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Am Jenseits

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»Wer sind die beiden Frauen?« fragte der Blinde.

»Es sind Heidinnen des Herzeleides, des Duldens. Eine Fürstin und eine Arbeiterin, standen sie, die eine auf der höchsten und die andere auf der niedrigsten Stufe des Erdenlebens, einander so fern, daß keine die andere kannte; aber so verschieden die Arten und die Wege des Lebens sind, sie führen alle vor der großen Entscheidung der Todesstunde zusammen. Die Fürstin war ein liebes, heiteres Kind, welches mit frohen Augen in die verheißungsvolle Zukunft blickte; es waren ja alle Vorbedingungen irdischen Glückes vorhanden. Da aber griff die Staatskunst mit eiserner Faust in ihr bisher holdes Geschick. Man entriß sie den liebenden Eltern und Geschwistern und brachte sie, die sich vergeblich Sträubende, in ein fernes Land, zu einem fremden Volke, an die Seite eines Herrschers, dem nie ihr Herz gehören konnte. Ihr goldener Jugendtag war dahin; die Sonne des irdischen Glückes verschwand. Kalte Pflichten begannen, mit furchtbarer Last auf ihr warmes Herz, ihr weiches Gemüt zu drücken; nur schwer fand sie Atem für ihre nach Verständnis und Liebe verlangende Seele. In diesem Gefühl des Erstickens schrie sie zu Gott, und er sandte ihr den Engel des Glaubens als reitenden Boten. Aus den Höhen des Himmels floß ihr die Kraft, den Pflichten der Erde zu leben; darum strebte dieses Leben auch wieder zu ihm empor. Sie legte ihr einstiges Sehnen nach Glück in die Hände der ewigen Liebe und erhielt es als Erhörung für das ihr anvertraute, fremde Volk zurück. Sie teilte, obgleich selbst ungeliebt, diese Liebe aus vom Gletschereise ihrer Höhe herab nach allen Seiten. Für sich auf alles gleißende Erdengut verzichtend, wurd sie in schlichter Anspruchslosigkeit eine Spenderin der Güte, die im Verborgenen wirkt. Als Fürstin angefeindet und in frostige Einsamkeit geschoben, war heimlich sie die Barmherzigkeit und Segen spendende Mutter der Bedürftigen. Ein jeder ohne stille Wohltat vollbrachter Tag erschien ihr als verloren. So gingen ihre Jahre hin, und nun sie von der Erde scheidet, umstrahlt kein fürstlicher Pomp ihr einsames, gemiedenes Sterbelager. Nur eine einzige, treue Dienerin kniet unter herzbrechendem Schluchzen dort und betet, betet laut und erschütternd, obgleich ihr bei jedem Worte die Stimme versagen will. Sie allein hat die sterbende Fürstin verstanden und geliebt; sie war die vertraute Zeugin ihrer Leiden, die verschwiegene Botin ihrer Wohltätigkeit. Nur sie weiß es, was die geliebte Herrin ihrem Volke war, nur sie! Doch nein, nicht nur sie! Es gibt außer ihr noch Einen, der alles sieht und kennt, den allwissenden Erforscher der Herzen und Gedanken. In Seinem Buche stehen all die zahllosen Bitterkeiten, die sie auf dem schweren Pfade der Entsagung hinabzukämpfen hatte, alle Angriffe, die sie in gottergebenem Verzicht auf Gegenwehr erduldete, aber auch die ganze Fülle der Liebe, welche sie über die Armen und Bedrängten ausgegossen hat, für alle Ewigkeit verzeichnet. Jetzt, im Augenblicke des Abschiedes, klingt das Schluchzen der neben ihr Betenden aus immer weiterer Ferne in ihr Ohr, und so verschwindet vor ihr auch die Zeit des Duldens und des unverschuldeten Leidens. Zu ihren Seiten tauchen die schönen, goldenen Jugendtage wieder auf und vor ihr die in himmlischer Liebe lächelnden Engel, welche ihr dort an der Waage der Gerechtigkeit entgegenwinken. Ich sage dir, der irdische Thron war ihr ein Marterstuhl, wie er es so vielen um ihn Beneideten ist, aber was sind alle diese Qualen gegen die Herrlichkeit jenseits des Tores da drüben, wo aus jedem Augenblicke des einstigen Herzeleides und aus einer jeden einzelnen ihrer Liebestaten ihr ein unerschöpflicher Bronn der Seligkeit entgegenfließen wird! Vom allwissenden Vater im Himmel wird keine Sekunde des Leides und keine noch so heimlich geweinte Träne seiner Kinder vergessen!«

Da rief der Münedschi freudig aus:

»Ich sehe, du hast recht! Jetzt sieht sie die Engel winken; sie breitet die Arme nach ihnen aus und beflügelt ihre Schritte. Die andere auch, die mit ihr geht!«

»Diese war eine Tochter der ärmsten Dürftigkeit«, erklärte Ben Nur. »Ihre Kindheit war Hunger, Verachtung und Arbeit. Sie hat nie das Auge einer liebenden Mutter gesehen und vom harten Vater nur die unbarmherzig schlagende Hand gefühlt. Unter fremde Leute geworfen, diente sie treu und ehrlich, doch stets nur bei herzlosen Menschen, und als sie glaubte, ein Herz gefunden zu haben, dem sie sich anvertrauen dürfe, und sich ihm zu eigen gab, da war es ein roher, ein gefühlloser Mann. Er frönte dem Spiel, dem Trunk und andern Lastern; er haßte die Ordnung, die Arbeit und jede ihn bindende Pflicht. Sie mußte schaffen und sorgen für ihn und die zahlreichen Kinder, und tat es still und ergeben, als sei‘s ihr nicht anders beschieden. Doch, was sie mit eigener Entbehrung durch rastlose Arbeit errang, das floß bei ihm durch die Gurgel, fiel im Spiele andern zu. Sie sah keine Frucht ihres Fleißes und hielt doch nicht auf, sich zu mühen, denn sie glaubte, es seien die Kinder ein Segen des Himmels, dem sie durch treue, mütterliche Pflege sich würdig zu erweisen habe. Da starb der Mann. Sie begrub ihn; sie weinte an seinem Grabe; sie trauerte um ihn, ohne ihm einen Vorwurf in die Grube nachzusenden. Dann aber schienen sich ihre Kräfte für die Kinder zu verdoppeln. Sie nährte sie besser als vorher; sie schickte sie in die Schule; sie gab sie in die Lehre; sie sorgte für ihr Fortkommen und hatte kein Wort der Klage über die Nächte, in denen sie bei der stillen Lampe saß, um viel, viel mehr zu tun als ihre Pflicht. Die Söhne nahmen sich Frauen, die Töchter Männer; die Mutter arbeitete weiter. Es stellten sich Enkel ein; da gab es noch viel mehr zu sorgen. Was sie da alles tat, tat sie nicht für sich selbst, doch niemand dankte ihr. Man nahm es nicht nur als selbstverständlich hin, sondern es wurde für noch viel zuwenig gehalten. Kein Kind hatte einen Platz, die Mutter zu sich zu nehmen; ein dürftiger Raum unter dem Dache, ein Tischchen, ein Stuhl und eine ärmliche Lagerstätte, das war das Schaffensfeld unendlicher Muttertreue, die keine Ruhepause kannte und sich selbst vollständig vergaß. Sie wurde auch vergessen in der Stadt. Niemand kam zu ihr, auch nicht ihre Kinder und Enkel; diese verlangten, daß sie komme, und zürnten, anstatt zu danken, wenn die zitternden Hände der Greisin nicht mehr soviel brachten wie früher. Nun liegt sie endlich im Sterben; kein Mensch, kein Kind ist bei ihr, um ihr die guten, stets so wachen Augen zur endlichen Ruhe liebend zuzudrücken! Sie lebte jenes Heldentum des Duldens, dem niemand anmerkt, daß es Dulden ist, und wie sie es lebte, so stirbt sie es jetzt. Das Erdenleben versagte ihr jedes Glück, jede Freude, jeden Sonnenstrahl. Erst jetzt, in ihrer Todesstunde, lernt sie den Glanz des Lichtes kennen. Zwar kommt er spät, nun da ihr Auge bricht, aber er ist kein irdischer und wird darum nie wieder von ihr scheiden. Das Diesseits hat sie um den Lohn ihrer Arbeit betrogen; das Jenseits wird ihr diesen Verlust tausendfach ersetzen!«

»Und ihr Mann? Wird sie den dort sehen?« fragte der Blinde.

»Frag nicht nach ihm! Er gehörte zu den Hetzern, zu den Schreiern, weiche in Versammlungen mit glühender Begeisterung für ihre Menschenrechte Streiter sammeln, daheim aber ihre Gatten, ihre Vaterpflichten verleugnen. Er ist nicht über Es Ssiret, die Brücke des Todes, hinübergekommen! Schau lieber auf die dichten Scharen, welche jetzt vorüberwallen!«

»Ja das sind liebe, stille, gottergebene Menschen, denen anzusehen ist, daß sie keine irdischen Ansprüche bei sich tragen, obwohl ich sehr vornehme Personen unter ihnen bemerke. Und der Glanz aus dem Jenseits herüber wird immer heller! Ist er es, den ich wie Glorienschein um ihre Häupter liegen und aufwärts und hinüberstreben sehe?«

»Nein. Was du im Jenseits leuchten siehst, das ist die ewige Liebe, von weicher jedem Menschen ein Strahl mit auf die Erde gegeben wird. Pflegt er dieses himmlische Feuer, so bleibt es bei ihm, leuchtet ihm durch das Leben und strebt mit ihm in der Todesstunde nach dem Jenseits hinüber, nach seinem Urquell hin. Während der Erdentage brannte es auf den Altären der Herzen als das unverlöschliche heilige Licht des Glaubens; jetzt, wo der Glaube in das Schauen überfließt, fließt auch dieser Strahl dahin zurück, woher er kam, und legt sich als Erkennungszeichen um die Stirnen derer, denen er die Überwindung der Brücke und des Abgrundes verbürgt. Wie gerne würde ich dir hier von jedem Einzelnen sagen, warum gerade er diese Aureole trägt! Aber es sind ihrer zu viele, und es ist dir hier an diesem Orte nur eine ganz bestimmte kurze Zeit gegeben, welche fast vorüber ist. Du gehörst ja noch dem Diesseits an; hier aber geht dieses in das Jenseits über; bleibst du zu lange hier, so würde die Auflösung auch dich ergreifen, und das muß ich verhindern. Ich als dein Schutzengel bin verpflichtet, dafür zu sorgen, daß dein Erdenlauf nicht um einen Augenblick gekürzt werde, denn er ist die Vorbereitung für El Mizan, die Waage der Gerechtigkeit, welche auch du zu überschreiten hast, und jede Sekunde des Diesseits ist von unersetzbarer Kostbarkeit, weil eine einzige genügen kann, eine verlorene Seele dem Himmel zurückzugewinnen! Doch einige darf ich dir noch kurz zeigen. – Ich sehe unter ihnen viele, die gegen die staatlichen Gesetze gesündigt haben und dafür bestraft worden sind. Es ist im Himmel ja mehr Freude über einen Sünder, der Buße tut, als über Neunundneunzig, welche glauben, der Buße nicht zu bedürfen, weil sie sich für gerecht halten! Es sind unter ihnen Gefallene aller Art, denen die erbarmende Liebe Kraft verlieh, wieder aufzustehen. Es sind Regenten und Feldherren dabei, die man des Massenmordes der Schlachten anklagte, an dem sie aber unschuldig waren, weil er ihnen aufgezwungen wurde. Ich sehe da berühmte Träger der Wissenschaft, die aber über ihrer Gelehrsamkeit nicht den Glauben und die Liebe vergaßen. Ihr Ruhm wird im Himmel doppelt leuchten! Ich sehe Reiche, welche die Hungrigen speisten, die Durstigen tränkten und die Nackenden kleideten. Sie haben ihren Reichtum auf Erden lassen müssen, sich aber himmlische Schätze gesammelt, welche dort an der Waage bis auf das Gewicht einer Tauperie für sie eingetragen werden! Ich sehe Priester, welche nicht bloß Lehrer des Wortes, sondern Verkündiger und Täter des Geistes im Worte, wirkliche Prediger der Liebe waren. Ihnen ist es gegeben, das Lob des Herrn erklingen zu lassen in alle Ewigkeit! Ich sehe Gewaltige der Erde, weiche gütige Väter, weise Erzieher und freundliche Beglücker ihrer Völker waren. Wahrlich, ich sage dir, im Jenseits werden sie über mehr gesetzt werden, als sie diesseits beherrschten! Ich sehe den Millionär, weicher der Barmherzigkeit sein Vermögen widmete, und den Bettler, der mit dem Straßenhunde sein letztes Stück Brot teilte. Ich sehe die Gründer großer Armen und Waisenhäuser und den kleinen Knaben, welcher dem dürstenden Vöglein Wasser gab. Ich sehe Fürstinnen und Prinzessinnen, weiche, von der Glorie irdischer Erhabenheit umgeben, aus ihrem hohen Kreise heraustraten, um herniederzusteigen und als Huldspenderinnen der Liebe zu walten. Glaube nur, der Herr aller Himmel wird ebenso herabsteigen wie sie und ihnen diese Güte tausendfältig lohnen! Ich sehe edle Frauen, welche sich nicht schämten, die Hütten der Armen, der Kranken, der Witwen und Waisen zu besuchen und den Verachteten zu zeigen, daß auch sie Brüder und Schwestern in der großen, die ganze Menschheit umfassenden Familie des Allvaters seien. Du darfst überzeugt sein, daß sie nun dort an der Waage für würdig befunden werden, zur Familie der Seligen zu gehören! Ich sehe Seelen, deren bloße Anwesenheit die Wirkung hatte, als ob ein warmer, tröstender und beruhigender Sonnenstrahl mit ihnen hereingekommen sei. Es ist ein Himmelsglück, daß es solche Menschen gibt; sie werden im Jenseits noch viel heller strahlen als während ihrer diesseitigen Pilgerzeit! Ich sehe Richter, weiche selbst in dem ärgsten Verbrecher noch den Menschen suchten, um so mild wie möglich sein zu dürfen, Betrogene, Bestohlene, Beleidigte, weiche nicht nur vergeben, sondern sogar vergessen konnten. Gott wird auch ihnen ein milder Richter sein und ganz so vergeben und vergessen, wie sie es taten! Ich sehe unter dieser Schar auch Künstler, deren Streben es war, in ihren Werken die wahre Natur, die Übermacht des Guten und Schönen über das Böse und Häßliche, also die Offenbarung Gottes im Menschen, des Himmlischen im Irdischen nachzuweisen. Sie wühlten nicht wie andere mit Wollust im Schmutze; sie machten nicht unter dem irrigen Vorgeben, wahr sein zu müssen, die Roheit und das Laster zur Staffel ihres Ruhmes, denn sie wußten, daß die Sünde nicht die Wahrheit, sondern ihre abstoßende Verneinung ist. Die Kunst ist nur dann wirklich Kunst, wenn sie nach dem Edlen auch auf edlem Wege strebt. Wer da glaubt, er könne dem Hohen durch die Darstellung des Niedrigen dienen, der versteht die Aufgabe nicht, die ihm von Gott, dem Urquell des höchsten Könnens und also auch aller Kunst, geworden ist! Ich sehe ferner Freunde, weiche wahre, ehrliche Freunde waren. Sie hielten, wenn es nötig war, nicht mit der bitteren, heilsamen Wahrheit zurück, standen aber auch mit ihrem ganzen Haben und Können für die Freundschaft ein! Ich sehe Väter, welche die Schwäche nicht mit der Liebe verwechselten, sondern ihrer Pflicht mit wohlabgewogener Gerechtigkeit walteten, obwohl dies ihrem Herzen oft nicht leicht geworden ist. So ein Vater hat seinen Sohn nicht moralisch totgelobt oder durch nachsichtige Schwachheit selbst zum Schwächling gemacht und seine Tochter nicht zu einem Weibe erzogen, weiches für seinen Beruf verloren ist! Und ich sehe Mütter, denen die Kinder nicht als herausgeputzte Gegenstände eitlen Stolzes und überhebender Prahlsucht dienten, sondern denen sie das waren, was sie jeder Mutter sein sollen: Seelenblumen, von Gott dem Elternhause anvertraut um, von des Vaters Hand begossen und von dem Mutterauge bestrahlt, zum Himmel emporzuwachsen. Sei versichert, daß solche Eltern an solchen Kindern nicht nur im Diesseits Freude erleben, denn bei solcher aufwärts strebender Pflege steigen Vater und Mutter selbst mit himmelan!«

 

Nach diesen Worten trat wieder, wie schon einmal, eine Pause ein, während weicher der Münedschi leise, für uns unverständliche Worte vor sich hin murmelte. Dann hörten wir die Stimme Ben Nurs wieder laut sagen:

»Nein, du darfst nicht länger hier verweilen; die Zeit ist abgelaufen. Komm!«

Ich behielt den Blinden aufmerksam im Auge. Er griff mit der Rechten zu, als ob er eine Hand erfasse, und ahmte mit der Linken leise die Bewegung des Schwebens nach. Dann hob er erst den einen und hierauf den andern Fuß, trat fest auf und sprach:

»Das ist die Erde wieder; ich fühle es. Nun führe mich zu dem Orte zurück, von weichem du mich holtest!«

Er begann jetzt, ohne sich um uns zu bekümmern, den Felsen wieder hinabzusteigen. Dies geschah ganz in der für uns so unerklärlichen Weise, wie er heraufgeführt worden war. Er hielt sich nicht an und kam doch, ohne zu straucheln, hinunter, während wir uns Mühe geben mußten, nicht auszugleiten und zu fallen. Es war wirklich wunderbar! Es drängte sich mir wieder der Gedanke auf, daß er trotz allem doch wohl sehend sei; aber ich mußte ihn von mir abweisen, weil ein solcher Betrug einfach unmöglich war.

Unten angekommen, gingen wir wieder still hinter ihm her. Er schritt ganz genau auf dem Wege zurück, den wir gekommen waren, ohne nur ein einziges Mal zu zögern. Auch setzte er sich, als wir unsern Platz erreicht hatten, ebenso genau auf derselben Stelle nieder, auf weicher er vorher gesessen hatte.

»Ich danke dir, Ben Nur, du treuer, lichter Begleiter meiner Seele!« sagte er mit halblauter Stimme; dann lehnte er den Oberkörper an den Felsen zurück, und nach kurzer Zeit hörten wir an seinen leisen, regelmäßigen Atemzügen, daß er schlief.

Kara Ben Halef war munter; er wagte aber nicht, zu fragen, wo wir gewesen seien. Wir verhielten uns zunächst ebenso still wie er, weil das, was wir gesehen und gehört hatten, das Denken und Fühlen jedes von uns für sich selbst in Anspruch nahm. Ich ging mein ganzes bisheriges Leben durch, um in demselben vielleicht einen Wink für die Erklärung dieser eigentümlichen nächtlichen Szene zu finden; doch vergebens!

Ich weiß ja wohl ebensogut wie mancher andere, daß den sogenannten Naturvölkern eine – ich will sagen, Hinneigung zum geheimnisvollen innewohnt, für weiche das Wort Aberglaube doch nicht ganz treffend ist. Die reizlose, oft ärmliche Kost, die der gestaltenden Phantasie so günstige Wüste oder Savanne, das magische Halblicht des lautlosen, unergründlichen Urwaldes jenseits des Mississippi, das sind Faktoren, welche in Verbindung mit ererbter psychischer Disposition gewiß imstande sind, den Menschen für das empfänglich zu machen, was der bekannte Ausspruch als »zwischen Himmel und Erde« liegend bezeichnet. Daher der reiche Märchenschatz des Orients und die Stimmung der Steppen und Wüstenvölker für das Übersinnliche. Man glaubt gar nicht, was für eine ausgiebige Gestaltungskraft dem Beduinen in diesem Sinne innewohnt! Je weniger Lebewesen die ungeheuren Strecken seiner Heimat bevölkern, desto schöpferischer wird seine Einbildungskraft. Er ersetzt ihnen überreich an imaginären Bewohnern, was ihnen an wirklichen fehlt, und weiß zuletzt selbst nicht mehr, wo die Tatsache aufhört und die Erfindung beginnt. Ebenso und doch auch wieder anders ist es bei den Indianern. Auch sie sind phantastisch tätig, doch fehlt ihnen die Sonne des Südens und die Unerbitttlichkeit ihres traurigen Geschickes vertieft die Schatten, in denen ihre Bilder sich bewegen. Es ist ein ernstes, sehr ernstes Reich, welches man betritt, wenn am verglimmenden Lagerfeuer ein alter, auch am Verlöschen des Lebens stehender Indsman beginnt, zu erzählen, was längst verstorbene, berühmte Krieger auf der schlafenden Prärie, in den Schluchten des Gebirges, in den Tiefen der Cañons und zwischen den Riesenstämmen des Urwaldes gesehen haben. Das sind keine Märchen wie jene des Orients, sondern Berichte über nächtlich auferstandene Tote, weiche an dem blutigen Geschicke ihrer Rasse sterben mußten und doch ‚ nicht ruhen konnten, weil der Mord noch ferner rücksichtslos auf ihren Gräbern tanzt. Das sind Menschen, die wirklich gelebt haben, die man einst kannte und einst sah. Und wenn es nicht wahr ist, was man von ihnen erzählt, daß man sie nach ihrem Tode noch oft gesehen habe, so sind sie dennoch wieder lebend geworden, aus der Erde gekratzt von den Klagegeistern einer dem Untergange, dem gewaltsamen Untergange geweihten Nation. Winnetou, der nüchternste, der hell und scharfdenkendste aller roten Männer, war gewiß kein Phantast, aber zuweilen, wenn wir miteinander im nächtlichen Dunkel lagen, rings von Gefahr umgeben, da geschah es, daß er die Hand hob, um grüßend rundum zu winken, und als ich ihn einst fragte, warum er das tue, antwortete er:

»Mein weißer Bruder frage nicht. Wir sind beschützt, das mag dir genügen!«

Und ehe ihn die tödliche Kugel traf, war er von einer ganz bestimmten Todesahnung ergriffen, die leider auch in Erfüllung ging. Ahnung sage ich, denn er sprach sich nicht deutlich aus; aber später fiel mir ein Abend ein, an weichem wir ganz allein hoch oben in der Einsamkeit des Flintpasses saßen, ernste Gedanken austauschend, und dabei auch das Übersinnliche berührend. Ich hatte das Gebet erwähnt; da sagte er:

ja, der große, gute Manitou verlangt, daß man mit ihm rede, denn jedes Kind soll doch mit seinem Vater sprechen. Wenn man in Gefahr ist und ihn um Hilfe bittet, so sendet er seine Krieger herab, die für uns kämpfen. Mein weißer Bruder nennt diese Freunde Engel; ich sage Krieger, denn das Leben ist ja stets nur Kampf. Du hast auch zuweilen nicht Engel, sondern Schutzengel gesagt und nur von einem gesprochen; ich aber weiß, daß mehrere bei mir sind, sooft ihr Beistand nötig ist.«

»Woher weißt du das?« fragte ich.

»Wenn ich sie sehe, grüße ich sie; also weiß ich es, denn was man sieht, das ist gewiß! Ich werde auch wissen, wenn ich sterbe; sie sagen es mir.«

»Winnetou!« fuhr ich betroffen auf, denn ich wußte, daß er im Ernste sprach. Er scherzte nur seiten und in solchen Sachen nie.

»Ja, sie werden es mir sagen!« behauptete er. »Du wirst dich wohl schon oft gewundert haben, daß ich in Gefahren etwas ganz Unerwartetes tat, was keinen Grund zu haben schien und uns doch errettete. Du schriebst es meiner Klugheit zu, aber ich handelte nur nach dem Willen derer, die du Schutzengel nennst. Vielleicht kommt die Zeit, daß ich dir mehr über sie sage. Jetzt muß ich selbst noch lernen und erfahren, denn es ist nicht leicht, sie zu verstehen, und sehr oft irre ich mich noch. Es könnte jeder Mensch empfinden, was der große Manitou ihm durch die Engel sagt, wenn er mehr auf sich und ihre Stimme achtete und sich befleißigte, sie nicht dadurch zu betrüben und von sich fortzustoßen, daß er Böses tut.«

An dieses Gespräch mußte ich jetzt hier am Bir Hilu denken. Hatte Winnetou sich getäuscht? Waren diese »Krieger des großen, guten Manitou« Phantasiegestalten, Gebilde seiner eigenen Anima? Das konnte ich bei seiner beispiellos scharfen Beobachtungsgabe doch wohl kaum annehmen! Und selbst wenn ich seinen Worten vollen Glauben schenkte, so war damit noch nichts für die Erklärung des heutigen Vorganges, des Schlafsprechens und gar der Wesenszweiheit des Münedschi getan.

Auch während der tiefsinnigen Reden meiner alten, hochehrwürdigen Marah Durimeh war manches Wort gefallen, welches über das Diesseits hinüberzeigte, doch aber keines, an welches ich mich jetzt hätte halten können. Ganz selbstverständlich lag mir vor allen Dingen die Frage nahe, welche Stellung ich als gläubiger Christ zu dem, was ich gesehen und gehört hatte, einnehmen sollte. Da konnte ich denn in allem, was der angebliche Ben Nur gesagt hatte oder, anders ausgedrückt, in allen Reden, welche ihm zugeschrieben werden sollten, nichts entdecken, was ich als glaubensfeindlich zu bezeichnen hätte. Es bezog sich alles nur auf die Sterbestunde, nicht auf den Himmel selbst, denn wir hatten uns ja vorzustellen gehabt, daß der Blinde nicht im, sondern am Jenseits stehe. Bedenklich waren mir nicht seine Worte, sondern war mir nur er selbst, und wenn wir es da mit einem Nervenkranken, einem Somnambulen oder Noctambulus zu tun hatten, so war das eine rein ärztliche, aber keine theologische Angelegenheit. Übrigens hatte er so manche, wenn auch nicht landläufige Idee ausgesprochen, die schon längst die meinige auch war.

Freilich war der Eindruck, den die Stunde dort auf dem Felsen auf mich gemacht hatte, kein gewöhnlicher. Das Vorhergeschehene, die Örtlichkeit, die Person des Blinden, seine tief ergreifende Ausdrucksweise, das hatte sich zur Hervorbringung einer Wirkung vereinigt, weiche ebenso tief wie nachhaltig war. Was hätte ich nicht für die Berechtigung gegeben, annehmen zu dürfen, daß dieser Ben Nur, dieser »Sohn des Lichtes« kein Phantom sei!

 

Ich war so in Sinnen und Grübeln versunken, daß ich, um darauf eingehen zu können, mich zusammennehmen mußte, als Halef nach längerer Zeit endlich fragte:

»Sihdi, geht es dir auch so wie mir? Ich will einschlafen und kann doch nicht. Was ich gehört habe, wird zur Tat; die Worte verwandeln sich in Gestatten. Ich stehe an der Pforte des Jenseits, inmitten der Todesstunde, und sehe die Scharen der Unseligen und Seligen nach El Mizan, der Waage der Gerechtigkeit, an mir vorüberziehen. Wie werde ich von jetzt an flehend beten, dereinst nicht zu denen zu gehören, weiche in den Abgrund des Verderbens stürzen! Und weiche Mühe werde ich mir geben, so zu leben, daß einer der Engel, welche an der Waage stehen, meine Hand fasse und mich glücklich über Es Ssiret, die Brücke des Todes, nach dem Tore der Seligkeit bringe! Wahrlich, ich sage dir, dieser Ben Nur, von dessen Dasein ich bis heut gar nichts wußte, hat einen ganz, ganz andern Menschen aus mir gemacht! Ich sage nichts, und ich verspreche nichts, aber du wirst es sehen und beobachten!«

Es war eine heilige Begeisterung, welche aus ihm sprach, und mit ganz demselben Enthusiasmus ließ auch der Basch Nazyr seine Worte folgen:

»Ja, Effendi, ich stimme Hadschi Halef vollständig bei. Was bin ich doch bisher für ein armer, sündhafter, unnützer Mensch gewesen! Wie viele, viele Worte Ben Nurs klangen so, als ob sie nur für mich gesprochen worden seien! Höre, was ich dir sagen werde! Oder errätst du es vielleicht schon?«

»Nein«, antwortete ich.

»Die Liebe, die Liebe, die hat es mir angetan, die hat mich so tief ergriffen. Die Milde, die Barmherzigkeit, die Versöhnlichkeit und das Vergeben! Wer hier nicht vergibt, dem wird dort auch nicht vergeben werden! Mir ist himmelangst geworden. Es bangt mir vor EI Mizan, der fürchterlichen Waage der Gerechtigkeit! Wir haben die Mekkaner zur Bastonade verurteilt; aber wenn es auf mich ankommt, so werden sie keinen Schlag erhalten, keinen einzigen Schlag. Allah behüte! Mir soll diese Bastonade nicht im Jenseits angerechnet werden! Du wirst einverstanden sein; aber was sagt Hadschi Halef Omar dazu?«

Jetzt war ich gespannt auf die Antwort meines kleinen Halef. Er, der an seiner Kurbadsch mit so großer Liebe hing und nicht gern eine Gelegenheit, sie in Bewegung zu setzen, vorübergehen ließ, sagte:

»Ich stimme bei. Ich haue sie nicht und lasse sie auch nicht hauen. Sie mögen unbestraft weiterziehen, bis nach Mekka und dann hinauf zur Brücke der Gerechtigkeit. Dort oben wird ihnen dann gewißlich werden, was sie verdienen; ich rühre keine Hand. Ihr habt gehört, was Ben Nur von den Richtern sagte: Sie werden im Jenseits so gerichtet, wie sie hier im Diesseits gerichtet haben. Ich richte nicht! Habe ich recht, Sihdi?«

ja und auch nein. Der Unberufene soll nicht richten. Der Richter aber hat das Gesetz zu vertreten und muß nach den Vorschriften desselben sein Urteil fällen. Jene strenge Waage der Gerechtigkeit verlangt nicht, daß der Missetäter unbestraft bleibe; aber da wir das Gestohlene wiedererlangt haben und Khutub Agha sowohl Richter als auch Vertreter des Kanz el A‘da ist, so bin auch ich der Meinung, daß wir den Dieben die allerdings verdiente Strafe erlassen, die sie wohl auch ohne dem nicht erhalten hätten, wenigstens nicht in der Weise oder in dem Maße, wie ihr es euch vorgenommen hattet.«

»Was ich da höre! Du hattest also schon wieder deine Humanität im Nacken?«

»Dieses Mal war es weniger sie, als vielmehr die Klugheit. Wir werden sie höchst wahrscheinlich in Mekka wieder treffen, und so meinte ich, daß wir ihre Rache nicht bis auf den höchsten Grad steigern dürften. Darum freut es mich, daß ihr beide auf ihre Bestrafung ganz verzichtet habt. Wenn noch eine gute Ader in ihnen ist, wird diese Güte auf ihre Besserung wirken; wenn aber nicht, so habt ihr nach dem Willen der ewigen Liebe gehandelt, von welcher Ben Nur gesprochen hat, und die Genugtuung darüber wird euch willig machen, ihr auch fernerhin gehorsam zu sein.«

»Das ist wahr! Ich fühle es, daß diese Kraft schon in mir rege wird. Darum habe ich eine Bitte, von welcher ich hoffe, daß du sie mir erfüllen wirst, Sihdi:«

»Welche?«

»Du weißt doch, daß das Wort Kutub zwischen dir und mir verabredet worden ist?«

»Natürlich weiß ich das.«

»Ich wünsche, daß noch ein Wort hinzukomme.«

»Welches?«

»El Mizan, die Waage.«

»Warum?«

»Kutub bezieht sich nur auf das Sprechen; ich will aber auch in Hinsicht auf das, was ich tue, gewarnt sein. Ich meine, die Tat wiegt schwerer als das Wort, und da ist die zweite Warnung nötiger als die erste. Du weißt, daß ich die Angst nicht kenne; ich gehe jedem Feinde, selbst dem Löwen, ja sogar dem schwarzen Panther, ohne Furcht entgegen; heut aber habe ich noch viel mehr als die Furcht, nämlich das Entsetzen, kennen gelernt. Als eine Schar der Sterbenden nach der anderen kam, wohlgemut und mit vorangetragenem Panier, und Ben Nur immer und immer wieder sagte, daß ihnen allen der Abgrund beschieden sei, da packte mich ein Grauen, für welches es keine Worte gibt. Sihdi, mir soll dereinst keine stolze Standarte vorangetragen werden, sondern ich will in Demut nach der Waage wandern; denn ich habe mir das Wort gemerkt, daß Allah den Demütigen Gnade gibt. Darum bitte ich dich: Wenn mich der Hochmut und der Stolz wieder einmal, was sie doch so oft tun, bei meinem Zorne packen, und wenn ich überhaupt im Begriffe stehe, etwas zu tun, was gegen die uns heute verkündigte Liebe ist, so rufe mir ja schnell, El Mizan, die Waage!‘ zu; dann wirst du sehen, daß ich sofort in mich gehe, um meinem Zorne die Bastonade zu geben, welche die Mekkaner nun nicht bekommen werden! Willst du das tun?«

»Sehr gern!«

»Ich wollte, ich könnte so einen Warner auch stets bei mir haben!« sagte der Perser. »Ich habe bisher nur mich geliebt, keinen andern Menschen; von heute an aber soll es anders werden! Sag‘, Effendi, spricht euer Christentum auch von der Liebe?«

»Nur von ihr!« antwortete ich.

»Nur? Wirklich? Ich habe aber bei den Christen, welche ich bisher traf, keine gefunden!«

»So will ich dir jetzt eine Sure unseres heiligen Buches sagen. Höre!«

Ich zitierte das dreizehnte Kapitel des ersten Briefes Pauli an die Korinther. Er hörte andächtig zu und rief, als ich zu Ende war, aus:

»Das ist ja ganz so, als ob Ben Nur diese Sure auch so auswendig könnte wie du! Welch ein Wunder! Er hat immer ganz nach diesen herrlichen Worten gesprochen, und doch hat unser Kuran eine solche Sure nicht! Darum also, darum dieser Haß, dieser Kampf und Streit bei uns! Darum der gegenseitige Abscheu zwischen den Schiiten und Sunniten, und bei diesen wieder die ununterbrochene Feindschaft zwischen den Schafe‘iten, den Hanefiten, den Hanbaliten und den Malekiten! Es fehlt die Liebe, nur allein die Liebe; Allah bessere es! Wie herrlich wäre es auf Erden, wem die Liebe wirklich und allein die Regierung hätte! »Aber, Effendi – – —«

Er stockte, überlegend, ob er weitersprechen solle; dann fuhr er fort:

»Habt ihr eine große einige, eine ganze Christenheit?«

»Leider nicht!«

»Ja, ich weiß es; ich wollte nur hören, ob du es aufrichtig eingestehen werdest. Es gibt bei euch Katulikijihn, Rum, rum Katulikijihn, Ingilijihn, Mawarne, Protestanijihn (Katholiken, griechisch Orthodoxe, griechische Schismatiker, Evangelische, Maroniten, Protestanten) und noch viele andere Spaltungen, deren Namen ich nicht kenne. Ich will dich nicht betrüben; aber beim Islam ist die Zwietracht kein Wunder, weil der Kuran keine solche Sure der Liebe kennt; ihr jedoch habt sie in eurem heiligen Buche stehen und kämpft trotzdem in noch mehr Heerlagern gegeneinander als wir! Ist da diese Sure in eure Herzen oder nur in euer Buch geschrieben? Seid ihr da nicht noch schärfer anzuklagen und nicht noch viel mehr zu bedauern als wir?«