion der Erzählerrede in der Vorlage und des Monologs in der Bearbeitung besonders gut erkennbar, da durch die Transformation der Erzählerrede in eine Figurenrede die dramatische Figur zumindest in den ersten beiden Monologabschnitten die Funktion des Erzählers übernimmt.

Im dritten Teil des Monologs (vv. 17–20) ist das enthüllte Motiv der Verliebtheit für die Figur handlungsleitend: Nicola will zu seiner Geliebten, bevor ein Nebenbuhler seinen Platz einnehmen könnte. Er sieht jedoch seinen Freund Chaningiano und hofft, nicht lange aufgehalten zu werden. Teichoskopisch beschreibt Nicola das Herannahen des Freundes, sodass der Monolog direkt in den Dialog übergehen kann.

Im Gegensatz zur Quelle, in der der Erzähler mitteilt, dass die Frauen in Palermo unzüchtig und betrügerisch sind, ist nach dem ersten Monolog für die Rezipienten nicht ersichtlich, dass die Geliebte Nicola betrügen will. Diese Tatsache macht erst der darauffolgende Dialog zwischen Chaningiano und Nicola deutlich. Darin weist der Freund Nicola mit den Worten „sie wirt dir deinen beutel schern“ (v. 29) ausdrücklich auf den betrügerischen Charakter der Geliebten, Sophia, hin.

Im Fastnachtspiel sind die Rezipienten und die Figuren, anders als in der Vorlage, auf demselben Informationsstand. Dort erfahren nur die Rezipienten, dass die Frauen in Palermo betrügerische Absichten hegen. Auf dieses Verhalten geht Sachs noch einmal im Abgangsmonolog des Freundes ein (vv. 45–50):


45 Ach Gott, der jung ist gar verblendt
In lieb, es wirt ein boͤses endt
Umb jn nemen, weil trewer raht
Und warnung bey jm hat kein stadt,
So muß ich jn gleich lassen farn,
50 Weil er sich selb nit wil bewarn.

Im strukturellen Gefüge bildet der Monolog hier zusammen mit dem Expositionsmonolog (vv. 1–20) einen Rahmen für die Szene und hat die Funktion, sie zu beschließen. Inhaltlich vermittelt er keine neuen Informationen im Vergleich zum vorhergehenden Dialog: Der Freund reflektiert über die negativen Auswirkungen der Liebe für Nicola, weil dieser nicht auf seine Warnungen hören will. Damit übernimmt Sachs einerseits die grundlegende erzählerische Anlage der Novelle, in der die rahmensetzende Situation bereits ausgeführt ist. Andererseits führt er ein Leitmotiv ein, das in der abschließenden Lehre wieder aufgegriffen wird: Die Liebe zu ‚falschen‘ Frauen, die für die Männer ein schlechtes Ende nimmt.

Retardierend dient der Monolog als an die Rezipienten im äußeren Kommunikationssystem gerichtete Affirmation der gegenüber Sophia im Dialog geäußerten Zweifel. Da Sachs offen lässt, woher der Freund sein Wissen bezieht, greift die Figur weit über die entwickelte dramatische Situation hinaus. Nur der Nebentext, der Chanigiano als „alt freundt“ (v. 21) einführt, macht Lebenserfahrung als mögliches Motiv der Warnung deutlich. Vor diesem Hintergrund erhält die Fremdcharakterisierung von Nicola als in Liebe verblendeter „Junge“ ihre Bedeutung.

Die Konstruktion einer zukunftsungewissen Prolepse baut dabei ein Spannungsmoment auf, das dem der Vorlage entspricht. Es bleibt offen, ob das prophezeite schlechte Ende eintritt. Im dramaturgischen Aufbau ordnet Sachs so der Figur des Freundes die Hinführung zum Handlungskonflikt zu.

In der Vorlage ist dem Freund die Rolle vorbehalten, für den ‚rettenden Umschwung‘ zu sorgen, d.h. er wird erst nach dem Betrug an Nicolo in das Geschehen eingeführt. Indem Sachs nun den Freund früher als in der Vorlage in das Handlungsgeschehen integriert, erreicht er, dass die Rezipienten und auch die Figur Nicola noch vor dem Betrug über das betrügerische Verhalten der Frauen in Palermo informiert sind.

Diese Technik ist prototypisch für die Mehrzahl der in diesem Fastnachtspiel eingesetzten elf Monologe. Die handlungsbezogene Informationsvergabe findet in den meisten Fällen entweder im vorhergehenden oder nachfolgenden Dialog statt. Im strukturellen Gefüge positioniert Sachs zusätzlich zum Expositionsmonolog weitere fünf Monologe zu Beginn einer Szene. In beinahe jedem dieser Monologe erfolgt eine reflektierende Vermittlung des Handlungskonflikts, der sich um die Intrigen spannt. Die Monologe am Ende der Szenen nehmen ebenso Bezug auf den Konfliktstoff, jetzt aber in der Weise, dass sie eine Sichtweise des vorhergehenden Dialogs betonen, wie der Monolog des Freundes am Ende der ersten Szene zeigt. Demnach hätte Sachs den Plot des Fastnachtspiels auch ohne die meisten Monologe vermitteln können.

Wie Sachs den Auftrittsmonolog funktionalisiert, um den Stand der Intrigenhandlung zu verdeutlichen, zeigt exemplarisch20 die Rede Sophias zu Beginn der siebten Szene (vv. 219–222):


Mich duͤnckt, sol ich die warheit jehen,
220 Ich hab mein Kauffman wider gsehen
Fuͤrlauffen eilendt ins Zolhauß;
Mich dunckt, er streich sich wieder rauß.

Indem Sophia darüber reflektiert, dass sie Nicola im Zollhaus gesehen hat, bestätigt sie die von ihm in seinem Auftritt-Abgangs-Monolog21 in Gang gesetzte zweite Intrige. Es wird angedeutet, dass Nicolas Plan aufgehen könnte, da Sophia sein geschäftliches Treiben bereits bemerkt hat. Ihre persönliche Reflexion über diesen Vorgang ist eine wesentliche Funktion dieses Monologs. Lässt man die Funktion für Zeitsprung und Ortswechsel außer Acht, erscheint er handlungsbezogen nicht weiter notwendig: Die Magd liefert anschließend ebenso einen Bericht über die Geschäfte von Nicola im Zollhaus.

Erst mit ihrem zweiten Monolog in der siebten Szene (vv. 235–238), der den Rezipienten nochmals vermittelt, dass Sophia das Treiben Nicolas wahrgenommen hat, folgt der Entschluss, den Geschäftserfolg Nicolas sofort für sich zu nutzen:22


235 Ich muß mein list gar eben spitzen,
Das mir der Vogel thu auff sitzen,
Den ich vor gar verschewet hab.
Da kumbt gleich der einfeltig Knab.

Der Überleitungsmonolog macht deutlich, wie der Handlungskonflikt sich zu einem Zweikampf zwischen der List Nicolas und der Sophias zuspitzt.23 Sachs folgt damit wieder eng dem Handlungsstrang der Vorlage, in der zwei gegenläufige Initiativen aufeinander treffen. Durch das mehrperspektivisch vergebene Wissen sind die Rezipienten über die Pläne der beiden Kontrahenten informiert, während im inneren System die Figuren, besonders Sophia, noch in Unkenntnis über die beabsichtigten bzw. in Gang gesetzten Maßnahmen der jeweils anderen Seite bleiben. Die durch den Informationsvorsprung der Rezipienten und Informationsrückstand der Figuren erreichte Technik des suspense ist der Vorlage entnommen, wo sie weit detaillierter ausgeführt ist als bei Sachs.24