Das edle Herz

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Liebe als Praxis

Wenn wir hinter dem Rahmen von »mich« und »mein« hervortreten, den unser gemachtes »Ich« zwischen uns und andere gestellt hat, erscheinen unsere Beziehungen in einem völlig neuen Licht. Wir führen sie nicht länger nach egoistischen Maßstäben. Wir sind erlöst von der ständigen Sehnsucht, bestimmte Menschen anziehen und andere von uns fern halten zu wollen. Wir entdecken vielfältige Möglichkeiten, uns mit jedem Menschen positiv zu verbinden. Diese geweitete Perspektive einnehmend, können wir unsere Liebe vertiefen.

Unser gewöhnliches Verständnis von Liebe geht oft mit maßlosen Erwartungen einher. Menschen sprechen von ewiger Liebe. Auf Deutsch sagen wir »Bis dass der Tod uns scheidet«, und solch einen Spruch gibt es auch im Tibetischen. Einige Freunde von mir glauben wirklich daran. Doch in unseren Beziehungen erleben wir, wie Liebe unter bestimmten Bedingungen entsteht. Und mit der Zeit verändert sie sich auch.

Wir weigern uns, dies für unsere Beziehungen anzuerkennen. Oft glauben Menschen, ihre aktuelle Liebesbeziehung werde immer wunderbar sein und die beste bleiben, die sie je hatten. Viele Menschen sprechen mit mir über ihre Beziehungserfahrungen. Am Anfang finden sie alles am anderen extrem aufregend. Sie rufen sich jeden Tag an und jedes Gespräch begeistert sie. Daraus entsteht die Erwartung, dass die Beziehung immer diese Intensität bewahren wird. Doch mit der Zeit bzw. im Laufe einer langen Beziehung lässt das Interesse aneinander nach. Die »unsterbliche Liebe« verliert ihren Glanz. Einige sagen sogar, die Ehe sei das Grab der Liebe!

Trotz alledem glaube ich, dass Liebe dauerhaft sein kann. So denke ich zum Beispiel, dass die Liebe, die ich für Sie alle empfinde, nicht abnehmen wird. Liebe kann eine dauerhafte Qualität annehmen, wenn wir sie zu einer bewussten spirituellen Praxis machen – aber nicht in dem Sinne, dass wir täglich ein wenig meditieren oder ein paar Gebete sprechen. Liebe ist eine umfassende und edle Praxis.

Wir nähren unsere Liebe aktiv, indem wir mit ganzem Herzen an uns arbeiten. So kann unsere eigene spirituelle Praxis zur Grundlage einer andauernden Liebe werden. Spirituelle Praxis bedeutet, uns selbst zu transformieren. Sie bedeutet Veränderung. Wir können nicht davon ausgehen, eine Liebe zu finden, sie in ein Regal zu stellen und von Zeit zu Zeit den Staub von ihr abzuwischen. Nein, Liebe ist lebendig. Sie muss kontinuierlich wachsen wie ein Baum und immer wieder neue Blüten, Blätter und Früchte hervorbringen. Geschieht dies nicht mehr, stirbt der Baum vielleicht. Nur wenn wir Liebe als aktive Praxis verstehen, ist sie unsterblich.

Liebe, die bleibt

Ich hörte einmal das Sprichwort: »Wenn es einen Grund gibt, jemanden zu lieben, kann es sich nicht um Liebe handeln.« Wenn Menschen gefragt werden, warum sie jemanden lieben, fallen ihnen meist viele banale Gründe ein. Einige sagen, es sei das Aussehen des anderen. Andere meinen, es sei die Persönlichkeit der anderen oder die Art, wie die Geliebte einen anschaue. Ich habe schon von Menschen gehört, die sich in eine Person auf Grund ihrer Haarfarbe verliebten! Doch wenn der Grund für die Liebe oberflächlich ist, wird sie sicherlich nicht andauern.

Liebe hat in unserem Leben eine tiefgreifende Bedeutung, mehr als alles andere. Ich persönlich glaube nicht, dass es für die Liebe keinen Grund geben darf. Doch der Grund zu lieben ist letztlich so umfassend, dass man ihn nicht auf spezielle Beweggründe begrenzen sollte.

Beziehungen können durchaus dauerhaft sein, aber sie ändern sich, manchmal zum Guten, manchmal zum Schlechten. Selbst eine Eltern-Kind-Beziehung kann sich so entwickeln, dass man nicht mehr miteinander spricht, sich gegenseitig physisch oder verbal verletzt oder vielleicht sogar tötet. Doch es gibt eins, was sich für die Personen nicht ändert: dass sie Eltern und Kind sind. Diese Tatsache, dass sie so aufeinander bezogen sind, ändert sich nicht. Selbst wenn sich die spezielle Form solch einer Beziehung in bestimmter Weise entwickelt, bleibt die Essenz ihrer Beziehung die gleiche. Wenn wir Liebe zur Essenz einer Beziehung machen, wird sie dauerhaft sein können.

Unter den richtigen Bedingungen kann Liebe wahrhaftig und andauernd sein. Das ist meine persönliche Überzeugung. Liebe kann diese allumfassende Qualität haben. Wir können sie wachsen lassen, bis sie unsere Beziehungen vollständig durchdringt. Doch anstatt der Liebe Raum zum Wachsen zu geben, sperren wir sie oft genug in unseren Erwartungen ein. Und diese Erwartungen machen unsere Liebe davon abhängig, was die andere Person tut oder sagt. Ebenso hängt unsere Sorge um die andere Person davon ab, ob die Beziehung unsere Bedürfnisse erfüllt. Wie können wir erwarten, dass die Liebe andauert, wenn wir fordern, dass sie unsere Erwartungen erfüllen muss, oder wenn wir mit dem anderen umgehen, als gehörte er uns? Dauerhafte Liebe verträgt es nicht, wenn wir zu viele Erwartungen haben. Es ist besser, die eigene Liebe einfach darzubieten.

Ich möchte etwas mit Ihnen teilen, das mich bewegt. Ich habe das Gefühl, dass meine Liebe nicht in den Grenzen meines Lebens und meines Körpers verbleiben muss. Ich stelle mir vor, dass selbst wenn ich nicht mehr in der Welt bin, meine Liebe immer noch da sein kann. Ich möchte meine Liebe zum Mond schicken, und der Mond möge meine Liebe halten. Er möge sie bewahren und sie jedem Menschen darbieten, so wie der Mond sein Licht sendet, das die Erde umfängt.

Liebe ist lebenswichtig

Liebe kann uns am Leben erhalten, wenn wir sie richtig betrachten. Es scheint mir, dass viele Menschen ihre Liebesbeziehung als Quelle von Freude und Vergnügen betrachten, währenddessen sie ihre Arbeit als eine absolute Notwendigkeit ansehen. Unsere Grundbedürfnisse sind Nahrung, Kleidung und ein Dach über dem Kopf, und so gibt es ganz praktische Gründe dafür, dass wir unsere Arbeit behalten wollen. Wenn wir die Welt so betrachten, glauben wir vielleicht, der Beruf sei eine wichtige Angelegenheit, währenddessen Beziehungen nur zum Spaß da seien.

Anscheinend fällt es vielen Menschen leichter, ihre Partner zu wechseln als ihre Arbeitsstelle. Mit dieser Lebenshaltung werden Emotionen und Beziehungen zu etwas, das entbehrlich erscheint. Schwierigkeiten auf der Arbeit werden hingenommen, weil man die Arbeit als lebenswichtig betrachtet. Doch wenn ein Freund oder die Partnerin Schwierigkeiten bereitet, wird er oder sie einfach abgelegt und es wird nach Ersatz gesucht. Dieses Verhalten entspringt der Auffassung, Liebe sei ein verzichtbarer Teil unseres Lebens.

Vielleicht wollen wir eine schwierige Beziehung loswerden, ohne die tatsächlichen Gründe unserer Probleme zu betrachten: unseren eigenen Geist, unser eigenes Herz. Ein tibetisches Sprichwort sagt: »Du bist wütend auf den Ochsen, aber schlägst das Pferd.« Es erinnert uns daran, wie lächerlich es ist, Alibi-Gründe für unser Unglück aufzuzählen. Liebe und emotionales Wohlergehen liegen in und nicht außerhalb von uns. Um wahre Liebe und gesunde Beziehungen zu entwickeln, kommen wir nicht umhin, uns selbst, unseren Geist und unser Herz zu ergründen.

Wahre Liebe kann uns tragen, wenn wir sie richtig betrachten. Um eine bleibende und gesunde Liebe zu entwickeln, müssen wir das heilsame Potential, das in unserem Geist und in unserem Herzen verborgen liegt, entdecken. Wir sollten sowohl unsere Fehler als auch unsere guten Seiten kennen. Dazu zählt, um die eigenen Fähigkeiten zu wahrer Liebe zu wissen, aber auch, den eigenen Hang zum Anhaften und zum Hassen zu kennen. Unser Herz beherbergt sowohl das Potential wahrer Liebe als auch alle Hindernisse auf dem Weg zu ihr: unseren Egoismus, unser Anhaften, unsere Ablehnung und unsere Erwartungen.

Veränderungen begrüßen

Wenn wir uns selbst auf der Suche nach gesunden Beziehungen näher beobachten, stellen wir fest, dass uns unsere eigenen Vorstellungen von Liebe dabei im Weg stehen können. Es ist unrealistisch anzunehmen, die Liebe werde ewig dauern können und wir könnten immer mit dem Objekt unserer Liebe zusammen sein. Wir selbst können unsere liebevollen Gefühle verlieren und noch viel wahrscheinlicher ist es, dass die Beziehung durch den Tod eines Partners oder durch eine Trennung beendet wird.

Zwischen dem Ende einer Liebe und dem Ende einer Beziehung gibt es einen wichtigen Unterschied. Unsere Liebe für einen Menschen überdauert oft unsere aktive Beziehung zu ihm. Natürlich gestaltet sich das Ende einer Beziehung zu einem Menschen oft schmerzhaft, einfach weil wir nicht akzeptieren können, dass es vorbei ist. Trotz all unserer Intelligenz nehmen wir oft nicht zur Kenntnis, dass Freundschaft und Partnerschaft durch Tod oder freiwillige Trennung zu einem Ende kommen können.

Wenn einer dieser beiden Gründe eintritt, leiden wir, denn wir hegen in uns Erwartungen, die von der Wirklichkeit nicht erfüllt werden können – in diesem Fall der Wirklichkeit der Unbeständigkeit. Geburt, Krankheit und Tod sind unausweichlich; wir können sie nicht verhindern. Und trotzdem hängen wir an allem, was wir gerade mögen – unserer Gesundheit, Jugend und unseren Beziehungen –, und wünschen und hoffen, sie mögen ewig dauern. Doch Veränderung ist die verlässlichste Konstante unseres Lebens. Theoretisch wissen wir, dass wir eines Tages sterben müssen, doch wir bemühen uns nach Kräften, diese Unvermeidbarkeit zu ignorieren. Die einzige Möglichkeit, dem Tod zu entgehen, ist, die Geburt zu verhindern, denn alles, was geboren wird, stirbt eines Tages. Doch Geburt zu verhindern, kommt für uns nicht mehr in Frage, denn wir sind bereits geboren worden. Da Leben und Tod in diesem Sinne ein natürliches Paar sind, müssen auch wir einmal sterben.

 

Es mag schwer sein, sich dieser Tatsache zu stellen. Doch sie zu ignorieren verursacht noch größeres Leid. Es macht uns verletzlich, wenn Dinge zu einem Ende kommen, und das tun sie unweigerlich. Auch wenn es uns schwerfallen mag: Wenn wir die Tatsache der Unbeständigkeit einmal akzeptiert haben, sind wir besser gerüstet, um großen Veränderungen im Leben weise zu begegnen.

Für viele Menschen zählt der Tod eines geliebten Menschen zu den schmerzhaftesten Erfahrungen im Leben. Auch ich kann nur schwer damit umgehen. Wenn ein vertrauter Mensch stirbt, habe ich das Gefühl, ein Teil von mir gehe verloren. Diese Gefühle, diesen Schmerz können wir nicht von uns weisen.

Kulturen gehen unterschiedlich mit der Erfahrung des Todes nahestehender Menschen um. Die Kultur, in der Sie leben, mag Ihnen nahelegen, um den Menschen zu trauern. Sie können sich verpflichtet, aber auch ermutigt fühlen, die Trauer um den verlorenen Menschen zu leben und sich dem Schmerz hinzugeben. Irgendwann ist der Moment gekommen, wo Sie zu einer neuen, konstruktiveren Reaktion finden müssen. Sie können sich dann daran erinnern, dass im Mittelpunkt Ihrer Trauer die geliebte andere Person steht, und Sie stellen fest, dass diese Person und Ihre Liebe für sie auch Ihre Trauer lindern können. Trauer hat ihre Wurzeln im Gefühl der Trennung und des Verlustes von Menschen, die uns etwas bedeuten. Sie empfinden Schmerz, weil Sie sie geliebt haben. Und diese Liebe verbindet Sie mit ihnen, obwohl sie gegangen sind. Die Kontinuität der Liebe kann Ihre Reaktion auf den Verlust auch positiv formen.

In solchen Situationen finde ich es persönlich hilfreich zu reflektieren, dass ich eine ebensolche Zuneigung gegenüber dem geliebten Menschen empfand wie dieser mir gegenüber. Sie können sich auch bewusst machen: »Dieser Mensch sorgte sich um mein Glück und nahm seine Hoffnung, es möge mir gut ergehen, mit in seinen Tod. Er wollte mich nie leiden sehen. Auch nach seinem Tod dauert seine Hoffnung an und ich bin aufgerufen, sie Wirklichkeit werden zu lassen. Seine Hoffnungen leben in mir weiter.« Wenn Sie diese Perspektive wirklich einnehmen, können Sie sich weiter tief verbunden fühlen mit dem Menschen, den Sie verloren haben, indem Sie sich bemühen, seine Hoffnungen Wirklichkeit werden zu lassen. All Ihr Bemühen, ein weises und glückliches Leben zu leben, wird so zu einem Weg, auf dem der Verstorbene weiter für Ihr Leben sorgen kann. So lebt Ihre gegenseitige Liebe weiter.

Wenn die Traurigkeit Sie wieder einholt, können Sie sich auf diese Weise erinnern, dass die von Ihnen Gegangenen immer wünschten, Sie mögen glücklich und nicht traurig sein. Wenn Sie in Trauer versinken, zerstören Sie auch deren Hoffnungen. Doch wenn es Ihnen gelingt, Ihren Schmerz zu lindern, lindern Sie durch das Band der Liebe und Hoffnung, das Sie noch immer verbindet, auch ihre Schmerzen.

Wenn Menschen sich trennen

Auch wenn eine Beziehung sich auseinanderentwickelt oder gänzlich abgebrochen wird, können Sie sich vergegenwärtigen, dass dies ein natürliches Ergebnis der Unbeständigkeit ist. Es ist schmerzhaft, doch es sollte Sie weder schockieren noch überraschen. Veränderung ist ein integraler und unabwendbarer Teil des Lebens. Sie können diese Tatsache anerkennen und sich bewusst machen, dass Veränderung nicht immer schlecht ist, auch wenn Sie sie nicht gerufen haben.

Es gibt genügend Anlässe, die uns Veränderung freudig begrüßen lassen. Wir beobachten, wie die Jahreszeiten einander abwechseln, und haben keine Mühe, uns daran zu erfreuen. Wenn die Blüte des Sommers sich dem Ende zuneigt, färben sich die Blätter der Bäume orange und gelb. Dann kommt der Herbstwind, bläst die Blätter hinfort, und wir erblicken die Schönheit der kahlen Äste. Diese Veränderungen sind Teil des natürlichen Lebensrhythmus’. Jeder Abschnitt bringt seine eigene Schönheit hervor.

Wenn zwei Menschen sich trennen, kann Raum für neues Wachstum entstehen. Wir sind frei. Wir müssen nicht stehenbleiben. Unbeständigkeit birgt viele Möglichkeiten in sich. (Es kann uns durchaus auch erleichtern, von einer Beziehung befreit zu sein, die mindestens für einen der Partner sehr schwierig und zu belastend geworden ist!)

Selbst wenn wir das Gefühl haben, die Trennung sei nicht gut für uns, kann sie doch gut für den anderen sein. Abgesehen von unserer eigenen Liebe und Anhaftung sollten wir die Zufriedenheit und das Wohlergehen des anderen stets im Blick behalten. Solange es eine ehrliche, von Herzen kommende Sorge um das Glück des anderen gibt, bedeutet eine physische Trennung vom anderen kein Ende der Liebe. Auch wenn wir einander nicht mehr sehen oder nicht mehr miteinander sprechen, können wir doch unsere Liebe aufrechterhalten.

Mir ist aufgefallen, dass viele Menschen eine seltsame Vorstellung von Liebe haben: Sie betrachten Liebe als ein Geschenk, das erwidert werden muss. Jemand sagt: »Ich liebe dich«, und wenn die andere Person nicht erwidert: »Ich liebe dich auch«, macht ihn das wütend. Doch Liebe muss nicht immer erwidert werden. Wir können einfach lieben. Auch wenn unsere Liebe nicht erwidert wird, können wir lieben. Wir müssen nicht immer etwas zurückbekommen für das, was wir gegeben haben, nicht wahr?

Dies ist meine Meinung. Ich habe viele Menschen erlebt, die unerwiderte Liebe und das Ende von Beziehungen emotional schwer verkraftet haben. Doch wenn man sich das ständige Wirken der Unbeständigkeit bewusst macht und den eigenen Fokus auf das Wohlergehen anderer richtet, kann man das eigene Gleichgewicht auch in schwierigen Situationen bewahren.

Beziehungen als Ort von Projektionen

Ich habe bereits die Folgen, die unsere gemachten Identitäten für unsere Beziehungen haben, erwähnt. Wir produzieren Identitäten auch für andere, indem wir auf sie Vorstellungen projizieren, die dann beeinflussen, was wir in ihnen sehen und wie wir uns ihnen gegenüber verhalten. Solche geistigen Kreationen können große Hindernisse zwischen Menschen aufbauen.

Ich möchte Ihnen ein Beispiel aus meinem eigenen Leben erzählen. Als ich vierzehn Jahre alt war, floh ich aus Tibet. Meine Begleiter und ich mussten die Berge illegal überqueren und hatten schreckliche Angst vor der chinesischen Polizei. Ich erinnere mich daran, dass die Polizisten Hüte mit einer speziellen Form trugen, die an einen Sattel erinnerte. Schon der Anblick eines solchen Hutes versetzte uns in Panik.

Auf unserem Weg zur nepalesischen Grenze mussten wir zwei chinesische Armeestützpunkte passieren. Der erste war der gefährlichere, denn selbst wenn sie uns dort nicht fassten, würde es reichen, dass sie uns bemerkten und am nächsten Checkpoint anriefen, damit man uns dort schnappte. Um den ersten Checkpoint zu passieren, mussten wir bis 22 Uhr in der Nähe angekommen sein und dann stundenlang in einem Auto warten, bis die Armeeposten eingeschlafen waren. Es war eine bitterkalte Winternacht. Meine Begleiter im Auto meinten, ich solle versuchen zu schlafen, aber wie konnte ich? Wir hatten alle große Angst vor den chinesischen Soldaten. Plötzlich schien es uns, als hätten wir ein Klopfen an der Autotür gehört. Wir sahen hinaus, doch da war niemand. Wir hatten solche Angst, dass wir begannen, uns noch viel beängstigendere Dinge vorzustellen.

Natürlich war das nicht hilfreich. Ich musste mir etwas einfallen lassen, um diese Situation durchzustehen. Und schließlich sagte ich zu mir: »Diese chinesischen Soldaten sind auch Menschen. Sie sind weder Monster oder Dämonen, noch haben sie all die schrecklichen Qualitäten, die wir ihnen zuschreiben. Wir könnten mit ihnen sprechen; sie sind Menschen wie wir.«

So gelang es mir, mich zu beruhigen. Natürlich waren wir in einer äußerst wehrlosen Situation, doch indem ich den tatsächlichen Gefahren meine eigenen Projektionen hinzufügte, verschlimmerte ich die Situation noch.

Auch wenn dies ein extremes Beispiel ist, illustriert es gut, wie wir Identitäten für uns selbst und andere herstellen. Projektionen färben unsere Beziehungen. Sie können uns sogar so weit bringen, den anderen nicht mehr als Menschen zu sehen.

Wenn wir unsere Projektionen erkennen und uns ihrer zu entledigen lernen, werden sich unsere Beziehungen verbessern und vertiefen. Dies versetzt uns in die Lage, den anderen Menschen klarer zu sehen und ihn zu akzeptieren, wie er wirklich ist. Anders gesagt, gesunde Beziehungen schließen das Element der Akzeptanz ein, man könnte auch sagen: Sie bedürfen der Geduld.

Übung in Geduld

Geduld ist die Weisheit, die uns ermöglicht, anpassungsfähig zu bleiben. Geduld bedeutet nicht, Dinge zu ertragen, die wir nicht mögen, oder unseren Ärger zu verstecken, und es meint ganz sicher nicht, passiv Verletzungen hinzunehmen. Geduld schließt vielmehr den aktiven Einsatz weisen Nachdenkens ein, um zielgerichtet jeden Unmut aufzulösen, den wir anderen gegenüber hegen.

Die buddhistischen Lehren arbeiten mit folgendem klassischen Beispiel: Wenn uns jemand mit einem Stock schlägt, sind wir dann böse auf den Stock? Wenn wir die Situation analysieren, erkennen wir, dass es sinnvoller ist, sich über die Hand zu ärgern, die den Stock schwingt. Doch die Hand wird von einem menschlichen Geist bewegt. Und der Geist wird von der Wut regiert. Schließlich ist es die Wut selbst, die den Stock schwingt, und das zeigt uns, dass der eigentliche Fehler in der Wut selbst liegt. Wenn wir die Situation so betrachten, können wir vernünftigerweise unseren Unmut nicht mehr direkt gegen die Person richten, die den Stock schwingt. Wir können letztlich nur wütend über die Wut selbst sein.

In diesem Beispiel geht es nicht darum zu behaupten, wir sollten uns von anderen schlagen lassen! Es geht darum zu erkennen, dass wir unser Denken dafür einsetzen sollten, die Identitäten, die wir anderen zugeschrieben haben, aufzulösen. Selbst wenn das Handeln anderer nur eine einzige Identitätszuschreibung nahezulegen scheint, können wir unseren Verstand nutzen, um unsere Ansicht von ihnen zu erweitern. Dafür ist es besonders hilfreich, das Handeln einer Person von der Person selbst und vom Aufruhr der sie bedrängenden Gefühle zu trennen. Wenn uns dies gelingt, können wir andere als Opfer ihrer eigenen Gefühle erkennen und ihnen nicht mit Angst oder Wut, sondern mit Mitgefühl und der Weisheit der Geduld begegnen. So verschafft uns Geduld mehr Optionen im Umgang mit anderen.

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