Das edle Herz

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Drei Ziele

Wenn wir uns genauer ansehen, was im Allgemeinen unsere Bestrebungen lenkt, so sind dies entweder Ziele, die vollkommen egoistisch oder vollkommen auf andere gerichtet sind bzw. eine Mischung aus beiden darstellen. Unsere Erfahrungen unterscheiden sich fundamental, je nachdem, ob wir egoistische, altruistische oder solche Ziele anstreben, die beides enthalten.

Wenn wir ausschließlich unsere eigenen Interessen verfolgen, vernachlässigen wir andere Menschen und begegnen ihnen mit Geringschätzung. Diese Einstellung drückt sich in der Haltung aus: »Ob es anderen nun gut geht oder nicht – solange ich zurechtkomme, ist alles in Ordnung.« Doch das ist nicht nur bedauerlich, sondern realitätsfremd. Diese Haltung führt zu nichts, denn unsere wechselseitige Abhängigkeit bedeutet, dass das Verfolgen selbst der egoistischsten Ziele andere Menschen involviert und Konsequenzen für sie hat. Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass totaler Egoismus selbstzerstörerisch ist.

Verfolgen wir Ziele, die sowohl unseren eigenen Interessen als auch denen anderer Menschen entsprechen, erkennen wir unsere wechselseitige Abhängigkeit an. Darin drückt sich die Haltung aus: »Ich möchte meine Ziele erreichen, doch das sollte andere nicht am Erreichen ihrer Ziele hindern. Ich hoffe, ihr Streben ist ebenso erfolgreich wie meins.« Wenn wir uns um uns selbst kümmern, sollten wir respektieren, dass andere das auch tun.

Bei der dritten Art von Ziel haben wir ausschließlich die Interessen anderer im Blick. Wenn wir nur die Wünsche und Ziele anderer wertschätzen, opfern wir willentlich unsere eigenen Ziele, falls wir sehen, dass dies anderen nutzen mag. Es ist schwer, eine altruistische Haltung zu entwickeln, und noch schwerer, sie zu praktizieren. Doch wir sollten Altruismus nicht damit verwechseln, unser eigenes Leben vollständig aufzugeben und unsere eigenen Interessen stets außer Acht zu lassen. Es geht vielmehr um eine geistige Einstellung, bei der wir bewusst auf unsere eigenen Wünsche verzichten. So wird Altruismus zu einer edlen Haltung, indem wir unser Leben vollständig dem Dienst an anderen widmen. Es mag schwierig für uns sein, dies unmittelbar in Handlungen auszudrücken. Es geht eher um eine Einstellung, die wir anstreben können.

Für sich und andere sorgen

Die folgenden zwei Geschichten, die ich erzählen möchte, dienen als Beispiele dafür, was es mit dem Verfolgen eigener Ziele in der Konsequenz auf sich haben kann. Die erste handelt von einem zweiköpfigen Adler, nennen wir ihn einen amerikanischen Seeadler. Wie wir aus der Biologie wissen, besitzt jeder Kopf sein eigenes Gehirn. Dieser Adler nun hatte zwei Köpfe mit zwei Gehirnen, aber nur einen Körper. Seine zwei Köpfe sahen die Welt jeweils auf ihre Weise und kümmerten sich wenig um den jeweils anderen. Eigentlich wollte jeder Kopf den ganzen Körper für sich allein, und jeder hatte bereits Pläne, wie er den anderen loswerden könnte.

Eines Tages landete der Adler in der Nähe eines ausgelegten Giftes. Jeder Kopf versuchte, den anderen zu verführen, den vergifteten Happen zu verspeisen, indem er ihm erzählte, wie wohlschmeckend diese Speise sei und dass er ihm den Vortritt lasse. Schließlich verschlang einer der beiden Köpfe – ich vermute, es war der weniger überzeugende der beiden – den vergifteten Happen. Doch so gelangte das Gift in den Körper, den sie beide miteinander teilten. Sie hatten sich beide so sehr auf ihre eigenen Ziele und ihren Hass aufeinander konzentriert und dabei vergessen, dass sie einen gemeinsamen Körper hatten.

Genau das passiert, wenn wir nur mit uns selbst beschäftigt sind. Am Ende schaden wir uns selbst. Um ein sinnvolles Leben zu führen, müssen wir es als Teil eines größeren Ganzen betrachten. Wenn wir die Realität unserer engen wechselseitigen Abhängigkeit in dieser Welt als gegeben akzeptieren, können wir vernünftigerweise davon sprechen, dass wir alle ein Leben miteinander teilen. Wir haben viele Köpfe, aber nur einen Körper.

Die zweite Geschichte handelt von einem Haus, in dem ein Feuer ausbricht, während sich die ganze Familie in dem Gebäude aufhält. Eines der Familienmitglieder gerät in Panik und sucht nach dem kürzesten Weg hinaus. Sein erster Gedanke ist, sich selbst zu retten, und er schafft es, bis zur Tür zu kommen. Doch als er mit einem Bein bereits die Türschwelle überschritten hat, erinnert er sich an seine Familie. Er zieht seinen Fuß zurück und rennt zurück ins Haus in dem Bewusstsein, die gleiche Sicherheit, die er für sich selbst sucht, für alle Familienmitglieder zu wollen. In diesem Bruchteil einer Sekunde, in dem er mit einem Bein bereits der Gefahr entronnen und mit dem anderen noch in ihr steht, entscheidet er sich dafür, die anderen retten zu wollen.

Auf ähnliche Weise sollten wir handeln. Der Fuß, der den Schritt nach vorn unternimmt, zeigt uns, was wir für uns selbst wollen. Der Fuß, der stehen bleibt, sagt uns, dass andere das Gleiche für sich erstreben. Wir müssen die Bedingungen dafür schaffen, mit beiden Füßen auf dem Boden zu stehen. Unser Eigeninteresse zeigt uns, was wir für uns selbst brauchen, und unsere Aufmerksamkeit für andere sorgt dafür, dass wir anderen die gleichen Interessen zugestehen. Wir sollten uns weder für andere gänzlich aufopfern oder aufgeben, noch sollten wir um unser eigenes Wohlergehen willen andere übersehen. Das ist das richtige Gleichgewicht.

Sinnvoller Lebensunterhalt

Ein klares Verständnis des Gleichgewichts, das das Leben sinnvoll macht, ermöglicht die Wahl eines geeigneten Lebensunterhalts und dessen Einbindung in das restliche Leben.

Dabei ist es nicht entscheidend, welchen Beruf oder welche Tätigkeit man ausübt. So ist es mein Job, der Karmapa zu sein, und das ist ein ziemlich harter Job – schwer auszuüben und noch schwerer zu beschreiben. Wie könnte ich meine Arbeit in der Zeile für »Tätigkeit« in einem Pass beschreiben? Gebete-Rezitierender? Das wäre eine zu enge Beschreibung. Bäumepflanzer? Das hört sich seltsam an. Koch? Ich kann nicht kochen. Das fällt also weg. Ich glaube, ich bin vieles und nichts, aber der Punkt ist nicht, was man tut, sondern wie man es tut.

Welcher Arbeit auch immer Sie nachgehen, Sie sollten regelmäßig dafür sorgen, auch einfach mal nur da zu sein. Selbst wenn es nur für einen Moment am Tag möglich ist, ist es wichtig, in diesem Moment ganz bei sich zu sein. Das kann durch eine kurze Meditation oder eine stille Reflektion, morgens oder abends, geschehen. Wie auch immer es am besten passt, es ist wichtig, sich immer wieder mit sich selbst zu verbinden. Sonst rennen Sie den ganzen Tag nur geschäftig herum und verlieren sich schließlich selbst. Um sich dagegen zu wappnen, sollten Sie immer wieder zu sich selbst zurückkehren und bedenken, was Ihnen wirklich wichtig ist.

Es kann entmenschlichend sein, sich das eigene Leben von der Arbeit diktieren zu lassen. Einige Bekannte von mir arbeiten in Fabriken. Sie müssen sich mit den Maschinen gleichschalten. So werden sie quasi selbst zu Robotern. Auch in anderen Jobs passen Menschen ihren Lebensrhythmus dem Rhythmus ihrer jeweiligen Arbeit an. Dies kann sehr leidvoll sein. Es zeigt, wie gefährlich es ist, wenn wir Teil eines ökonomischen Systems werden, das Menschen wie Maschinen behandelt.

Solche Beispiele lassen es attraktiv erscheinen, aus dem ganzen System auszusteigen und nach Alternativen zu suchen. Doch für diejenigen von uns, die den Wunsch hegen, ein bestimmtes System zum Positiven zu verändern, oder dazu beitragen wollen, unsere Welt zum Besseren zu gestalten, gibt es weitere Faktoren zu bedenken. Es mag Ausnahmen geben, doch oft bedeutet der Ausstieg aus einem System nur, davor wegzurennen – selbst wenn wir das Aussteigen mit der Vorstellung verknüpfen, das System von außen bekämpfen zu wollen. Es ist so, als rangierte man einen Gegenstand, den man nicht mag, aus, anstatt ihn zu reparieren oder ihm eine neue Funktion zu geben. So gibt es Menschen, die ein System nach dem anderen verlassen und nichts als einen Fluchtplan hinterlassen. Das ist kein effektiver Weg, ein System zu reformieren. Auch wenn es schwierig ist: Wir können mehr erreichen, wenn wir innerhalb des Systems Veränderung anstreben.

Wahre Werte

Ich möchte unterstreichen, dass es, unabhängig davon, ob Sie innerhalb oder außerhalb eines Systems einer Aufgabe nachgehen, ein Fehler ist, die eigene Identität an die Arbeit zu binden. Kein Job kann Ihre Identität definieren. Sie sind so viel mehr als die Arbeit, die Sie tun. Egal, wie viele Stunden Sie täglich am Arbeitsplatz verbringen, es ist weder der einzige noch der wichtigste Teil Ihres Lebens. Es kann höchstens eine Komponente des weiten Netzes sein, das Ihr Leben umspannt.

Wir sollten dies besonders unter den derzeitigen ökonomischen Bedingungen im Blick behalten. Wenn Menschen heutzutage ihre Arbeit verlieren und nicht sofort eine neue finden, leiden sie oft unter den emotionalen Begleiterscheinungen der Arbeitslosigkeit mehr als unter dem Einkommensverlust. Wenn die Arbeit ein emotionales Leck in einem stopft, kann Arbeitslosigkeit besonders leidvoll erfahren werden. Dieser leidvollen Erfahrung können Sie entgegenwirken, wenn Sie sich bewusst machen, woher Ihr Glück wirklich kommt. Trotz unserer Intelligenz verfallen wir immer wieder in die alte Gewohnheit, das Glück in äußeren Dingen und Umständen zu suchen. Und doch sind Sie in der Lage, in jedem Moment und unter allen Umständen Ihre Weisheit wachzurufen und Ihre Aufmerksamkeit von äußeren Bedingungen auf die unerschöpflichen Quellen Ihrer inneren Güte zu richten. Sie kann Ihnen niemals verloren gehen.

Wir freuen uns oft über den Zuwachs an materiellem Besitz. Warum sollten wir nicht in der Lage sein, uns noch mehr über den Zuwachs an innerem Reichtum zu freuen? Dies zählt viel mehr. Unsere persönlichen Qualitäten können uns glücklich machen. Wir müssen uns ihnen einfach nur zuwenden.

 

Ein einziger Moment der liebevollen Sorge für andere kann uns zufriedener machen als jedes Geld der Welt. Unsere persönlichen Qualitäten können eine reiche Quelle der Freude für uns sein. Schon ein einziger altruistischer Gedanke vermag die Quelle tiefen Glücks zu sein. Wir können so viele Quellen des Glücks in der Fülle unseres eigenen Geistes finden.

3 Gesunde Beziehungen
Sich anderen zuwenden

Unabhängig davon, was um uns herum passiert, wir sind immer in der Lage, ein Leben zu führen, das für uns und andere sinnvoll ist. Wir müssen nur eine andere Perspektive einnehmen. Bedenken wir das Prinzip der wechselseitigen Abhängigkeit, können wir unser Selbstgefühl über die engen Grenzen des eigenen Körpers und über unsere persönlichen Erfahrungen hinaus erweitern und alles, womit wir verbunden sind, darin einschließen. So blicken wir über unsere Ziele hinaus und achten die Ziele anderer Menschen wie unsere eigenen.

Gleichgewicht im Leben erreichen wir dann, wenn es uns gelingt, unsere Sorge für uns selbst mit der Sorge für andere zu harmonisieren. Wenn uns auffällt, dass sich unser Leben in einer Schieflage befindet, wenn uns das Gefühl der Sinnlosigkeit überkommt, bemerken wir für gewöhnlich, dass auch unsere Beziehungen nicht mehr gesund sind. Indem wir gründlich darüber nachdenken, wie wir uns sowohl uns selbst als auch anderen zuwenden können, entwickeln wir gesunde Beziehungen. Wir können lernen, herzliche und wahrhaft sinnvolle Beziehungen zu pflegen.

Mir ist immer wieder aufgefallen, dass emotionale Bindungen zwischen Menschen größtenteils durch die Macht der Gewohnheit geformt werden – man wird vertraut miteinander, gewöhnt sich aneinander. Ich glaube, es lohnt sich, sich diesen Umstand genauer anzusehen, denn durch die Entwicklung neuer Gewohnheiten können wir unsere Beziehungen grundlegend verändern. Treffen zwei Menschen immer wieder aufeinander, werden sie einander mit der Zeit vertraut. Sie entwickeln Gewohnheitsmuster im Umgang miteinander und fühlen sich mit der Zeit wohl miteinander und mit diesen Mustern. Das reicht oft schon, um eine emotionale Bindung zu entwickeln – und es führt zu Mustern, die die zukünftigen Interaktionen bestimmen.

Buddhistische Sicht bezieht in die Betrachtung solcher Muster die vielen Leben mit ein, die wir zuvor schon geführt haben und innerhalb derer diese Muster herausgebildet wurden. Doch wir müssen gar nicht über unser derzeitiges Leben hinausblicken, um zu erkennen, dass Dynamiken unserer ersten Lebensjahre später im Leben wiederkehren. Unser ganzes Leben kreist um Beziehungen, die sich vertraut anfühlen, und diese Beziehungen wiederum folgen Mustern, die wir zeitig im Leben gelernt haben. Auch Gewöhnung trägt dazu bei, was wir kulturell als angenehm empfinden.

Aber Gewohnheiten können verändert werden. Sobald wir uns an eine neue Umgebung gewöhnt haben, können wir uns wohl in ihr fühlen. Gewohnheiten entstehen schlicht durch Wiederholung. Handeln wir wiederholt anders, entstehen neue Gewohnheiten und alte werden überwunden. Wir sollten damit beginnen, unser gewohnheitsmäßiges Denken und Handeln näher zu betrachten. Wenn wir feststellen, dass wir in unseren Beziehungen gesündere Umgangsformen pflegen sollten, können wir Obacht geben, anderen in heilsamerer Weise zu begegnen, so lange, bis unser neues Verhalten sich als neue, positive Gewohnheit etabliert hat.

Das gemachte »Ich«

Die Macht der Gewohnheit spielt eine ebenso subtile wie mächtige Rolle bei der Formung unseres Selbstbildes. Und dieses Selbstbild hat im Gegenzug enormen Einfluss auf unsere Beziehungen zu anderen. Wir können von zwei Formen unseres »Ich« sprechen. Das eine ist unser angeborenes oder instinktives »Ich«; das andere ist das erlernte bzw. zugeschriebene »Ich« und hat mit unserer gewohnten Weise, uns zu sehen, zu tun.

Um zu erklären, was ich mit diesen zwei Formen des »Ich« meine, beginne ich zunächst mit dem letzteren, das weniger subtil wirkt und daher einfacher zu beobachten ist. Dieses gelernte oder zugeschriebene »Ich« entsteht durch wiederholten Gebrauch. Deshalb nenne ich es auch das gemachte »Ich«. Unsere Eltern erzählen uns, dass wir so oder so seien. Die Lehrer erklären uns, wir seien so oder so. Die Geschlechterordnung unserer jeweiligen Gesellschaft legt uns nahe, wie wir sein sollten. Die Kultur, in der wir leben, lässt uns auf vielerlei Weise wissen, wer wir sind.

Mir ist aufgefallen, dass es in der amerikanischen Kultur die Tendenz gibt, das Selbstvertrauen von Kindern massiv zu stärken, indem man ihnen erzählt, wie wichtig und einzigartig sie sind. Dieses Selbstverständnis wird dann Teil des gemachten »Ich«. Dieses »Ich« wird immer realer, es verfestigt und verselbstständigt sich. Es wird schließlich zur Gewohnheit, das von außen, von der Familie, der Schule und vom sozialen Umfeld an mich herangetragene »Ich« für mein eigenes zu halten. Das ist das gemachte »Ich«. Unsere eigenen geistigen Gewohnheiten bringen uns dazu, zu glauben, dass wir das wirklich seien, sodass das gemachte »Ich« zunehmend die eigene Selbstwahrnehmung bestimmt. Dieses Selbstgefühl tragen Sie fortan in sich und hinein in jede Beziehung.

Im Gegensatz dazu ist die andere Form des »Ich« – die angeborene, instinktive Form – äußerst subtil. Obwohl sie immer in uns ist, sind wir uns ihrer normalerweise kaum bewusst. Dieses subtile »Ich« wird dann offenbar, wenn wir in extreme und lebensbedrohliche Situationen geraten. Stellen wir uns vor, wir stünden am Rande einer Klippe. Instinktiv versuchen wir, dieses »Ich«, das in Gefahr ist, in Sicherheit zu bringen. Darin drückt sich unser angeborenes Selbstgefühl aus.

Von diesen zwei Formen bestimmt besonders das gemachte »Ich« unsere Beziehungen. Niemand kommt als »Jack« auf die Welt. Ein Kind wird geboren, erhält den Namen »Jack« und die Person »Jack« wird geschaffen. Der Mensch namens Jack wächst auf und lernt zu denken: »Ich bin Jack.« Sobald jemand schlecht von »Jack« spricht, ist er erschüttert und aufgerüttelt. Er kann sich in einem Raum mit hundert anderen Menschen befinden, doch wenn er den Namen »Jack« hört, fühlt er sich herausgehoben und ins Rampenlicht gerückt. Egal, wie viele andere Menschen da sind, der Ruf des Namens »Jack« scheint nur ihm zu gelten. Es zeigt sich, dass das Label »Jack« von ihm Besitz ergriffen hat. Was immer nun über diesen »Jack« gesagt wird, nimmt er äußerst ernst und persönlich, denn er hat dessen Identität angenommen. Wir alle verhalten uns so.

Wir glauben, dass das gemachte »Ich« unser natürliches »Ich« und Ausdruck unserer vollständigen und wahren Identität sei. Doch wenn wir diesen Prozess genau betrachten, stellen wir fest, dass das gemachte »Ich« Schritt für Schritt und über einen langen Zeitraum herausgebildet wurde. Wir sind so vertraut damit geworden, dass wir glauben, dies seien wir von Natur aus. Doch so ist es nicht. Es ist eine konstruierte Identität.

Nichtsdestotrotz kreiert dieses gemachte »Ich« und die damit einhergehende Vorstellung von »mein« ein Fenster, durch das jeder von uns die Welt betrachtet. Sie schauen durch dieses Fenster von »Ich« und »mein« und nehmen alles, was Sie sehen, persönlich. Wenn jemand da draußen einen ärgerlichen Gesichtsausdruck hat, glauben Sie, dieser Ärger müsse etwas mit Ihnen zu tun haben. In Wirklichkeit gibt es keinen Grund anzunehmen, jemandes Ärger müsste etwas mit Ihnen zu tun haben. Schließlich blicken alle Menschen durch ihr persönliches Fenster und auch ihre Wahrnehmungen sind in ihrem eigenen Selbstgefühl begründet.

Wenn wir in diesem »Ich«- und »mein«-Modus aus dem Fenster gucken, erleben wir alles so, als ob es auf unseren persönlichen Wahrnehmungsschirm projiziert würde, genauso, wie ein Film auf eine Leinwand übertragen wird. Und so wie bei einem Film, beginnt unser Herz sich zu weiten, wenn wir einen glücklichen Moment erleben. Doch bei einer traurigen Szene leiden wir.

Das Festhalten an »Ich« und »mein« begrenzt unsere Selbstwahrnehmung und hat ernsthafte Konsequenzen für unsere Verbindung mit anderen. Es verhindert, dass wir die zahllosen umfassenden Verbindungen sehen, die wir wirklich mit anderen teilen. Schließlich nehmen wir die Welt als etwas von uns Getrenntes wahr, als etwas im Außen Projiziertes, das nur unserem Konsum dient. Ich möchte hier keine Philosophie entfalten. Ich versuche zu beschreiben, wie sich eine solche Weltsicht anfühlt. Wenn wir durch unser persönliches Fenster blicken, empfinden wir Zuneigung und Ablehnung. Wir akzeptieren oder lehnen ab, was wir auf dieser Leinwand sehen. Dieses emotionale Hin und Her bildet eine wichtige Komponente in unseren Beziehungen zu anderen.

Die Falle der Anhaftung

Der Wunsch, das, was wir um uns herum wahrnehmen, an uns zu ziehen oder abzustoßen, wirkt in unseren Beziehungen als starke Kraft. Anstatt der anderen Person gegenüber entspannt und wertschätzend zu sein, sind wir ständig darum bemüht, zu bekommen, was wir von ihr wollen, und abzulehnen, was wir nicht wollen. Möchten wir gesunde Beziehungen aufbauen, müssen wir uns daher näher mit unserer Anhaftung und Ablehnung beschäftigen.

Sehen wir uns zunächst unsere gewohnten Annahmen von Anhaftung und Nicht-Anhaftung an. Die herkömmliche Lebenserfahrung lässt viele Menschen annehmen, dass Beziehungen ohne Anhaftung kaum vorstellbar seien. Ich hörte Menschen sagen, dass sie ohne Anhaftung keine engen Beziehungen eingehen könnten. Menschen versuchen, das Bedürfnis nach Anhaftung in anderen hervorzurufen, um dann eine Beziehung mit ihnen einzugehen. Sie setzen Anhaftung wie einen Angelhaken ein, mit dem sie andere ködern und einfangen wollen.

Die Vorstellung, eine herzliche und gesunde Beziehung sei ohne Anhaftung nicht möglich, gründet in der Verwechslung von trennender Distanz und Nicht-Anhaftung. Doch Distanziertheit ist etwas anderes als Nicht-Anhaftung. Distanziertheit suggeriert eine gefühllose Indifferenz. Doch das Gegenteil ist wahr: Erst die Abwesenheit von Anhaftung macht es möglich, dass gesunde Gefühle den Raum bekommen, sich zu entfalten. Anhaftung verursacht beispielsweise, dass Sie jemandem oder etwas vollkommen erliegen. Sie können nicht aufhören, an jemanden zu denken, von dem Sie glauben, er würde Ihr Leben perfekt machen. Sie sind dann so okkupiert von den Gedanken an diese Person, dass es Ihnen kaum noch gelingt, an etwas anderes zu denken. Sie sind vom Zauber Ihrer Anhaftung so gebannt wie ein Insekt, das in den Honig gefallen ist und sich nicht mehr bewegen kann.

Diese Überwältigung kann sowohl durch schwierige äußere Situationen als auch durch unsere eigene Anhaftung entstehen. Wenn wir uns in einer schwierigen Situation und von allen Seiten eingekreist wähnen, meinen wir oft, in eine bestimmte Richtung gedrängt zu werden, die wir selbst gar nicht einschlagen wollen. Ob wir mit Anhaftung oder schwierigen Situationen zu tun haben, die Herausforderung besteht darin zu erkennen, wie wir das Steuer selbst in die Hand nehmen können. Dafür müssen wir in der Lage sein, Dinge auf neue Art zu betrachten.

Wenn uns ein Problem tatsächlich überwältigt und wir uns von der Situation überfordert sehen, steht uns immer noch offen, uns geistig daraus zu erheben und einen anderen Blick aus der Vogelperspektive darauf zu werfen. Selbst wenn wir uns fühlen wie ein Ertrinkender, der verzweifelt im Wasser um sich schlägt, kann unsere Vorstellungskraft uns auf einen Berggipfel heben, von dem aus wir unsere Situation dort unten im Tal überblicken können. Eine solchermaßen veränderte Perspektive kann uns neue Möglichkeiten aufzeigen.

Damit meine ich nicht, sich emotional von der Situation abzukoppeln. Natürlich bleiben Sie mit ihr verbunden. Doch die Fähigkeit, das Zentrum des Problems geistig verlassen zu können, birgt die Chance, die eigene Situation aus einer neuen Perspektive zu betrachten. So können Sie eine Art zweites »Ich« kreieren, das aus einem zweiten Betrachtungswinkel neue Denkansätze entwickelt. Die Abwesenheit von Anhaftung bedeutet nicht, sich von jemandem zu trennen oder sich nicht mehr in eine Beziehung einzubringen. Sie bedeutet, einen Perspektivwechsel vorzunehmen, um den eigenen Blick zu weiten.

Wenn wir uns all den Schmerz und die Konfusion ansehen, die unsere Anhaftung verursacht, ist es seltsam, dass es so schwierig für uns ist, diese als das Problem zu erkennen. Ich habe viel darüber nachgedacht, warum es uns so schwer fällt. Der Grund dafür scheint mir die starke Tendenz in uns zu sein, Fehler stets außerhalb von uns zu suchen. Für gewöhnlich wenden wir uns auf der Suche nach den Ursachen unserer Probleme nach außen und schreiben unser Unglück äußeren Faktoren zu. »Wo ist das Problem? Es ist da draußen!« Wenn uns das Objekt unserer Anhaftung nicht glücklich macht, geben wir ihm die Schuld, nicht dem in uns verwurzelten Gefühl der Anhaftung.

 

Anhaftung ist ein ernstes Problem – und es ist eines, das wir selbst erschaffen. Es entsteht durch uns und wirkt auf uns zurück. Anhaftung dient der eigenen Genugtuung und den eigenen Zwecken. Sie hat ihre Grundlage im Eigennutz. Grundsätzlich suchen wir die Nähe anderer Menschen weniger deshalb, weil wir um deren Wohlergehen besorgt wären, sondern weil uns interessiert, welche Gefühle sie bei uns auslösen und was wir von ihnen bekommen können.

Das zeigt sich besonders dann, wenn eine auf Anhaftung beruhende Beziehung unbefriedigend wird – Schuld scheint dann immer die andere Person zu sein. »Warum soll ich mich ändern? Er (oder sie) soll sich ändern. Er (oder sie) sorgt für den Ärger.« Wenn es uns tatsächlich um das Wohlergehen des oder der anderen ginge, würden wir so nicht denken. Wenn das Glück der anderen Person für uns tatsächlich zählte, würden wir uns aufrichtig wünschen, uns selbst so zu wandeln, dass es ihr nützt. Doch so handeln wir nicht, wenn Anhaftung die treibende Kraft ist. Anhaftung ist tatsächlich durch und durch egoistisch.

Wenn Sie jemanden wirklich lieben, ist dieser Mensch extrem wertvoll für Sie – so wertvoll wie Ihr eigenes Leben. Sie sorgen liebevoller für diesen Menschen als für sich selbst. Doch wenn Sie an jemandem anhaften, benutzen Sie diesen Menschen, um Ihre Bedürfnisse zu befriedigen und sich glücklich zu machen. Es gibt Männer, die sich aufregen, wenn ihre Ehefrauen mit anderen Männern sprechen und vice versa. Seltsam – warum sollte jemand einen Menschen, den er liebt, davon abhalten, mit anderen Menschen zu sprechen? Dieser Wunsch, andere zu kontrollieren, ist egoistisch und deutet daraufhin, dass es der Person nur um ihre eigenen Wünsche und Ziele geht. Das zeigt, dass die Beziehung nicht auf Liebe, sondern auf Anhaftung beruht.