Mozart

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Wenn nun auch jeder schöpferische Gedanke in jeglicher Kunst einen Ausdruck finden kann, je nach der Formgebung, die dem betreffenden produktiven Menschen zur Mitteilung zur Verfügung steht, so liegt es doch in den einfachen Gesetzen der Logik, daß für jeden schöpferischen Gedanken eine Art der Aussprache die vollkommenste, die idealste sein muß. Es liegt hier der innerste Grund dafür, daß die verschiedenen Künste nach ihrer Trennung immer wieder Vereinigungen angestrebt haben, aus dem Gefühl heraus, daß es im Grunde nur eine Kunst gibt und die verschiedenen Künste nur unterschiedliche Mitteilungsarten der einen gleichen Kraft sind. Wenn es trotzdem im Laufe der Entwicklung dahin gekommen ist, daß die einzelnen Künste sich so sehr als selbständige Wesenheiten fühlten, daß man viel lieber die Grenzen zwischen den verschiedenen Gebieten untersuchte als das Einigende, daß die Wiedervereinigung dieser Künste als etwas Neues wirkte und sich regelmäßig zum künstlerischen Problem auswuchs, so zeugt das nur dafür, daß jede einzelne dieser Künste ein so unendlich weites Gebiet darstellt, daß der Einzelmensch für alle seine Empfindungen darin sehr leicht Platz findet, daß er in der Regel sogar noch lange nicht zur völligen Ausfüllung derselben kommt. Aber das Vorhandensein von Männern wie Michelangelo, Lionardo da Vinci, Goethe, Richard Wagner zeugt ebenso für das stete Vorhandensein dieses großen Urkunstgefühls wie die Tatsache, daß einzelne Künste sich sehr leicht innig verbinden können, z. B. Malerei und Plastik, Musik und Lyrik in der ganz volkstümlichen Form des Liedes, Poesie und Mimik bei aller Darstellung, Musik und Mimik im Tanz.

Die Trennung hat sich aber nicht auf die verschiedenen Künste beschränkt, sondern innerhalb der einzelnen Künste weiter gewaltet. Hierbei könnte man ein Nebeneinander von einem Nacheinander unterscheiden. Das Nebeneinander wird dargestellt durch die verschiedenen Gattungen der betreffenden Kunst. Auch in der Wahl der Gattung offenbart sich das Formgefühl. Der Künstler erkennt, welche Art der Aussprache für seinen schöpferischen Gedanken die natürlichste ist, bei welcher am meisten die Form mit dem Inhalt sich deckt. Wir erleben gerade in der Musik heute immer und immer wieder, daß unseren Künstlern dieses Gefühl abgeht, indem sie z. B. für die einfachen, kleinen Formen des lyrischen Gedichts dieselben Ausdrucksmittel aufwenden wie für eine große Sinfonie. Zeitalter mit ausgeprägterem Formensinn haben sich in dieser Hinsicht niemals derartig vergriffen.

Außer diesem Nebeneinander gibt es ein Nacheinander. Das schildert uns die Geschichte der Stile, die in der Baukunst uns am augenfälligsten entgegentritt.

Stil ist, historisch genommen, eine Art der Formengebung, die zu einer gewissen Zeit derartig natürlich erschien, daß sie alles beherrschte und alles ergriff. Man hat im Zeitalter der Gotik keineswegs bloß Kirchen und das den Kirchen Zugehörige gotisch gestaltet, sondern alles, was gebaut wurde, in diesem Geiste gehalten. Ebenso nachher in der Renaissance. Es ist klar, daß eine solche Auffassung des Stils und damit die Herrschaft eines Stils sich nur in Zeitaltern entwickeln kann, in denen das gemeinsame Fühlen außerordentlich groß, in denen fast eine Einheitlichkeit des Kunstempfindens vorhanden ist. Denn zum Stil wird nur eine Form, die allen als die natürliche Aussprache eines künstlerischen Inhalts erscheint. Es ist darum ganz natürlich, daß, sobald in der Menschheit das Gefühl dieser großen Einheitlichkeit nachließ, sobald die Willkür des persönlichen Fühlens im Einzelgeschmack die Herrschaft an sich riß, Stile nicht mehr so leicht entstehen konnten; und wenn das doch geschah, das Gefühl sich einstellte, daß ein Stil nicht alles ausdrücken könne, daß er vielmehr für ganz bestimmte Sachen besonders geeignet sei. Wir stehen heute auf dem Standpunkt, daß der Stil nicht mehr der Ausdruck einer bestimmten Zeit, sondern die beste Ausdrucksweise für eine bestimmte Sache ist.

Daß von den Künstlern, zumal wieder auf dem hier sinnfälligsten Gebiete der Architektur, gegen diese Erkenntnis fortwährend gefehlt wird, ist allbekannt und oft bedauert. Es stehen sich hier zwei von der geschichtlichen Entwicklung her begreifliche Gefühlswelten gegenüber, von denen die eine, die ihren Antrieb mehr aus der geschichtlichen Betrachtung der Vergangenheit gewonnen hat, jene Einheitlichkeit alles Dargestellten zu erreichen sucht, die in vergangenen Zeitaltern von selbst zustande kam, die also alles in einem bestimmten Stil darstellte. Man denke z. B. an die romanische Anlage des Platzes um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin, wo auch die Privathäuser, die Geschäftsräume, Wirtschaftsstuben, die Hallen des Zoologischen Gartens, die Laternenpfähle, ja, wenn es dazu käme, eine Bedürfnisanstalt im romanischen Stil errichtet sind. Das ist aber eine künstliche Zurückschraubung des Empfindens ins Historische, die gerade bei der Kunst unmöglich und unlebendig ist. Es liegt zweifellos daran, daß heute die Architektur die unproduktivste aller Kunst ist, wenn solche Fälle überhaupt noch möglich sind.

Die entgegengesetzte Richtung beruht auf dem Gefühl der Sachlichkeit, der inneren Wahrheit der Kunst, und sie verlangt, daß die Form aus dem Inhalt heraus gestaltet werde, daß also der Inhalt gesetzgeberisch wirkt. Der aus der Geschichte geschöpfte Einwand der ersten Richtung, daß in Zeitaltern, deren künstlerische Überlegenheit über unsere heutige alle willig anerkennen, die Einheitlichkeit der Form, die Alleinherrschaft eines Stils vorhanden gewesen sei, ist nicht stichhaltig. Gerade die Fähigkeit, historisch zu empfinden, vergangene Zeiten in ihren seelischen und damit Kunstäußerungen zu verstehen, bewirkt es, daß wir gewisse Stilformen als den Ausdruck eines ganz besonderen seelischen Empfindens fühlen, daß diese Formen damit für uns Ausdrucksmittel eines Seelischen geworden sind und nicht mehr gegebene Formen. Gerade auf dieser Herrschaft des Seelischen beruht es, daß wir keinen Stil mehr erhalten. Dieses Seelische ist individuell, persönlich, der Stil dagegen ist etwas allgemein als gültig Anerkanntes. Je stärker die Individualität sich ausgeprägt hat, je zahlreicher und stärker die Persönlichkeiten werden, um so weniger wird die große Masse den Ausdruck einer einzelnen Persönlichkeit so sehr als den eigenen empfinden, daß sie diesen Ausdruck als einen Stil anerkennt, das ist als die Form, in der sich ein Bestimmtes allein oder doch am besten ausdrücken läßt. Wir haben ja gerade in den letzten Jahren der ewigen Stilsucherei massenhaft Stile einzelner Künstler erhalten, d. h. ein einzelner Künstler fand für sich eine Form, in der er bestimmten Zwecken entsprechende Dinge naturgemäß ausdrücken zu können glaubte. Auch bei den gelungensten derartigen Versuchen ist es nur dahin gekommen, daß man das betreffende Werk als ein vorzügliches persönliches Kunstwerk anerkannte, nicht aber als den Stil, d. h. als die einzige oder doch die vollkommenste Ausdrucksform der betreffenden künstlerischen Aufgabe. Als einzige Ausnahme stände allenfalls Richard Wagners Musikdrama da, wobei wir aber doch fühlen, daß auch hier der Stilkreis weit enger umschrieben ist, als man lange Zeit annahm, indem wir immer mehr empfinden, daß es vor allen Dingen die Persönlichkeitswelt Wagners war, die diesen Ausdruck gebot.

Mozart steht hier gewissermaßen auf der Grenze der Zeit. Wir brauchen uns nur den Namen Beethoven ins Gedächtnis zu rufen, um das zu fühlen, denn in Beethoven empfinden wir mit Recht den Musiker, der sich für sein persönliches Erleben die Kunstform schafft, während wir bei Mozart noch den Fall haben, daß er die Formen als solche übernimmt. Allerdings auch bereits nicht mehr um der betreffenden Formen willen, sondern weil sie ihm geeignet sind, ein bestimmtes Empfinden und Wollen auszudrücken. Die Subjektivität, die Persönlichkeit Mozarts offenbart sich gerade im Nebeneinander verschiedenster Stile, bzw. in deren höchster Vereinigung, und endlich darin, daß ihm diese Stile alle Mittel zum Zweck, also Ausdrucksmittel eines Seelischen sind. Die Tatsache, daß für jeden schöpferischen Gedanken eine Ausdrucksform die idealste sein muß, erheischt im Ideal in jedem Einzelfall die Schöpfung einer neuen Form. In der Einschränkung, die eine solche theoretische Forderung dadurch erhält, daß auch der am weitesten aus der Masse hervorragende Künstler doch mit einem großen Teil seines ganzen Seins noch in dieser Masse steht, haben wir diesen Fall bei Beethoven, der überkommene Stilformen, also die dem Massenempfinden entsprechende Ausdrucksweise ruhig übernimmt, sie aber nach seinen persönlichen Bedürfnissen um- und abwandelt, erweitert, dehnt oder auch sprengt und völlig Neues einschiebt.

Dieses Titanische und Prometheische, das in Beethoven von allen großen Künstlern am stärksten war, fehlte bei Mozart. Wir wollen bedenken, daß wir es in der deutschen Dichtung auch erst bei Goethe finden. Die Grenzscheide der Zeit geht hier vorüber. In der Musik können wir sie zwischen Mozart und Beethoven hindurchführen. Wir müssen sagen, daß Mozarts Empfinden nicht in der Art von dem seiner Zeitgenossen verschieden war, sondern nur in der Stärke. Seine Kunst zeigt nicht den Gegensatz des Einzelmenschen zur Welt, wie etwa die Beethovens. Mozart empfindet tiefer, reicher, stärker, mannigfaltiger als die Welt, in der er steht, aber sein Empfinden wurzelt im gleichen Erdreich. Daher reichen für ihn auch die vorhandenen Stilformen aus. Was ihn vor allen anderen auszeichnet und ihm eine Sonderstellung einräumt, ist die Tatsache, daß er alle vorhandenen Stile beherrscht. Was ihn von der Vergangenheit scheidet, ist, daß für ihn der Stil bereits Inhaltsausdruck ist. Selbst der Riese Joh. Seb. Bach hat – natürlich nur äußerlich betrachtet – für ganz verschiedene Empfindungswelten, für einen Tanz wie für eine Kirchenkantate dieselben Stilformen gebraucht. Genau so etwa, wie der Künstler im Zeitalter der Gotik den Spitzbogenstil für einen Dom wie für ein Gartenhäuschen oder für einen Stuhl anwandte. Mozart aber hat jenes moderne Stilgefühl, daß jeder Stil bereits einen Ausdruckscharakter in sich trägt und darum für bestimmte Ausdruckszwecke besonders geeignet sei.

 

Er hat nun diese verschiedenen Stile, die sich, wenn wir vom Kirchenstil absehen, den er ja aus der konservativsten Hand, der Padre Martinis, empfangen hat, als Nationalstile herausgebildet hatten, in so früher Zeit in sich aufgenommen, daß sie ihm alle zu natürlicher Geläufigkeit kamen. Denken wir an die Art, wie Kinder in fremde Sprachen hineinwachsen, wenn die Eltern längere Zeit im fremden Lande bleiben, wie sie aber dennoch unter günstigen Verhältnissen ihrer heimischen Sprache und ihres heimischen Sprachgefühls nicht verlustig gehen. Sie vermögen nicht nur – um einen geläufigen Ausdruck zu brauchen – wie Erwachsene in verschiedenen Sprachen zu denken, sondern auch in verschiedenen Sprachen zu fühlen. In dieser Weise beherrschte Mozart außer dem alten kontrapunktisch polyphonen Stil in vollkommener Weise die verschiedenen Stilarten der neueren Zeit: er hatte das volle Empfinden für den Stil der italienischen Oper, für die davon grundverschiedene Art der französischen Deklamationsoper und endlich auch den aus dem Liede heraus geborenen Stil des deutschen Singspiels. Er hat auch, um das gleich hier vorweg zu nehmen, Glucks Opernstil in genau dieser Art sich zu eigen gemacht. Er hat Glucks Oper nicht als eine Prinziplösung angesehen, sondern rein musikalisch, als eine Stilart mehr, die für gewisse Sachen ihm als die beste erschien (so ist er fast bis zur Kopie Glucks gegangen in der unterirdischen Stimme im »Idomeneus«).

Dadurch, daß nun Mozart einen Stil nicht als Formprinzip übernimmt, sondern als Ausdrucksmittel, vermag er die verschiedensten Stile gleichzeitig zu benutzen; das einigende Band ist sein Empfinden. Die Gesetzmäßigkeit der Form beruht darin, daß sie in jedem Augenblick Wahrheit ist. Man denke an das bunte Stilgemisch in der »Zauberflöte« und halte dagegen, welch wahres, einheitliches Kunstwerk dennoch entstanden ist.

Die Folgen dieses eigentümlichen Stilverhältnisses sind 1) daß Mozart der Welt gehört, daß die Welt ihn versteht, weil er zur Welt spricht; 2) liegt in dieser Art des Stils das Unsterbliche in Mozarts Musik. Es ist nicht wahr, und zum wenigsten ist ja selbst von tausend Musikern, geschweige denn vom Volk kaum einer imstande, beim Genuß zu empfinden, daß Mozarts rein musikalisches Können seine Überlegenheit über die anderen Vertreter der betreffenden Stilarten ausmacht. Seine unendlich höhere Wirkung als die aller anderen, auch den gewaltigen Gluck nicht ausgenommen, beruht vielmehr darin, daß sein Stil immer Ausdruck ist, daß in jedem einzelnen Falle die von ihm gewählte stilistische Form als die für diesen Augenblick natürliche und überzeugende Ausdrucksweise auftritt. Diese Wahrheit des Ausdrucks, diese Sachgemäßheit der gewählten Form bewahrt seine Musik genau so vor dem Historischwerden, bewahrt ihr genau so die stets lebendige Wirkung wie die Gotik einem alten Dom, wie das Rokoko einem französischen Gartenschlößchen usw. Wir haben eben in jedem Augenblick das Gefühl, daß die gewählte Form dem betreffenden Inhalt völlig entspricht, ihn vollkommen kündet. Deshalb sind die Nachfolger und Nachahmer keines Künstlers so kläglich gescheitert wie die Mozarts, weil sie überall dort nur stilistische Formen sahen, wo in Wirklichkeit stets wechselnde Ausdrucksgestaltung vorhanden war.

»Eine rührendere und erhebendere Erscheinung hat keine Kunstgeschichte aufzuweisen.« So Richard Wagner. Erhebend ist in der Tat ein derartig wunderbares Schaffen eines Menschen, für das sich der Ausdruck »göttlich« so leicht einschleicht. Daß die Kunstgeschichte keine rührendere Gestalt hat als die Mozarts, wird die Darstellung seines Lebens dartun.

Erster Teil

1. Die Eltern und das Kind

Die Mozarts stammen aus Augsburg. Schon im 17. Jahrhundert sind sie dort als einfache, meist im Handwerkerstande und immer in bescheidenen Verhältnissen lebende Bürger nachzuweisen. Des Komponisten Großvater war Buchbinder. Als das jüngste seiner Kinder wurde Johann Georg Leopold Mozart am 14. November 1719 geboren. Wir verehren ihn heute als den Vater des größten Musikers; aber auch um seiner selbst willen verdient er als Mensch aufrichtige Verehrung und als Musiker die Beachtung des Historikers.

Wir müssen uns in die kläglichen Verhältnisse des deutschen Stadtbürgertums in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zurückversetzen, um richtig schätzen zu können, was es hieß, wenn einer durch eigene Kraft, ohne fremde Beihilfe sich diesen Verhältnissen zu entwinden vermochte. Das geistige Leben des deutschen Volkes war damals stumpf; noch hatte kein belebender Hauch über den einst so fruchtbaren Garten der deutschen Volkskultur geweht, der im Dreißigjährigen Kriege so schrecklich verwüstet worden war. Für die Literatur, nach der man ja gewöhnlich den Geisteszustand eines Volkes einzuschätzen gewohnt ist, braucht man nur auf die wichtigsten Jahreszahlen zu verweisen, auf das bekannte Jahr des Heils 1748, in dem Klopstocks »Messias« wie ein Messias einer neuen deutschen literarischen Kultur sein Befreiungswunder für die deutsche Seele vollbrachte. Wir Musiker freilich wollen nicht vergessen, daß vor dieser literarischen Auferstehung ein starkes Leben in Musik bereits erwacht war. Und wenn auch die beiden gewaltigen Riesen unserer Kunst, Händel und Joh. Seb. Bach, in ihrer hehren Größe nicht erkannt wurden; wenn der eine in die Fremde ziehen mußte, wie so viele Deutsche nach ihm, um Anerkennung zu finden, wenn der andere unerkannt, in seelischer Einsamkeit den unerschöpflichen Hort seiner Kunst aufhäufte, aus dem man erst ein Jahrhundert später so recht zu schöpfen begann, so war doch die Musik gerade in der trübsten Zeit die Kraft gewesen, in der wenigstens das seelische Leben und Empfinden auch der breiten Masse des Volkes eine Heimat gefunden hatte. Was die Kantoren in den evangelischen, die Organisten und Kirchensänger in katholischen Gegenden schufen und arbeiteten, war auch dem Geringsten zugänglich, und der künstlerische Lebensschmuck, den die wenig geachteten, aber meist ganz tüchtigen Stadtmusikanten ins weltliche Leben hineintrugen, war auch ein Wert, der wenigstens vor aller Verkümmerung schützte.

Denn sonst war alles elend genug. Die schwere Prüfungszeit hatte ja keineswegs bloß die dreißig Jahre des schrecklichen Krieges gedauert; diesem war schon eine lange Periode kleinerer Händel vorangegangen. Dadurch waren alle geistigen und materiellen Verhältnisse des Bürgertums so erschüttert, daß es schon viel heißen wollte, wenn man es überhaupt vermochte, wieder die äußeren Lebensbedingungen eines erträglichen Daseins zu schaffen. Konnte das allmähliche Gelingen dieser Absicht schon leicht zu einer stumpfen, engen Weltauffassung führen, der ein bescheidenes äußeres Behagen als höchstes Lebensziel erschien, so lastete auf dem ganzen Dasein aufs schwerste der jegliche Selbständigkeit unterdrückende Despotismus der Fürsten, die ihre Völker verachteten, sie ausschließlich als Steuerobjekte behandelten und ihre Gunst nur Fremdlingen oder unter den eigenen Landeskindern den charakterlosen Söldlingen der Fremdsucht zuwandten.

Im deutschen Süden und vor allem in jenen Landstrichen, die das heutige deutsche Österreich bilden, sah es im Grunde noch viel schlimmer aus, als im Norden. Allerdings, die behaglichen und auskömmlichen Verhältnisse des äußeren Lebens hatten sich hier früher eingestellt, dank der Fruchtbarkeit des Landes und seiner ergiebigeren Hilfsquellen; aber um so leichter wurde hier ein äußeres Behagen zum Lebensziel und Lebensinhalt, als der Volkscharakter die kleinen Freuden und leicht zugänglichen Genüsse ohnehin gern zu stark bewertet. Dann aber war zweifellos das stärkere geistige Leben im Norden. Allenfalls, daß die Schweizer ein gewisses Gegengewicht durchhielten. Der deutsche Süden und Österreich lagen dagegen in selbstzufriedenen Schlummer, während sich in Gewittern und Frühlingsstürmen das neuerwachte geistige Leben im Norden ankündigte. Sogar in musikalischer Hinsicht liegen für diese Zeit die starken Keime und Triebfedern der Entwicklung im nördlicheren Deutschland. Denn die katholische Kirchenmusik des Südens verfiel immer mehr demselben Welschtum, das das Theater und alle offizielle weltliche Musik beherrschte, während im Norden von der evangelischen Kirchenmusik aus auch die ganz weltliche Instrumentalmusik mit deutschem Geiste erfüllt wurde. Das literarische Leben erhielt seine starke Neubefruchtung ganz von nordischen Kräften. Klopstock, Lessing, Herder erstehen hier. Wieland, den der deutsche Süden als erste geniale Begabung vorschickt, ist bezeichnenderweise seiner ganzen Art nach unvolkstümlich und hat seinen tiefen Wert darin, daß er Vorzüge der Fremde der Heimatliteratur zuführt. Dann freilich, als erst die Kräfte des Südens geweckt sind, entsprießt dem fruchtbareren Boden auch ein üppigeres Blühen. Immerhin müssen wir bedenken, daß auch Goethe und Schiller nordwärts ihren Weg nahmen, und es ist eine glückliche Fügung, daß dieser Zug nach Norden nicht zu weit hinaufführte, daß zur deutschen Musenstadt die kleine Residenz an der Ilm, in der Mitte der deutschen Lande wurde, wo norddeutsches und süddeutsches Wesen am meisten zu einer glücklichen Harmonie verschmolzen erscheinen. Des ferneren wurden für den deutschen Norden und die Mitte des Landes Friedrichs des Großen Siege fruchtbar, deren höchster erzieherischer Wert darin lag, daß in den Männern echter Mannesgeist, Gefühl für Verantwortung und Bewußtsein des Wertes männlicher Tatkraft geweckt wurde.

Wenn wir uns mehr daran gewöhnen würden, die Kulturentwicklung unseres Volkes von zusammenfassenden Gesichtspunkten aus als die große Entwicklung seines gesamten geistigen und seelischen Lebens aufzufassen, so würde auch die eigentümliche Erscheinung längst schärfer hervorgehoben worden sein, daß für den deutschen Norden und eigentlich auch für das ganze Westdeutschland die Musik als treibende Kulturmacht hinter der Literatur zurücktritt, trotzdem in Bach und Händel eben dieses Land zwei Riesenkräfte und zwei wunderbare Genialitäten hervorgebracht hatte, die ihr ungeheures Lebenswerk geschaffen haben, bevor auch nur eine lebensfähige literarische Erscheinung entstanden war. Die Wirkung der Literatur ist aber immer auch eine stark geistige und setzt eine geistige, verstandesmäßige Veranlagung voraus. Zumal unsere deutsche Literatur hat von vornherein ein riesiges Gedankenmaterial mit verarbeitet und wurde allsogleich zum heftigen »Sturm und Drang«, der sich keineswegs bloß mit der scharfen Kritik und Aufwühlung des künstlerischen Lebens begnügte, sondern in der Kunst die schärfste Waffe sah zur geistigen Kritik der gesamten Weltauffassung, zur Revolution aller sozialen Begriffe. Gerade wenn wir erkannt haben, daß auch das größte Genie innerhalb der Leistungskraft der Volksseele ersteht, wird es schier unbegreiflich, daß eine so wunderbare Gestalt wie J. S. Bach so gut wie ohne alle Wirkung bleibt. Man halte nur dagegen, wie alle unsere großen Dichter gewirkt haben, trotzdem der Volksgeschmack das Starke in ihnen auch nicht, wenigstens nicht künstlerisch, zu erfassen vermochte; aber ihre bedeutenden Werke haben doch jene bedeutsame Folge gehabt, daß die Nachahmung derselben sich bemächtigte. Der »Messias«, »Minna von Barnhelm«, »Werther«, »Götz«, »Die Räuber«, »Kabale und Liebe« – um jedes dieser Werke schart sich eine fast unübersehbare Masse gleich eingestimmter Epigonenarbeit. Zu der Musik spüren wir von Bachs oder Händels Lebensarbeit so gut wie gar keinen seelischen oder geistigen Einfluß auf das Volk, und selbst die Künstler gewinnen davon kaum etwas, was sie nicht auch in der Vorbereitungsliteratur dieser beiden Riesen hätten finden können.

Es ist nun außerordentlich bezeichnend, daß im Gegensatz dazu der deutsche Süden, die ganzen österreichischen Lande durch die Musik ihre geistige und seelische Erweckung erfahren. Das liegt natürlich nicht bloß an den äußeren Verhältnissen, sondern vor allem auch an der Charakterveranlagung. Jene Teile unseres Volkes, die stets den Wert des Gemüts gegenüber dem verstandesmäßigen Erkennen dargetan haben, mußten von der Musik ganz anders ergriffen werden als der Norden, konnten wohl überhaupt nur auf diese Weise den Fesseln der seelischen und geistigen Enge, die so lange schwer auf Deutschland gelastet hatte, entrissen werden.

 

Aus der gleichen kleinbürgerlichen Volksschicht wie für den Norden die ersten wahren Dichter, erstehen dem Süden die Musiker Haydn und Mozart. Als dann der Garten wieder im Blütenflor steht, als die lange zurückgehaltenen Kräfte tausendfältig sich regen, da entwickelt sich gegenüber dem literarischen Zentrum Weimar (mit dem steten kritischen und gesellschaftlichen Rückhalt Berlin) das musikalische Zentrum Wien, das eine ebenso starke Anziehungskraft auf die musikalischen Geister des übrigen Deutschlands ausübt wie jenes auf die literarischen. Das gilt nicht nur für die Höhen unseres geistigen Kulturlebens, sondern auch für die breite Volksmasse, die allerdings weder hier noch dort mit der Entwicklung der großen Kunst Schritt zu halten vermochte. Der Ausbildung literarischer Gesellschaften und einer starken Popularliteratur im Norden entspricht für das deutsch-österreichische Gebiet eine außerordentlich hohe Pflege der Hausmusik, an der das ganze Volk, das Kaiserhaus, der Adel bis in die untersten Schichten des Bürgertums teilnahm. –

Für die Jugendzeit Leopold Mozarts, des Vaters unseres Komponisten, kann man noch nicht von einem Aufschwung des geistigen und seelischen Lebens des Volkes sprechen. Gerade das einst so glänzende Augsburg der Fugger war besonders hart mitgenommen worden, erst im Dreißigjährigen Krieg, dann 1703 durch die Plünderung der bayrischen und französischen Armee. Er selber hat für den Stumpfsinn und die Begrenztheit des heimatlichen Lebens zeitlebens ein bitteres Gefühl bewahrt, und als sein Sohn 1777 nach Augsburg reiste, schrieb er ihm: »So oft ich an Deine Reise nach Augsburg dachte, so oft fielen mir Wielands ›Abderiten‹ ein: man muß doch, was man im Lesen für pures Ideal hält, Gelegenheit haben in natura zu sehen«. Um so bezeichnender ist es, daß auch ihm die Musik die Mittel und den Weg gab, aus dem allgemeinen Elend herauszukommen. Denn wenn er auch nach Salzburg gekommen war, um Jurisprudenz zu studieren, so hatte er doch schon in Augsburg seine musikalische Begabung als Kirchensänger gründlich nach allen Seiten hin ausgebildet und sich hier, wie später in Salzburg, durch musikalische Betätigung den Lebensunterhalt verdient. Die Musik sollte auch zu seinem Lebensberuf werden. Da es ihm nicht gelungen war, eine andere Stellung zu erhalten, trat er als Kammerdiener in den Dienst des Grafen Thurn, eines salzburgischen Domherrn. Der Ruf von seinen musikalischen Fähigkeiten verbreitete sich schnell, und so wurde er 1743 vom Erzbischof als Hofmusikus in Dienst genommen. Hier stieg er allmählich zum Hofkomponisten und Konzertmeister, bis er 1762 vom Erzbischof Sigismund zum Vizekapellmeister ernannt wurde.

Schubart rühmt von Leopold Mozart, daß er die Musik in Salzburg »auf einen trefflichen Fuß gestellt habe«. Die rastlose Energie und der unermüdliche Pflichteifer, die ihm allein ja aus den heimischen Verhältnissen herausgeholfen hatten, beseelten ihn eben auch in seinem kärglich entlohnten Dienste (er bezog jährlich 504 Gulden). Seine Stellung heischte von ihm eine ziemlich ausgedehnte Kompositionstätigkeit, zumeist als Kirchenkomponist. Es haben sich hier eine ganze Reihe seiner Arbeiten erhalten, die einen wissensreichen, formgewandten und alle praktischen Bedürfnisse geschickt erfüllenden Musiker zeigen. An seiner Kirchenmusik, die sich innerhalb des besseren Durchschnitts der damaligen Musik behauptet, mag man am ehesten einen gewissen »altväterischen Zug«, den auch Schubart betonte, hervorheben, weil der doch auf einem gründlichen Studium der alten Meister des strengen Satzes beruht, außerdem in Gegensatz trat zur theatralischen Behandlung der katholischen Kirchenmusik, die immer mehr einriß. Eigenartiger sind Leopold Mozarts Klaviersonaten, die neben den Werken Phil. Em. Bachs als Vorläufer der Sonaten des großen Mozart zu gelten haben. Auch in kleineren Formen der Klaviermusik schuf er Ansprechendes. Ein derartiges Stücklein gefiel derart, daß es auf das große Hornwerk übertragen wurde und so durch Jahrzehnte täglich zweimal von der Feste Hohensalzburg in die Stadt hinabklang. Außerdem hat er eine lange Reihe von musikalischen Bedürfnissen, die sich gelegentlich einstellten, befriedigt. Neben Oratorien hat er manche theatralische Sachen geschrieben, und eine ganze Anzahl jener Gelegenheitsmusiken, die mit ihrem etwas einfältigen programmatischen Inhalt doch nicht so sehr nur als Spielerei aufgefaßt werden sollten, wie wir es nach dem riesigen Aufschwung aller Gattungen unserer Musik zu tun uns gewöhnt haben. Es tritt hier zweifellos in einfachster, oft kindischer Äußerung das deutsche Verlangen nach einer geistigen Entwicklung eines musikalischen Gedankens zutage gegenüber dem bloß auf sinnliche Wirkungen abzielenden Musizieren der Italiener, gegenüber ferner der nicht mehr verstandenen formalen Kontrapunktik der älteren Zeit. Als Beispiel für den Charakter dieser Gelegenheitsmusiken sei hier das Programm der »musikalischen Schlittenfahrt« mitgeteilt, wie es Leopold Mozart selbst am 29. Dezember 1755 in Druck gegeben hat.

Musikalische Schlittenfahrt

»Den Anfang macht eine Intrada von einem artigen Andante und prächtigen Allegro. nach diesem folget alsogleich Eine Intrada mit Trompeten und Pauken. auf dieses Kommt die Schlittenfart mit dem Schlittengeläut und allen andern Instrumenten.

Nach geendigter Schlittenfahrt hört man wie sich die Pferde schütteln. auf welches eine angenehme Abwechselung der Trompeten und Pauken mit dem Chor der Hautboisten, Waldhornisten und Fagotisten folget. Da die erstern ihren Aufzug, die zweyten aber ihren Marche wechselweise hören lassen.

Nach diesem machen die Trompeten und Pauken abermal eine Intrada und die Schlittenfart fängt sich wieder an. Nach welchem alles stille schweiget; denn die Schlittenfarts Campagnie steigt ab und begiebt sich in den Tanzsaal.

Man hört ein Adagio, welches das vor Kälte zitternde Frauenzimmer vorstellt.

Man eröffnet den Ball mit einem Menuett und Trio.

Man sucht sich durch Teutsche Tänze immer mehr zu erwärmen; es kommt endlich der Kehraus und letztlich begiebt sich die ganze Compagnie unter einer Intrada der Trompeten und Pauken auf ihre Schlitten und fahren nach Hause.«

Für diese in der Form natürlich recht bescheidene Programmmusik boten sich die Vorbilder vor allem in der französischen Klaviermusik. Aber auch die deutsche Klaviermusik hatte sich längst in derartigen Werken versucht; neuerdings wieder mehr bekannt geworden sind die 1700 erschienenen »Musikalischen Vorstellungen einiger biblischen Historien in sechs Sonaten« von Johann Kuhnau; aber auch der große Joh. Seb. Bach hatte wenigstens einmal in dem »Capriccio auf die Abreise seines geliebten Bruders« etwas ähnliches geschaffen.

Die geschichtliche Bedeutung Leopold Mozarts beruht auf seinem 1756, also im Geburtsjahr seines großen Sohnes erschienenen » Versuch einer gründlichen Violinschule«. Das war der erste gelungene Versuch einer Violinschule; sie blieb auf lange Zeit hinaus, wie die vielen Auflagen und Übersetzungen beweisen, die verbreitetste Anweisung des Violinspiels. Noch Zelter urteilt in einem Briefe an Goethe: »Seine Violinschule ist ein Werk, das sich brauchen läßt, solange die Violine eine Violine bleibt; es ist sogar gut geschrieben.« Dieses Lob der guten Schreibart ist wohl verdient und wiegt um so schwerer, als in der damaligen Zeit es sicher nur verschwindend wenige Musiker gab, die über einen so gewandten Ausdruck der deutschen Sprache verfügten, wie der stets von literarischen Interessen erfüllte Salzburger Kapellmeister. Die textlichen Ausführungen sind aber nicht nur gut geschrieben, sondern, was schließlich noch mehr wert ist, von einem edlen, echt künstlerischen Geiste erfüllt. Dieser Mann strebt nirgends nach Blendwerk. Die technische Ausbildung in dem einen Instrument steht für ihn hinter der gründlichen Ausbildung im allgemeinen. Herzhaftigkeit und männliche Empfindung verlangt er vom Spieler. Gesangsmäßigkeit sei das Ziel des Vortrags; »wer weiß denn nicht, daß die Singmusik allzeit das Augenmerk aller Instrumentisten sein soll, weil man sich in allen Stücken dem Natürlichen, soviel es immer möglich ist, nähern muß.« Geradezu verhaßt ist ihm alles äußerliche Virtuosentum; die Technik sei nur Mittel des Ausdrucks. So zeigt das ganze Werk einen gründlichen, aller Halbheit und Untüchtigkeit abholden Mann, der sich von aller nur musikalischen Weichheit fernhält und gründliche Durchbildung des gesamten geistigen Lebens, klares, vernünftiges Denken als unentbehrlich für den wahren Künstler erkannt hat. Wir erkennen, welch vorzüglicher Lehrer dieser Mann für sein geniales Kind sein mußte, um so mehr als er mit aller Hochschätzung des durch Arbeit und Studium zu Erlangenden eine geradezu rührende Ehrfurcht, eine fast heilige Scheu vor dem göttlichen Wunder der wahren Genialität verband. Das offenbart sich am beredtesten in der prachtvollen Bescheidenheit, mit der er selber das Komponieren aufgab, seitdem er bei seinem Sohn erkannt hatte, wie der wahrhaft schöpferische Geist im Menschen schaltet.