Das edle Herz

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1 Unser gemeinsames Fundament

In jedem von uns schlägt ein edles Herz. Dieses Herz ist die Ursache unserer besten Bestrebungen, mögen diese uns selbst oder anderen gelten. Es verleiht uns die Kraft und den Mut, unseren Hoffnungen nachzugehen. Mag unser Edelmut auch manchmal verdeckt von kleinlichen Gedanken oder blockiert durch verwirrte und verwirrende Gefühle sein, unser edles Herz schlägt trotzdem weiter in uns, bereit sich zu öffnen und der Welt dargeboten zu werden. Unser Ziel – das Ziel dieses Buches – ist es, dieses edle Herz in uns zu entdecken und uns mit ihm zu verbinden, sodass es zum Ausgangspunkt all unseres Tuns und Fühlens wird. Wenn wir alle Blockierungen überwinden, kann dieses Herz die Welt verändern.

Obwohl ich ein buddhistischer Mönch bin, ist dies kein Buch über buddhistische Theorie und Praxis, sondern über unsere Erfahrungen als menschliche Wesen. Was uns eint, ist unsere Sorge um unser Leben und unsere Erde. Auf diesem gemeinsamen Fundament können wir uns als Freundinnen und Freunde treffen. Ich habe buddhistische Philosophie und Religion studiert; daher werde ich mich mitunter buddhistischer Begriffe bedienen. Ich tue dies nur, weil diese Begriffe hilfreich für mich waren und weil ich hoffe, Sie können auch Ihnen sinnvolle Perspektiven eröffnen. Bitte erachten Sie meine Ausführungen nicht als autoritative Darlegung der buddhistischen Schriften. Ich spreche hier aus meiner eigenen Erfahrung.

Ich bin nun fünfundzwanzig Jahre alt. In sehr jungen Jahren wurde ich als der siebzehnte Karmapa entdeckt, und mir ist sehr bewusst, dass ich die neunhundertjährige Reinkarnationsgeschichte der vorhergehenden sechzehn Karmapas weitertrage. Doch ich betrachte mich selbst nicht als »der Karmapa«, sondern als menschliches Wesen. Ich bin einfach ein Mensch mit besonderer Verantwortung und mit speziellen Möglichkeiten. Ich mag eine besondere Rolle einnehmen, weil ich den Namen »Karmapa« trage und seine Position einnehme, doch wir alle tragen Verantwortung, je nachdem, welche Rolle uns von der Welt zugewiesen wurde.

Obwohl ich ausführliche Unterweisungen erhielt, um meinen Pflichten als Karmapa nachzukommen, erfuhr ich meine erste spirituelle Bildung durch meine Eltern. Dies gilt wohl für uns alle. Meine Mutter kann zwar nicht lesen, doch sie ist eine aufrichtige, herzliche und liebevolle Frau. Mutter und Vater waren meine ersten spirituellen Lehrer. Unsere Eltern bringen uns auf die Welt und erziehen uns. Egal, woher wir kommen, Eltern oder andere Bezugspersonen haben sich um uns gekümmert, als wir klein waren. Diese Erfahrung ist uns allen gemeinsam.

Und wir teilen gemeinsam einen Planeten. Wir leben auf ihm miteinander von Geburt an. Sie und ich, wir wurden bislang einander nicht vorgestellt. Durch dieses Buch können wir einander kennenlernen. Ich verfolge damit ausschließlich das Ziel, Ihnen meine Anliegen darzulegen. Sollten Sie feststellen, dass wir viele Erfahrungen und Bestrebungen miteinander teilen, ist das Ziel des Buches bereits erreicht.

Auf unserem Lebensweg erfahren wir viele Veränderungen. Direkt vor unseren Augen spielt sich ein Prozess unermesslichen materiellen Fortschritts ab. Wir haben, beginnend in der Kindheit, alle die Erfahrung körperlichen Wachstums gemacht, und auch wenn dieser Prozess abgeschlossen ist, entwickeln wir uns kontinuierlich weiter. Diese körperliche Entwicklung sollte mit geistiger Entwicklung einhergehen. Mit äußerem Wachstum sollten auch unsere Weisheit und unsere Fähigkeit wachsen, zu unterscheiden, was gut und was schädlich für uns ist. So, wie wir die Blüte unserer körperlichen Jugend wahrnehmen, können wir auch das innere Erblühen unseres Herzens und unseres Geistes erfahren. Diese jugendliche Kraft können wir der Welt darbieten, so wie wir später unsere zur Reife gelangte Weisheit verkörpern.

Wir können ein Leben lang viel voneinander lernen. Immer wieder bin ich vom aufrechten Streben anderer Menschen tief berührt worden und habe viel von ihnen gelernt.

Ich erhoffe viel für die Welt, aber ich versuche, keine Erwartungen zu hegen. Unabhängig davon, ob ich meine Bestrebungen erfüllen kann oder nicht, wünsche ich mir, dass sie mich und mein Handeln in der Welt formen. Das bloße Fokussieren auf das Erreichen bestimmter Ziele kann uns zu sehr an diesen Zielen anhaften lassen. Unsere Träume müssen sich nicht unbedingt erfüllen, damit wir glücklich sein können. Das Nähren von Hoffnungen als solches ist sinnvoll. Auf eine Erfüllung der Hoffnungen hinzuarbeiten bedeutet einen Wert an sich, unabhängig vom Ergebnis. Wenn wir uns nicht mehr so sehr an Ergebnissen orientieren, wächst der Mut, unserem Streben für die Welt zu folgen. So finden wir unser edles Herz.

Bis heute teilen wir diese Erde miteinander, ohne ein Bewusstsein davon entwickelt zu haben. Doch jetzt können wir unsere Hoffnungen für unser gemeinsames Zuhause teilen. Wir können gemeinsame Bestrebungen für uns und für einander entwickeln. Das ist alles – mehr braucht es nicht. Uns über unsere Hoffnungen und Bestrebungen, über unsere Erfahrungen auszutauschen kann uns auf einer grundsätzlichen menschlichen Ebene zueinander führen. Das vermag uns Glück zu schenken.

2 Sinnvoll leben
Alles ist möglich

Wenn Sie davon träumen, was das Leben alles für Sie bereithalten könnte, sollten Sie wissen, dass alles möglich ist. Vielleicht sehen und empfinden Sie es nicht immer so, aber die Möglichkeit, den Kurs zu ändern, steht Ihnen in jedem Moment offen. Ihr Leben verändert sich ständig. Veränderung ist die einzige Konstante Ihrer Existenz. Die Person, die Sie heute sind, ist nicht die gleiche wie die, die Sie in zehn, fünf oder auch nur einem Jahr sein werden. Ihre Lebensbedingungen ändern sich ständig, Sie reagieren darauf, und dies formt wiederum Sie. In diesem Prozess verfügen Sie nicht nur über unbeschränkte Freiheit, sich selbst zu formen, Sie verändern auch die Welt.

Die Frage ist, wie Sie mit diesen unbeschränkten Möglichkeiten, die die Grundlage Ihres Lebens bilden, umgehen. Wie können Sie ein sinnvolles Leben inmitten einer sich ständig verändernden Welt führen?

Buddhistisches Denken widmet sich in besonderer Weise genau diesen Fragen. Die Vorstellung, dass das Leben ein Raum unbegrenzter Möglichkeiten ist, wird in den Konzepten von »wechselseitiger Abhängigkeit« und »Leerheit« entfaltet. Der Begriff der Leerheit suggeriert möglicherweise die Vorstellung von Nichts oder Leere, doch tatsächlich soll er uns daran erinnern, dass nichts in einem Vakuum existiert. Alles ist eingebettet in einen Kontext – in ein komplexes Geflecht von Bedingungen. Und diese Bedingungen sowie dieser Kontext ändern sich ständig. Wenn wir davon sprechen, dass die Dinge »leer« sind, meinen wir damit, dass sie keine außerhalb dieser sich verändernden Kontexte unabhängige Existenz haben. Da in diesem Sinne alles leer ist, ist auch alles in der Lage, sich ständig neu anzupassen. Auch wir besitzen diese grundlegende Flexibilität, uns an alles anzupassen bzw. uns zu verändern und alles zu werden.

Leerheit sollte also nicht mit »Nichts« verwechselt werden; im Gegenteil: Leerheit ist voller Potential, voller Wirkkraft. Richtig verstanden, kann das Konzept der Leerheit eher unseren Optimismus als unseren Pessimismus nähren, denn es erinnert uns an unsere grenzenlosen Möglichkeiten und an unsere Gestaltungsspielräume in der Welt.

Wechselseitige Abhängigkeit und Leerheit zeigen uns, dass es keine festgelegten Vorbedingungen für Veränderung gibt. Wir können mit nichts beginnen. Was immer wir haben, wo immer wie sind – das ist genau der richtige Ort, um zu beginnen. Viele Menschen meinen, es fehle ihnen etwas, Macht oder Geld, um ihre Träume zu leben. Doch jeder Zeitpunkt ist der richtige, um an den eigenen Träumen zu arbeiten. Diese Perspektive eröffnet uns die Leerheit. Wir können bei Null anfangen.

Leerheit kann tatsächlich mit dem Konzept und der Funktion von Null verglichen werden. Null mag wie Nichts erscheinen, doch wir wissen, alles fängt bei null an. Ohne die Null würden unsere Computer zusammenbrechen. Ohne die Null könnten wir nicht beginnen zu zählen, es gäbe keine Eins und auch keine Unendlichkeit. In diesem Sinne kann sich alles und jedes aus der Leerheit manifestieren.

Alles kann entstehen, weil nirgendwo festgelegt ist, wie Dinge sein müssen. Jede Manifestation hängt von den Bedingungen ab, die in diesem Moment zusammenkommen. Doch »alles ist möglich« bedeutet nicht, dass das Leben zufällig oder willkürlich wäre. Wir können alles möglich machen, doch nur, indem wir die notwendigen Bedingungen dafür schaffen. An dieser Stelle verbinden sich die Konzepte von Leerheit und wechselseitiger Abhängigkeit.

Jeder Mensch, jeder Ort und jedes Ding ist in seiner Existenz vollständig abhängig von anderen – sowohl von anderen Menschen als auch von anderen Dingen. Zum Beispiel sind wir gerade jetzt lebendig, weil wir uns der notwendigen Bedingungen für unser Überleben erfreuen. Dazu gehören die zahllosen Mahlzeiten, die wir in unserem Leben bereits eingenommen haben, aber auch die Sonne, die auf die Erde scheint, und die Wolken, die den Regen bringen, sodass das Getreide gedeiht. Bestimmte Menschen kümmern sich um das Getreide, ernten es und bringen es zum Markt. Andere bereiten daraus ein Mahl für uns. Dieser Prozess verbindet uns, weil er ständige Wiederholungen erfährt, mit immer mehr Menschen auf der Welt, mit immer mehr Sonnenstrahlen und Regentropfen.

Letztlich sind wir mit nichts und niemandem auf dieser Welt nicht verbunden. Dies beschreibend, prägte der Buddha den Begriff der wechselseitigen Abhängigkeit oder des abhängigen Entstehens. Sie ist die Natur menschlichen Lebens, aller Dinge und Situationen. Wir sind alle miteinander verbunden und zugleich die Bedingung für die Existenz anderer.

 

Unter all den Bedingungen, die uns beeinflussen, sind die Entscheidungen, die wir treffen, und die Schritte, die wir unternehmen, besonders wichtig: Sie tragen maßgeblich zu den Folgen unseres Handelns bei. Handeln wir konstruktiv, so entsteht etwas Konstruktives. Handeln wir jedoch destruktiv, werden die Ergebnisse destruktiv und leidbringend sein. Alles ist möglich, doch wir müssen bedenken, dass alles, was wir tun, zählt und weit über uns persönlich hinausreicht. In einer Welt der wechselseitigen Abhängigkeit zu leben hat daher ganz bestimmte Konsequenzen für uns. Es bedeutet, unser Handeln hat Auswirkungen auf andere und dies macht uns füreinander verantwortlich.

In dieser Wirklichkeit leben

Wechselseitige Abhängigkeit und Leerheit mögen abstrakt erscheinen, aber sie sind keine abstrakten Prinzipien, sondern sind sehr konkret und haben eine direkte Bedeutung, wenn wir darüber nachdenken, wie es uns gelingen kann, ein sinnvolles Leben zu leben.

Wechselseitige Abhängigkeit ist überall am Werk, wo unser Leben erhalten wird. Geschieht dies etwa nur durch unsere eigene Anstrengung? Stellt jeder seine eigenen Ressourcen selbst her oder kommen sie von anderen? Wenn Sie darüber nachdenken, erkennen Sie sofort, dass Sie Ihre Existenz anderen verdanken. Die Kleidung, die Sie tragen, und die Nahrungsmittel, die Sie verzehren, sie alle werden von anderen Menschen produziert. Die Bücher, die Sie lesen, die Autos, mit denen Sie fahren, die Filme, die Sie sich ansehen, und die Werkzeuge, die Sie benutzen: Nichts von alldem hat jemand allein und nur für sich hergestellt. Wir alle hängen ab von äußeren Bedingungen, und sei es die Luft, die wir atmen. Unsere Existenz in dieser Welt ist etwas, das vollständig durch andere ermöglicht wurde.

Wechselseitige Abhängigkeit bedeutet, dass wir ständig mit der Welt um uns interagieren. Diese Interaktion findet beiderseitig statt, sie ist ein gegenseitiger Austausch. Wir nehmen und geben. So, wie unsere Präsenz auf diesem Planeten durch viele Faktoren ermöglicht wurde, beeinflussen wir im Gegenzug andere Menschen, Gemeinschaften und den Planeten selbst.

Während der letzten hundert Jahre haben wir Menschen äußerst gefährliche Fertigkeiten entwickelt. Wir haben Maschinen konstruiert, die mit ungeheurer Kraft ausgestattet sind. Mit der heute verfügbaren Technologie könnten wir alle Bäume auf der Erde fällen. Doch täten wir das, würde das Leben nicht wie bisher weitergehen können, es sei denn, ohne Bäume. Aufgrund unserer grundlegenden wechselseitigen Abhängigkeit würden wir alle die Konsequenzen eines solchen Handelns sehr schnell spüren. Ohne Bäume hätte die Atmosphäre nicht mehr genügend Sauerstoff, um das menschliche Leben weiter zu erhalten.

Was hat dies alles mit unserem täglichen Leben und unseren Entscheidungen zu tun, mögen Sie sich vielleicht fragen? Ganz einfach: Wir alle müssen unsere wechselseitige Abhängigkeit bedenken, denn sie beeinflusst unser Leben direkt und grundlegend. Um ein glückliches Leben führen zu können, müssen wir uns um die Quellen dieses Glücks kümmern.

Unsere Umwelt und die Menschen, mit der wir sie teilen, sind die wichtigsten Quellen unserer Nahrung und unseres Wohlergehens. Um unser eigenes Glück zu ermöglichen, müssen wir das Glück anderer respektieren und uns darum kümmern. Diesen Zusammenhang können wir einfach erkennen: Nur wenn wir die Menschen, die unsere Nahrung herstellen, gut behandeln und ihre Bedürfnisse beachten, können wir vernünftigerweise davon ausgehen, dass sie alle Last auf sich nehmen, um uns mit gesunden und schmackhaften Nahrungsmitteln zu versorgen.

Wenn wir andere respektieren und uns für ihr Wachstum, ihr Gedeihen interessieren, werden wir selbst gedeihen. Auch die Wirtschaft weist diesen Zusammenhang auf: Wenn Kunden mehr Geld haben, laufen die Geschäfte besser. Wenn wir sowohl persönliches als auch gesellschaftliches Wachstum anstreben, reicht es nicht aus, das offenkundige Wirken wechselseitiger Abhängigkeit in der Welt zur Kenntnis zu nehmen. Wir müssen uns ihrer Konsequenzen bewusst werden und die Bedingungen unseres Wohlergehens reflektieren. Wo kommen unser Sauerstoff, unsere Nahrung und all die Güter, die wir konsumieren, her und wie werden sie produziert? Sind die Quellen dieser Produktion nachhaltig?

Sich mit der Wirklichkeit verbinden

Wenn Sie Ihre Lebenswirklichkeit aus der Perspektive von Leerheit und wechselseitiger Abhängigkeit betrachten, kann daraus eine veränderte Sicht auf Ihr Leben erwachsen. Meine Hoffnung ist, dass diese Veränderung Ihnen ganz praktisch helfen kann. Indem Sie ein neues Verständnis davon entwickeln, welche Kräfte in Ihrem Leben wirken, können Sie erste Schritte unternehmen, eine positive Beziehung zu ihnen zu entwickeln. Es ist nicht meine Absicht, ein angstbesetztes Bild von der Realität zu zeichnen. Ich habe festgestellt, dass einige Menschen nicht gut damit umgehen können, wenn sie hören, dass Veränderung ein fundamentaler Teil des Lebens ist und dass nichts bleibt, wie es ist. Unbeständigkeit ist nun einmal die Grundlage unserer Existenz, und Unbeständigkeit ist an sich zunächst weder gut noch schlecht. Es hilft ganz sicher nicht, sie zu verneinen. Wenn wir mit dem Fakt der Unbeständigkeit weise umgehen, können wir zu ihr als unserer Lebensrealität eine konstruktivere Beziehung entwickeln. Wir können lernen, entspannter angesichts unerwarteter Veränderungen zu sein und uns auf neue Situationen besser einzustellen.

Das Gleiche gilt für die wechselseitige Abhängigkeit. Das Leben aus dieser Perspektive zu betrachten kann uns helfen, der Wirklichkeit konstruktiver zu begegnen. Doch das bloße Wissen, dass wir alle voneinander abhängen, bedeutet noch nicht, sich damit auch wohlzufühlen. Für manche Menschen birgt die Vorstellung von wechselseitiger Abhängigkeit das ungute Gefühl von Hilflosigkeit und Gefangensein in sich. Doch sollten wir sie uns nicht wie eine Abhängigkeit von einem Arbeitgeber vorstellen, den wir uns nicht ausgesucht haben. Es ist nicht hilfreich, sie sich als eine erzwungene und nur widerwillig zu akzeptierende Realität vorzustellen. Das würde uns nur unzufrieden machen und ein Gefühl des Unwohlseins nähren sowie das Fundament für positive Beziehungen untergraben.

Wechselseitige Abhängigkeit ist unsere Realität, ob wir das nun akzeptieren oder nicht. Um ein produktives Leben im Rahmen einer solchen Wirklichkeit zu führen, ist es besser, sie mit offenem Herzen und ohne Widerstand anzuerkennen. Dabei spielen Liebe und Mitgefühl eine besondere Rolle. Liebe lässt uns unsere Verbundenheit mit anderen spüren und umarmen, sodass wir freiwillig an den Beziehungen mitwirken, die durch unsere wechselseitige Abhängigkeit entstanden sind. Liebe lässt unsere Abwehr bröckeln und unsere schmerzhaften Gefühle von Isolation schwinden. Freundschaft und Liebe wohnen eine Wärme inne, die uns einfach anerkennen lässt, dass unser Glück direkt mit dem Glück anderer Menschen verbunden ist. Je mehr wir in der Lage sind, andere zu lieben, umso glücklicher und zufriedener können wir in wechselseitiger Abhängigkeit leben. Sie ist ein natürlicher Teil unseres Lebens.

Alle Menschen sind wie Eltern für uns

Liebe kann es in all unseren Beziehungen geben, denn alle Menschen wollen glücklich sein. Niemand möchte leiden. Dies gilt für die Menschen, die wir mögen, aber auch für jene, die wir nicht mögen. Diesbezüglich sind wir alle gleich. Diesen universellen Wunsch nach Glück können wir verstandesmäßig nachvollziehen. Wenn wir lernen, ihn auch zu empfinden und in unserem Herzen zu verankern, wächst die Liebe in uns auf natürliche Weise.

Die meisten Menschen empfinden eine besondere Zuneigung zu ihren Eltern. Warum ist das so? Das Gefühl von Nähe und Liebe entsteht gewöhnlich einfacher zu ihnen als zu anderen Personen, weil sie sich um uns gekümmert haben, zu unserem Wohlergehen beitrugen und uns halfen, zu wachsen.

Meines Erachtens sind alle Menschen wie Eltern zu uns. Wenn wir genau hinschauen, stellen wir fest, dass alle Menschen, denen wir begegnen, auf unterschiedlichste Weise, direkt und indirekt, zu unserem Wohlergehen beitragen. Viele, ganz unterschiedliche Menschen kochen unsere Mahlzeiten, sorgen für ein Dach über unserem Kopf und nähen die Kleidung, die uns schützt. Sie bringen uns von A nach B, erfinden Medizin, die uns heilt, lehren und helfen uns, auf eigenen Füßen zu stehen und zu wachsen und zu gedeihen. Zahllose Menschen sind auf diese Weise unser ganzes Leben hindurch wie Eltern zu uns. Doch normalerweise betrachten wir sie nicht so, vielleicht auch deshalb, weil wir unsere Aufmerksamkeit nicht auf ihre elterlichen Qualitäten richten. Keiner von ihnen tritt hervor und sagt: »Hallo, ich bin eigentlich wie eine Mutter zu dir.« Und auch wir schütteln niemandem die Hand und sagen: »Hallo, Sie sind wie ein Vater zu mir.«

Aber wenn wir uns all dessen bewusst sind, was wir von anderen erhalten, erkennen wir die vielen Beziehungen, in denen andere Menschen wie Eltern zu uns sind. Dann können wir ihnen mit mehr Güte begegnen, und wir können ihnen mit der gleichen Liebe begegnen, die zwischen Mutter und Kind herrscht. So werden wir imstande sein, unsere wechselseitige Abhängigkeit zu umarmen und uns das Bedürfnis anderer Menschen nach Glück zu Herzen zu nehmen. Weil jeder Mensch Liebe braucht, steht es in unserer eigenen Macht, das Leben anderer zu verbessern, indem wir ihnen geben, wonach sie sich sehnen: Liebe.

Eine grenzenlose Sicht

Ich glaube, dass diese erweiterte Perspektive essentiell für die Gestaltung eines sinnvollen Lebens ist. Was macht ein sinnvolles Leben aus? Eine große Frage, deren Beantwortung einen weiten Horizont, einen Blick weit über unsere eigene begrenzte Existenz hinaus erfordert. Eine Beschränkung auf unseren persönlichen Bereich und unsere individuellen Sorgen wäre hierfür viel zu kurzsichtig.

In meinem eigenen Leben gab es schon viele unerfüllte Wünsche und ich könnte viele Gründe für meine Unzufriedenheit aufzählen. Im Unterschied zu anderen Menschen meines Alters wurden einige der wichtigsten Entscheidungen, mein Leben betreffend, von anderen getroffen. Dies begann damit, dass ich im Alter von sieben Jahren als Karmapa erkannt wurde. Schon früh lastete eine große Verantwortung auf mir und in der Erfüllung meiner Pflichten begegneten mir manche großen Herausforderungen und Hindernisse. Natürlich ist es frustrierend, nicht alles tun zu können, was man will bzw. was von einem erwartet wird. Doch dies macht mein Leben nicht sinn- oder hoffnungslos. Es ist meine Entscheidung, wie ich mit diesen Herausforderungen und Hindernissen umgehe.

Die Vorstellung, das Leben sei sinnlos, wenn die eigenen Wünsche nicht in Erfüllung gehen, ist recht engstirnig. Ein solches Denken offenbart ein bloßes Kreisen um sich selbst und eine sehr begrenzte Sicht auf sich selbst. Selbst wenn uns unser Leben sinnlos erscheint, weil unsere individuellen Wünsche nicht erfüllt werden, verfügen wir immer noch über unendlich viele Möglichkeiten. Das ist so, weil unser Leben weit über unser individuelles Erleben in einem bestimmten Moment hinausreicht.

Unser Leben ist groß und umfassend. Es hat seine Grenzen nicht in unserer persönlichen Erfahrung. Es ist nichts Greifbares oder Begrenztes. Ich denke nicht, dass es sinnvoll ist, unser Leben als etwas zu betrachten, das nur auf uns begrenzt ist – als würde menschliches Leben nur so weit wie der menschliche Körper reichen. Nein, was wir sehen können, ist, dass das Leben sich in alle Richtungen ausbreitet wie ein Netz, das sich ausdehnt. Auf diese Weise erstreckt sich auch unser Leben und berührt und durchdringt viele andere Leben. Unser Leben kann ein allgegenwärtiger Teil jedes anderen Lebens werden.

Ich glaube, dass uns das Leben nur dann sinnlos erscheint, wenn wir es als auf uns persönlich begrenzt wahrnehmen. Blickte ich so auf mein eigenes Leben, könnte es mir recht bedeutungslos erscheinen. Diesen großen Namen zu tragen, aus Tibet zu flüchten und all die Anstrengungen seither – all dies wäre bedeutungslos, ginge es nur um eine Person: um mich! Doch wenn ich mein Leben als etwas Umfassenderes betrachte und erkenne, dass ich in der Lage bin, Glück und Freude, und sei es nur in das Leben einer einzigen anderen Person zu bringen, weiß ich, dass mein Leben sinnvoll ist.

Wenn Sie anderen Glück und Freude schenken, wird das auch auf Ihr eigenes Leben zurückstrahlen. Die Sinnhaftigkeit Ihres Lebens ergibt sich nicht aus Ihnen als abgetrenntem Individuum. Sie kommt von Ihnen, aber nur durch Ihre Verbundenheit mit anderen. Von daher verleiht wechselseitige Abhängigkeit Ihrem Leben Sinn.

 

Die Kunst besteht darin, das richtige Gleichgewicht zwischen den eigenen Bedürfnissen und dem, was Sie anderen wünschen, herzustellen. Dafür ist es notwendig, die eigenen Bedürfnisse zu reflektieren. Wenn Ihre Bedürfnisse und Wünsche stark selbstbezogen sind, kann sich kein Gleichgewicht einstellen, denn Sie selbst sind immer nur ein Teil Ihres eigenen Lebens. Erst wenn es Ihnen gelingt, dem Wohlergehen anderer den gleichen Rang einzuräumen, kann ein Gleichgewicht entstehen. Jedes heilsame Projekt schließt den Wunsch ein, anderen zu nutzen. Ist ein Projekt egozentrisch und nur am eigenen Wohl orientiert, kann ein Gleichgewicht nur schwerlich erreicht bzw. gehalten werden. Natürlich müssen Sie auch für sich sorgen, doch nicht um den Preis der völligen Missachtung anderer. Was immer Sie erreichen, sollte nicht auf Kosten anderer geschehen.