Weihnacht!

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»Aber die Tour nach Karlsbad ist bequemer; Sie haben da stets vortreffliche Straße, während der Weg über Berg und Thal nach Graslitz hinauf jetzt im Winter so beschwerlich ist, daß wenigstens ich ihn nicht gehen möchte. Oder wollen Sie fahren?«

»Nein. Erstens sind unsere Mittel dazu zu gering, und zweitens müssen wir mit in Rechnung ziehen, daß wir die Gesuchten leicht noch unterwegs treffen können; wir müssen uns also für dieselbe Transportgelegenheit wie sie entscheiden, nämlich für Schusters Rappen.«

»Schade, jammerschade! Sie gefallen uns, und wir rechneten darauf, daß Sie noch einen oder zwei Tage bei uns bleiben würden. Wenn Sie wenigstens morgen noch bleiben, kann es leicht möglich sein, daß Sie der Frau die Karten hier geben können.«

»Wieso?«

»Weil sie, wenn sie ihren Verlust bemerkt, schnell umkehren und wieder zu uns kommen wird, um die Karten zu holen.«

»Das bezweifle ich, denn sie wird glauben, sie unterwegs verloren zu haben. Wenn sie nicht die feste Überzeugung hätte, sie von hier mitgenommen zu haben, wäre sie wahrscheinlich jetzt schon wieder da.«

»Es ist möglich, daß Sie recht haben. Also Sie sind wirklich entschlossen, diesen Leuten trotz ihrer Undankbarkeit nach Graslitz nachzulaufen?«

»Ja. Was Ihnen als Undank erscheint, ist vielleicht eine Folge von Gründen, die Sie und wir nicht kennen. Also, wir machen einen Ausflug, weil wir Bewegung brauchen; wohin wir fliegen, wohin wir uns bewegen, das ist, wie schon gesagt, sehr gleichgültig; fliegen wir also nach Graslitz!«

»Na, vom Fliegen wird da wohl keine Rede sein können. Es fängt an zu schneien, und wenn es in dieser Nacht so fortschneit, sind für Sie morgen früh alle Wege zu.«

»Das macht uns heut noch keine Sorge; unsere einzige Sorge ist jetzt nur die, ob Sie uns das Couvert mit den Karten anvertrauen werden.«

»Warum denn nicht? So braven Burschen, wie Sie sind, wird man doch Vertrauen schenken, und ich bin überhaupt froh, daß ich diese Sachen los werde.«

»So brechen wir morgen früh auf, sobald es hell geworden ist. Wir werden wohl jemand finden, der uns den Weg beschreiben kann.«

»Da brauchen Sie nicht weit zu suchen, denn ich stamme aus Bleistadt und kenne ihn ganz genau. Ich werde ihn nachher auf ein Papier zeichnen, welches Sie mitnehmen können.«

»Abgemacht, beschlossen und genehmigt!«

»Nur langsam!« sagte Carpio. »Du thust doch, als ob du dich ganz allein auf der Erde befändest! Du bestimmst, was geschehen soll, und thust das ganz nach deinem Gutdünken, ohne mich auch nur ein einziges Mal zu fragen. Ich bin aber auch noch da, verehrter Sappho!«

»Das weiß ich. Ich glaubte, allein sprechen zu müssen, weil du die Sprache verloren zu haben scheinst, und war überzeugt, daß du einverstanden sein würdest, wenn es gilt, armen, unglücklichen Menschen zu ihrem Eigentume zu verhelfen.«

»Daß ich gern dabei bin, versteht sich ganz von selbst, nur weiß ich nicht, ob mein übergangener Heißhunger mir morgen schon erlauben wird, einen so beschwerlichen Weg zu machen.«

»Grad darüber brauchen Sie nicht zu sorgen,« fiel Franzl heiter ein. »Ich kenne ein ganz sicheres Mittel, Sie bis morgen früh wieder gesund zu machen. Sie müssen dieses Mittel noch heute abend verzehren.«

»Was ist es?« fragte Carpio neugierig.

»Vier oder fünf Stückchen Quarkkuchen.«

»Quark – – ku – – chen?« dehnte der Busenfreund schaudernd. »Ich würde auf der Stelle sterben, wenn ich meinem Magen das Herzeleid anthäte, auch nur ein einziges zu essen!«

»Aber ich bin überzeugt, daß Sie doch früher dieser Sorte von Kuchen nicht abgeneigt gewesen sind!«

»Früher und jetzt, das sind zwei sehr verschiedene Zeiten. Sie kennen doch das lateinische Sprichwort von den Zeiten und den Menschen, die sich ändern?«

»Gewiß kenne ich es. Es heißt: Saepe luet porci facinus porcellus adulti. Und wenn Sie heut nichts genießen wollen, so werden Sie mir erlauben, dafür zu sorgen, daß Sie wenigstens unterwegs nicht Hunger leiden. Jetzt will ich Papier holen, um Ihnen den Weg aufzuzeichnen.«

Als er das gethan und uns den Weg auch noch sehr eingehend erklärt hatte, gingen wir schlafen. Oben angekommen bemerkte ich, daß der Schragen mit den Kuchen nicht mehr in der guten Stube stand. Dieser Umstand fiel mir keineswegs auf, denn Kuchen hebt man doch nicht in einem Raume auf, in welchem geschlafen wird, und auch der Busenfreund meinte:

»Laß ihn fort sein; ich werde um so besser schlafen, wenn ich diesen Quarkkuchen nicht riechen muß, der mir so zuwider ist, wie ich gar nicht sagen kann!«

Als wir am andern Morgen zeitig Kaffee getrunken hatten, brachte die Wirtin ein großes, schweres Paket Lebensmittel, welches wir mitnehmen sollten. Wir wollten es zurückweisen, weil es uns zuviel schien; sie ging aber nicht darauf ein. Franzl gab uns das Couvert mit den Schiffskarten und noch ein zweites, kleineres. Er sagte:

»Den Abschied wollen wir uns nicht gar so schwer machen, denn ich bin überzeugt, daß Sie auf dem Rückweg wieder bei mir einkehren werden. Bis dahin gebe ich Ihnen ein kleines Andenken an mich mit. Sie haben uns bei Ihrem Kommen so mit Reimen überschüttet, daß ich mir gegen Sie wie ein Schuljunge vorgekommen bin. Da habe ich denn gestern abend, als Sie schliefen, mir Mühe gegeben, auch einen Reim zu machen. Es hat wohl an die zwei Stunden gedauert, bis er fertig war. Sehen Sie, ob er etwas taugt; aber öffnen Sie das Papier nicht eher, als bis Sie aus der Stadt hinaus sind. Darf ich Ihnen noch ein paar Virginias und einige Stücke Quarkkuchen mitgeben?«

Da streckte Carpio, der sich heute wieder wohl fühlte, beide Hände abwehrend aus und rief:

»Ich rauche im Leben niemals wieder, und wenn Sie wollen, daß ich Ihnen ein treues und dankbares Andenken widmen soll, so sprechen Sie das andere Wort, so lange wir noch da sind, ja nicht wieder aus!«

Der Abschied war zwar kurz, aber um so herzlicher. Wir mußten versprechen, auf dem Rückwege, wenn nur immer möglich, ja wieder vorzusprechen und noch einen Tag zu bleiben; dann wanderten wir zur Stadt hinaus. Draußen vor derselben stand ein Einkehrhaus. Als ich an demselben vorüber wollte, hielt mich Carpio an und sagte:

»Lieber Wanderer, geh nicht weiter! Da drinnen lächelt wieder edle Gastlichkeit!«

»Schon einkehren? Wir machen doch keine Bierreise und haben kaum erst zweihundert Schritte gethan!«

Aber der Busenfreund wußte mich zu überreden. Er bewies mir mit mathematischer Schärfe, daß wir unbedingt das mitbekommene Paket untersuchen müßten, was doch unmöglich unterwegs im Freien geschehen könne. Auch müßten wir das Gedicht lesen; ein Bier koste nur sechs Kreuzer und reiche für uns beide – ergo!

Die Stube war leer; dann kam eine Frau, schenkte uns das Bier ein und ging dann wieder hinaus. Wir waren allein. Nun wurde das Paket mit großer Feierlichkeit geöffnet. Es enthielt ein ganzes Stück Butter, einen Käse, ein Stück Schinken, eine halbe Magenwurst, einige Stücke Rosinenkuchen und etwas in Flanell gewickelt. Als wir dies öffneten, fielen zehn blanke Gulden und ein Papier heraus, auf welchem zu lesen stand:

»Für die Visite schulden

Wir Ihnen diese Gulden.

Ihr treuer Franzl.«

Wir ließen unserer frohen Überraschung zehn Minuten lang freien Lauf; als Carpio dann allerlei Vorschläge machte, wie dieses Geld unterwegs zu verwenden sei, sagte ich:

»Es wird nicht ausgegeben, sondern aufgehoben. Unser Reisegeld muß langen.«

»Was hast du da?« fragte der Busenfreund, als er den Lederbeutel sah, den ich auf meinem jungen Herzen trug und jetzt unter der Weste hervorzog.

»Das ist mein geheimer Geldschrank, in welchem die zwanzig Thaler stecken, die ich mir von meinem Honorar für unvorhergesehene Fälle aufbewahrt habe. Hier hinein kommen diese zehn Gulden.«

»Denkst du nicht, daß ein Einbrecher auf den Gedanken kommen kann, daß du diesen Beutel bei dir hast?«

»Hier unter meiner Weste bricht mir niemand ein; darauf kannst du dich verlassen! Du, steckt nicht da zwischen dem Kuchen auch ein beschriebenes Papier?«

»Es scheint so.«

Er zog es heraus und wir lasen:

»Warum es Rosinen- und kein Quarkkuchen ist, wird Ihnen mein Reim sagen.«

»Was dieser Franzl nur immer mit seinen Quarkkuchen hat!« sagte ich.

»Ist auch mir ein Rätsel,« behauptete der Busenfreund in sehr gleichgültigem Tone, wobei aber eine holde Röte auf den Stellen erschien, wo die Schnurrbartspitzen später auf den Backenbart zu treffen hatten.

»Gestern,« fuhr ich fort, »erwähnte er ihn mehrmals, und zwar, wie ich mich erinnere, mit ganz besonderer Betonung. Sollte vielleicht der Umstand damit zusammenhängen, daß gestern abend der Kuchenschragen verschwunden war?«

»Ich bin ganz ohne alle Ahnung!«

»Wirklich?«

»Ja. Doch, um von etwas anderem zu reden, was sagst du zu dieser halben Magenwurst? Mir kommt sie außerordentlich bekannt vor.«

»So? Ah – ja – es ist möglich, daß es die Hälfte von der ist, von welcher ich dir heruntergeholfen habe. Wahrhaftig, der vortreffliche Franzl hat unsertwegen seine schönste Wurst zerschnitten! Oh Carpio, oh Carpio, wie wären wir nun blamiert, wenn du deinen Vorsatz ausgeführt hättest!«

»Welches Unglück!« stimmte er tief aufatmend bei. »Denke dir – – die Federn!«

»Ja, die – – – Federn! Mensch, wir wären wahrscheinlich deinetwegen alle beide zur Thür hinausgeworfen worden! Solche Schande kann man erleben, wenn man einen Spitzbuben zum Busenfreund hat!«

»Schweig! Es ist ja alles noch gut abgelaufen. Es war nur eine Absicht; die kann dem ehrlichsten Menschen kommen; aber zur wirklichen Ausführung würde so etwas bei mir niemals kommen!«

 

»Na, na!«

»Niemals!« beteuerte er. »Du wirst mir doch zutrauen, daß ich den Unterschied zwischen Mein und Dein zu respektieren weiß!«

»Schon gut! Jetzt wissen wir, was das Paket enthalten hat; nun wollen wir den Reim lesen!«

»Können wir nicht noch warten, lieber Sappho?«

Dieses »lieber Sappho« klang diesmal so zuckersüß, daß es mir auffiel. Darum erkundigte ich mich:

»Warum sollen wir noch warten? Hast du etwa einen besondern Grund?«

»Einen besondern nicht, aber unsere Spannung würde größer.«

»Ich bin kein Freund von übermäßiger Spannung. Sehen wir also nach!«

Ich zog den Umschlag hervor und öffnete ihn. Da legte er seine Hand auf die meinige und fragte:

»Sappho, du bist mein bester, mein allerbester Freund. Willst du mir einen großen, sehr großen Gefallen thun?«

»Welchen?«

»Lies den Reim heut nicht!«

»Wann denn?«

»Später, später, meinetwegen zu Ostern oder zu Pfingsten, nur nicht heut!«

»Höre, Carpio, mit dir ist etwas nicht richtig; du hast kein reines Gewissen. Ich werde lesen.«

»Da sage – ich dir – – die Freundschaft auf!«

»Gut! Betrachten wir sie schon jetzt als vorüber, denn wenn du zu diesem verzweifelten Mittel greifst, muß ich erst recht wissen, was Franzl geschrieben hat.«

Ich zog den Zettel hervor und las ihn. Oh, nun wurde mir freilich alles, alles klar. Armer Carpio! Ich hätte laut auflachen mögen, bezwang mich aber, zeigte meine ernsteste Miene, schob ihm den Reim hin und sagte:

»Hier – – lies!«

Er las und wurde leichenblaß dabei.

»Das – das – – hätte er nicht – – nicht dichten sollen!« stammelte er.

»Wer sagte denn soeben noch, daß so ein schlechter Gedanke bei ihm niemals zur Ausführung kommen könne? Wer behauptete, den Unterschied zwischen Mein und Dein stets zu respektieren? Wer hat sich verstellt, mich getäuscht, belogen und betrogen? Lies mir den Reim laut vor!«

»Das – – das kann ich nicht!«

»Lies! Zur Strafe! Dann verfahre ich vielleicht gelinder mit dir, du – – du – – du Quarkkuchendieb, du!«

»Versprichst du mir wirklich, nachsichtig zu sein?« fragte er so kleinlaut wie noch nie.

»Ja.«

Da las er, und ich hörte ihn an, wie er sich zwingen mußte:

»Hat Carpio mitten in der Nacht

Einen Kuchen ganz zu Quark gemacht,

So stöhnt er unter Angst und Bangen:

›Ich hab den Hunger übergangen!‹«

»Du hast also, als ich schlief, einen ganzen Quarkkuchen aufgegessen?«

»Ja,« gestand er mit einer wahren Armensündermiene. »Ich habe es dir doch vorhergesagt!«

»Nein! Du hast nur gesagt, daß der Verlust schwerer zu entdecken sei, wenn man ihn ganz aufißt. Einen ganzen, ganzen Quarkkuchen von vier Vierteln und acht Achteln! Das bringt doch höchstens nur ein Elefant fertig! Wie ist es dir denn darauf geworden?«

»Schauderhaft, sage ich dir, schauderhaft! Ich werde noch auf Jahre hinaus zittern, wenn ich das Wort Quark nur höre! Übriglassen durfte ich nichts, und als ich mit Ach und Weh fertig war, begann der hinterlistige Teig in mir aufzuquellen!«

»Da dauerst nicht etwa du mich, sondern der edle Löwe, der elend hat ersticken müssen! Du konntest dir doch denken, daß die Wirtin ihre Kuchen gezählt hatte!«

»Das dachte ich natürlich wohl; aber daß sie dann nachzählen würde, dachte ich nicht. Du kannst es mir glauben, lieber Sappho: Wenn du das Quadrat der längsten Hypothenuse samt den Quadraten ihrer beiden Katheten mit einem ganzen Topf voll Gurkensalat und saurer Sahne verzehrst, wird das, was du dann fühlst, gegen das, was ich empfunden habe, als grenzenlose Behaglichkeit bezeichnet werden müssen.«

»Und,« fuhr er nach einer Weile fort, »der körperliche Jammer war nicht der einzige, den ich empfand, denn wie, wie habe ich auch geistig, seelisch leiden müssen! Dich zum Beispiele die herrlichen großen Klöße essen sehen zu müssen, ohne mitthun zu können, das war eine wahrhaft teuflische Grausamkeit, mit welcher mein Schicksal mich strafte. Dann die Schlittenfahrt! Deine Fröhlichkeit, deine lachenden Augen, während ich wie ein in der Magengegend harpuniertes Walroß dick und angeschwollen hinter dir im Schlitten hockte! Es war mir, als hätte ich hunderttausend Zähne verschluckt, welche alle mit Zahnschmerzen behaftet waren, die nun in meinem Innern zu wüten begannen. Ich gebe dir mein Wort, daß – –«

»Halt ein, halt ein!« mußte ich jetzt laut auflachen. »Die Schmerzen von hunderttausend kariösen Zähnen! Dieser Vergleich ist so pompös, so genial und dabei doch so Mitleid erweckend und nach Erbarmen schreiend, daß ich, ich mag nun wollen oder nicht, dem armen, harpunierten Walroß meine Gnade wieder zuwenden muß.«

»Was!« rief er da, vor Freude aufspringend. »Du wolltest – –? du wolltest wirklich – – lieber Sappho?«

»Ja, ich will!«

»Da – – da – – da könnte ich aus Liebe und lauter Dankbarkeit gleich noch – – noch – – noch – –?«

»Nun, was?«

»– – gleich noch einen Quarkkuchen essen, hätte ich beinahe gesagt, aber natürlich keinen gestohlenen! Armer Sappho! Auch du hast unter dem Verdacht gestanden – –«

»Oh nein,« unterbrach ich ihn. »Franzl war pfiffig genug, deinem berühmten übergangenen Heißhunger sofort anzusehen, daß du allein der Schuldige warst. Du hast ihm und seiner Frau heimlich ungeheuern Spaß gemacht.«

»Ich danke! Mir war es nicht sehr spaßhaft zu Mute! Also, du denkst nicht, daß sie zornig auf mich sind?«

»Nein, das denke ich nicht. Trotzdem aber können wir nicht wieder hin zu ihnen. Es bleibt an deiner Ehre doch immer ein Stück von dem Quarke kleben, welches nicht wegzubringen ist. Wollen die Sache auf sich beruhen lassen und machen, daß wir von hier fortkommen!«

»Gut, brechen wir auf! Also, du bist nicht mehr bös auf mich?«

»Nein.«

»Bist wieder gut, vollständig wieder gut?«

»Vollständig!«

Da schob er mir das Bier hin, von welchem wir noch keinen Schluck getrunken hatten, und forderte mich auf:

»Trink, Sappho!«

»Warum trinkst denn du nicht, Carpio?«

»Weil ich aus lauter Dankbarkeit das große Opfer bringen und dir alles lassen will.«

»Danke! Ich mag nichts.«

»Warum nicht?«

»Ich sehe und rieche schon von weitem, daß es sauer ist.«

»Das rieche ich nicht; aber es ist eine Schwabe drin ertrunken. Siehst du sie nicht?«

»Ach, darum deine große, aufopferungsvolle Dankbarkeit?!«

»Ja. Sogar die Schwabe wollte ich dir allein lassen. Komm, wollen gehen!«

Wir banden unser Paket wieder zusammen und gingen; nach kurzer Zeit war Falkenau hinter uns verschwunden.

Es hatte nicht, wie Franzl gestern abend meinte, die ganze Nacht hindurch geschneit, und so gab es für uns, wenigstens zunächst, eine ziemlich gut gebahnte Straße. Den ungefähr eine Meile weiten Weg bis nach Gossengrün legten wir in zwei Stunden zurück. Auf unsere Erkundigung dort erfuhren wir, allerdings erst nach langem und sorgfältigem Umherfragen, daß die Gesuchten gestern um die Mittagszeit hier angekommen und dann von einem mitleidigen Viehhändler in seinem Wagen mit nach Bleistadt genommen worden waren. Unser Weg ging also nun nach diesem Orte, den wir noch am Vormittage erreichten, obwohl der Schnee hier schon viel höher als in der Falkenauer Gegend lag.

Bleistadt ist nicht groß; darum fanden wir das Schenkhaus sehr bald, in welchem der Händler mit seinem Schlitten angehalten hatte; ja, wir fanden ihn sogar selber, denn er hatte hier übernachtet und war frühzeitig nach Heinrichsgrün gefahren und soeben von da zurückgekommen. Er sagte uns, daß die Frau ein wahrer Engel an Aufmerksamkeit und Hingebung gegen ihren alten Vater sei, der aber wohl nicht mehr lange leben werde, denn er hatte sich selbst im Schlitten kaum auf dem engen Sitze aufrecht erhalten können. Von ihrer Einkehr bei Franzl hatte sie nichts gesagt.

»Ich bin aus Graslitz,« fuhr er fort, »und hätte sie ganz gern bis dorthin mitgenommen, aber ich mußte hier bleiben, um heut nach Heinrichsgrün zu fahren und die nächste Nacht in Neukirchen zu bleiben. Als sie erfuhr, daß ich alle Leute in Graslitz kenne, fragte sie mich nach einem Instrumentenmacher, der mit ihrem Mann verwandt ist. Sie dachte, bei ihm bleiben zu können, weil sie ihn für wohlhabend hielt; leider konnte ich ihr da keine gute Auskunft geben, denn er war nur Gehilfe und wendete seinen ganzen Verdienst dem Branntwein zu. Wegen dieser seiner Trunksucht fand er nirgends mehr Arbeit und hat sich vor ungefähr einem Jahre auf und davon gemacht, wohin, das weiß ich nicht.«

»Ist die Frau von hier weiter?«

»Ja. Der Wirt wollte sie nicht umsonst behalten, und Geld hatte sie nicht; sie dachte, unterwegs eher und leichter gute, mitleidige Leute zu finden, und es ist auch wahr, daß einsam wohnende Menschen gastlicher sind als Bewohner von Orten, wo es Gasthäuser giebt.«

»Da ihre Hoffnung auf den Verwandten nun zunichte ist, hat es eigentlich gar keinen Zweck mehr für sie, nach Graslitz zu gehen; sie ist aber wohl trotzdem hin?«

»Ja.«

»Auf dem gewöhnlichen Wege?«

»Sie wollte sich immer an der Zwoda aufwärts halten; weiter weiß ich nichts. Es ist ein wahres Herzeleid, solche Leute zu sehen! Sie wollen sich nach Bremen durchbetteln; ob sie aber hinkommen, das weiß man nicht; der Alte auf keinen Fall; ich dachte jeden Augenblick, er werde mir im Schlitten sterben. Sie sprach davon, daß sie Schiffskarten hätte; aber wenn es so langsam weitergeht wie jetzt, werden die wohl abgelaufen sein, ehe sie benützt werden können.«

Diese Bemerkung machte mich noch besorgter um die Frau, als ich bis jetzt gewesen war. Ich nahm, ohne dem Händler zu sagen, was es war, das Couvert aus der Tasche und öffnete es; ich glaubte nicht, ein Unrecht damit zu begehen. Richtig! Die bezahlten Schiffslegitimationen waren von einem New-Yorker Agenten des damals erst ein Jahr bestehenden Bremer Lloyd ausgestellt und die Fahrt war für die ersten Tage des Februar festgesetzt. Die Frau hatte das nicht lesen können, weil der Text englisch war.

Wir machten uns wieder auf den Weg, welcher immer am Flüßchen aufwärts führte und ziemlich beschwerlich war, weil der Schnee stellenweise knietief lag. Überall wo es menschliche Wohnungen gab oder wenn uns jemand begegnete, fragten wir und erfuhren so, daß die armen Leute mehreremal um Nachtlager gebeten hatten, aber immer abgewiesen worden waren. Die Bewohner dieser Gegend sind oder waren besonders damals selbst so arm, daß sie, zumal im Winter, kaum genug trockenes Brot für sich selber hatten.

Gegen Abend sahen wir eine kleine, ärmliche, halb verfallene Schneidemühle vor uns liegen, deren ziemlich defektes Räderwerk eingefroren war. Das sah schon von außen ganz wie Hunger aus. Die kaum noch in den Rahmen hängenden Fenster hatten Risse und Löcher, welche mit Papier zugeklebt waren. Ein alter, abgemagerter Hund fuhr, als wir uns näherten, unter einer tiefen Schneewehe, wo er sein Lager hatte, hervor und vollführte mit seiner heiseren Stimme einen Lärm, auf welchen die obere Hälfte der querteiligen Thür geöffnet wurde. Das Gesicht einer alten, wie es schien, abgehärmten Frau war zu sehen.

»Gott zum Gruß, Mütterchen!« sagte ich.

»Grüß Gott,« antwortete sie. »Was wollen Sie?«

»Sind Sie die Müllerin?«

»Nein; die Mühle geht schon längst nicht mehr, denn ihr ist zwar nicht das Wasser aber das Geld ausgegangen. Ich bin nachher eingezogen, weil das Logis nichts kostet. Ich bin nämlich die Botenfrau zwischen Bleistadt und Graslitz.«

»Wir suchen einen alten Mann, eine Frau und einen Knaben, welche gestern in Bleistadt waren und nach Graslitz wollten.«

»Du lieber Gott, die, die suchen Sie? Da kommen Sie zu einer schlimmen Zeit! Mit dem Alten können Sie nicht reden, denn er liegt im Sterben. Was wollen Sie denn von der Frau?«

»Wir bringen ihr etwas, was sie verloren hat.«

»Da kommen Sie herein! Schön werden Sie es nicht bei mir finden, sondern traurig, sehr traurig.«

Sie öffnete nun auch die untere Hälfte der Thür, und wir traten in einen engen, vollständig leeren Flur, dessen Wände im Zerbröckeln waren. Durch eine höchst mangelhaft schließende Thür kamen wir in die Stube, für welche aber der Ausdruck Stall in ihrem jetzigen Zustande eine unverdiente Ehrung gewesen wäre; ich wenigstens hätte weder Pferd noch Kuh hier unterbringen mögen!

Es gab keinen Ofen, sondern einen aus Feldsteinen lose zusammengesetzten Herd, auf welchem ein Holzfeuer brannte, dessen flackernder Schein den sonst, obgleich es draußen noch ziemlich hell war, ganz dunkeln Raum zur Not erleuchtete. Von Wärme war nur wenig zu bemerken. Neben dem Herde ein paar Töpfe und Teller an der bloßen Erde, denn eine Diele gab es nicht. Am Fenster stand ein alter Tisch mit zwei schemelartigen Stühlen, und der Thür gegenüber gab es eine Lagerstätte, welche unsere Augen sofort auf sich zog. Sie bestand aus einem trockenen Laubhaufen, über den ein gewiß schon jahrelang nicht mehr weißes Betttuch gebreitet war. Einige zusammengerollte Fetzen bildeten das Kopfkissen, und die Zudecke präsentierte sich uns als die Reste eines haarlosen Männerpelzes. Auf diesem Bette lag der Greis, zu dessen Füßen der Knabe hockte, während die Frau am oberen Ende auf der Erde kniete und den Kopf ihres Vaters durch ihren untergeschobenen Arm stützte. Sie war so in ihren Schmerz versunken, daß sie sich gar nicht nach uns umblickte. Der Knabe erkannte uns und nickte uns traurig zu. Der Greis lag bewegungslos lang ausgestreckt; ob er die Augen offen hatte, konnten wir bei dem ungewissen Scheine des Feuers nicht erkennen; er sah so aus, als ob er schon tot sei.

 

Der Ort, wo ein Mensch im Verscheiden liegt, ist eine heilige Stätte, und wenn er auch der allerärmlichste der ganzen Erde wäre. Wir wagten nicht, laut Atem zu holen, und schlichen uns auf den Wink der Botenfrau zu den beiden Schemeln, um uns geräuschlos niederzusetzen. Sie folgte uns und flüsterte uns zu:

»Nicht wahr, es ist sehr ärmlich bei mir? Mein Schwiegersohn ist ein schlimmer Mann, der mich, seit meine Tochter tot ist, nicht mehr bei sich leidet; da habe ich mich hierher gemacht. Ich bekomme von der Gemeinde monatlich vierzig Kreuzer Almosengeld, und was ich sonst gegen den Hunger brauche, verdiene ich mir durch Botengänge. Sparen oder anschaffen kann man da aber nichts!«

»Seit wann sind diese Fremden hier?« fragte ich ebenso leise, wie sie gesprochen hatte.

»Seit Mittag. Sie haben die ganze Nacht im Schnee zugebracht, und das muß der Alte nun mit dem Leben bezahlen. Sie baten um ein Plätzchen zum Ausruhen für ihn; da konnte ich nicht nein sagen.«

»Haben sie gegessen?«

»Nein, denn sie haben nichts, und ich habe heut auch nichts mehr, als nur ein Brot, welches auch schon halb alle ist. Horch!«

Der Sterbende bewegte sich und sprach halblaut abgebrochene Worte vor sich hin:

»Mich friert – – ich will sterben! – – Legt mich ins Himmelbett, und – – deckt mich mit der weichen Seidendecke zu! – – – Wenn ich dann tot bin, unterschreibt nichts, nichts – – sonst bringt er euch noch an den Bettelstab!«

Der Knabe schluchzte zum Erbarmen; seine Mutter regte sich nicht; sie blieb stumm, stumm, wie der Schmerz in seiner größten Tiefe immer ist. Man hörte das Knistern der Flamme, weiter nichts. Nach einer längeren Weile begann der Alte wieder:

»Selig – selig ist, wer bis ans Ende – – an die – – die ewge Liebe glaubt – – –! Suchen – – suchen – – – im Verscheiden – – Erlösungsstern – – zur Herrlichkeit des Herrn – – –!«

Dann stieß er plötzlich einen überlauten Schrei aus, richtete sich in die Höhe, deutete mit der Hand wie in weite Ferne und rief in angstvoller Hast:

»Er schießt, er schießt – – – spring weg, spring weg; er schießt!«

Dann sank er wieder nieder. Nun ging sein Atem laut röchelnd, langsamer, immer langsamer, bis ich glaubte, er sei ganz weggeblieben; da aber hörte ich ihn noch einmal mit ruhiger, deutlicher Stimme sagen:

»Ich gehe jetzt, meine Tochter; aber nur mein Körper scheidet; meine Seele wird bei dir bleiben und dich behüten immerdar. Ich segne dich; ich segne euch. Der Herr sei euer Heil und euer Schirm! An seinem Throne werde ich unaufhörlich für euch beten. Habt Dank – – – lebt wohl – – – lebt wohl, ihr lieben – – lieben – – lieben – – –!«

Das letzte Wort erstarb zur Unhörbarkeit. Es wurde still, stiller als vorher. Nicht einmal das Feuer schien knistern zu dürfen. Da wendete die Frau sich ihrem Sohne zu und sagte in einem Tone, als ob ihr Leben nun auch zu Ende gehe:

»Stefan, dein Großvater ist gestorben; mir und dir ist er gestorben. Weine du; ich kann es nicht!«

Nun erst, nachdem sie sich dem Knaben zugewendet hatte, sah sie uns. Sie stand langsam auf, kam wie eine nur die Füße bewegende Statue auf uns zu und sagte mit seelenloser Stimme:

»Die Gymnasiasten von vorgestern. Was wollen Sie?«

»Sie haben Ihre Schiffskarte in Falkenau liegen lassen, und wir bringen sie Ihnen nach,« antwortete ich.

Ihre Augen waren nicht auf mich, sondern wie durch die Wand hindurchgerichtet, und es klang, als ob sie zu einem Abwesenden spreche:

»Danke; legen Sie sie hier auf den Tisch!«

»Ihre Gültigkeit läuft Anfangs Februar ab,« fuhr ich fort, da ich es trotz der dazu ganz unpassenden Situation für meine Pflicht hielt, ihr diese Mitteilung zu machen. »Nun Ihr Vater gestorben ist, wird Ihnen der Bremer Lloyd den Betrag der auf seinen Namen lautenden Karte zurückzahlen, denn bei Todesfällen verfällt die Summe nicht.«

»Ich weiß nicht, ob ich bis nach Bremen komme,« erklang es kalt und ohne Ton.

»Sie müssen hin. Ein Freund von Ihnen hat mir das für Sie gegeben; stecken Sie es ein!«

Es war, als ob ich gar nicht anders könnte, ich mußte diese Worte sagen und meinen »Geldschrank« unter der Weste hervorziehen, um ihn ihr zu geben. Sie steckte den Beutel ein, ohne ihn anzusehen, ja, ohne ihn, wie es schien, eigentlich in der Hand zu fühlen.

»Geben Sie das aber ja nicht für das Begräbnis her!« fügte ich hinzu. »Sie brauchen es zum Fahren unterwegs.«

»Ich werde es verstecken,« nickte sie wie ein Automat.

»Und hier in diesem Paket ist für Sie etwas zu essen, was ich mitgebracht habe. Gute Nacht, Frau Wagner!«

»Gute Nacht!«

Ich gab dem Knaben die Hand und ging mit Carpio hinaus; die Botenfrau folgte uns. Draußen fragte ich sie:

»Haben Sie alles gehört, was ich zu der Frau gesagt habe?«

»Alles,« nickte sie; »jedes Wort.«

»Sagen Sie ihr alles, aber auch alles wieder, denn sie scheint nicht draufgehört zu haben! Sie muß den Beutel verstecken, daß man ihr das Geld nicht nimmt, welches sie zur Reise braucht. Für das Begräbnis hat die Gemeinde zu sorgen, zu welcher diese Mühle gehört. Und damit Sie etwas für die richtige Ausführung dieses Auftrages haben, halten Sie die Hand auf!«

Sie that es, und ich schüttete ihr mein Reisegeld hinein; dann gingen wir fort, im Halbdunkel des hereingebrochenen Abends den Weg zurück, den wir gekommen waren.

Was ich dabei dachte? Nichts, gar nichts. Ich hatte wie unter einer Eingebung gehandelt und bereute nicht, es gethan zu haben. Der Busenfreund trollte lange Zeit schweigend hinter mir her, bis es ihn doch endlich trieb, das Schweigen zu unterbrechen:

»Du, Sappho, diese alte Mühle und diese Sterbescene werde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen! Wieviel hast du der Frau gegeben?«

»Alles.«

»Deine zwanzig Sparthaler und unsere zehn Gulden? Mensch, du bist ein großartiger Kerl! Aber ich nicht minder! Ich hätte es ihr auch gegeben, grad so wie du! Und was hat die alte Frau bekommen?«

»Mein Reisegeld.«

»Das ganze?«

»Ja.«

»Wieviel hattest du noch?«

»Ich weiß es nicht.«

»Er weiß es nicht! Großartig! Er giebt seinen letzten Pfennig und Kreuzer weg. Was aber machen wir nun, und wovon leben wir nun?«

»Wieviel Geld hast du noch?«

»Ich weiß es auch nicht genau.«

»Ist auch nicht nötig. Zum Übernachten in Bleistadt reicht es auf jeden Fall für uns beide aus.«

»Ja, aber dann?«

»Dann gehen wir wieder nach Falkenau.«

»Etwa zum Franzl?«

»Ja.«

»Potztausend! Der wird den Quarkkuchen nicht so schnell vergessen haben! Können wir das nicht vermeiden?«

Da blieb ich stehen, nahm ihn beim Arme und fragte in meinem feierlichsten Tone:

»Carpio, habe ich schon jemals einen Menschen angepumpt?«

»Nein – – nie – – keinen einzigen!«

»So höre, was ich dir sage! Mit unserer Reise ist es aus, denn unser Geld ist alle. Betteln können wir nicht; ich pumpe also den Franzl an; der muß uns soviel geben, wie wir brauchen, um heimzukommen. Bist du einverstanden?«