Die zwölf Sinne des Menschen

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Die Mitwelt-bezogenen Sinne

Als ebenso interessant wie denkanstoßend erweist sich der Umstand, dass Rudolf Steiner den Hörsinn ausdrücklich nicht als umweltbezogenen Sinn auffasst, sondern einer Gruppe von Sinnen zuordnet, die er als die «oberen» «höheren» bzw. «geistigen» Sinne bezeichnet. Gemeinsam ist ihnen, dass sie zwar die Kriterien erfüllen, Sinne zu sein, eine spezifische Wahrnehmungsqualität vermitteln, die gerade nicht das Ergebnis einer gedanklichen Schlussfolgerung, also eines Urteils ist – uns aber ein Erfassen der seelisch-geistigen Wirklichkeit des anderen ermöglicht. Im Hinblick auf die Frage, wie sehr wir mittels der (umweltbezogenen) Sinne ins Innere der Dinge vorzudringen vermögen, charakterisiert Steiner den Hörsinn wie folgt: «Kann der Mensch vermittels seiner Sinne noch tiefer in die Untergründe der Dinge gelangen? Kann er das intime Innere der Dinge noch genauer kennenlernen als durch den Wärmesinn? Ja, das kann er, indem die Dinge ihm zeigen, wie sie in ihrer Innerlichkeit sind, wenn sie zu tönen anfangen. Die Wärme ist in den Dingen ganz gleichmäßig verteilt. Was Ton in den Dingen ist, ist nicht gleichmäßig verteilt. Der Ton bringt die Innerlichkeit der Dinge zum Erzittern. Dadurch zeigt sich eine gewisse innere Beschaffenheit. Wie das Ding im Innern beweglich ist, nehmen Sie wahr durch den intimen Gehörsinn. Er liefert uns eine intimere Kenntnis der Außenwelt als der Wärmesinn. Das ist der achte Sinn, der Gehörsinn. Im Ton offenbart uns ein Ding, wie es innerlich ist, wenn wir dieses Ding anschlagen. Wir unterscheiden die Dinge nach ihrer inneren Natur, nach der Art, wie sie innerlich erzittern und erbeben können, wenn wir sie zum Tönen bringen. Die Seele der Dinge spricht in gewisser Weise da zu uns.»

An den Hörsinn anschließend weist Steiner im gleichen Vortrag noch zwei weitere Sinne auf: «Gibt es nun noch höhere Sinne als den Gehörsinn? Hier müssen wir noch viel behutsamer zu Werke gehen, um die höheren Sinne zu erforschen; denn wir dürfen die Sinne nicht mit etwas anderem verwechseln. Im gewöhnlichen Leben, da wo man unten stehen bleibt, wo man alles durcheinanderwirft, spricht man noch von anderen Sinnen, zum Beispiel vom Nachahmungssinn, vom Verheimlichungssinn und so weiter. Da ist das Wort Sinn aber falsch angewendet. Sinn ist das, wodurch wir uns eine Erkenntnis verschaffen ohne Mitwirken des Verstandes. Wo wir uns durch das Urteil eine Erkenntnis verschaffen, da sprechen wir nicht von Sinn, sondern nur da, wo unsere Urteilsfähigkeit noch nicht in Kraft getreten ist. Nehmen Sie eine Farbe wahr, so gebrauchen Sie einen Sinn. Wollen Sie urteilen zwischen zwei Farben, so gebrauchen Sie keinen Sinn.

Gibt es in diesem Sinn […] noch andere Sinne? Ja, es gibt noch einen neunten Sinn. Wir finden ihn, wenn wir uns überlegen, dass es allerdings im Menschen noch eine gewisse Wahrnehmungsfähigkeit gibt. Das ist ganz besonders wichtig für die Fundamentierung der Anthroposophie. Es gibt eine Wahrnehmungsfähigkeit, die nicht auf dem Urteil beruht, aber doch in ihm vorhanden ist. Es ist dasjenige, was wir wahrnehmen, wenn wir durch die Sprache uns mit unseren Mitmenschen verständigen. In dem Wahrnehmen dessen, was uns durch die Sprache gegeben ist, liegt nicht nur ein Ausdruck des Urteilens, sondern es liegt ein wirklicher Sprachsinn da zugrunde. Dieser Sprachsinn ist der neunte Sinn. Von ihm muss man sprechen, wie man von einem Gesichts- oder Geruchssinn spricht. Das Kind lernt sprechen, bevor es urteilen lernt. Das ganze Volk hat eine Sprache; das Urteilen obliegt dem einzelnen Menschen. Was zum Sinne spricht, unterliegt nicht der Seelentätigkeit des einzelnen Menschen. Das Hören kündet einem das innere Erzittern an. Die Wahrnehmung, dass ein Laut dieses oder jenes bedeutet, ist nicht bloßes Hören. Der Sinn, der sich darin als Sinn der Sprache ausdrückt, gibt sich eben einem anderen Sinne kund, dem Sprachsinn. Daher kann das Kind lange, bevor es urteilen lernt, sprechen oder Gesprochenes verstehen. Erst an der Sprache lernt es urteilen. Welcher Erzieher ist der Sprachsinn, geradeso wie der Gesichtssinn und der Gehörsinn solche Erzieher sind, während der ersten Lebensjahre!»

Dass es sich bei dem von Steiner erstmals beschriebenen Sprach-oder Lautsinn um ein Modalbezirk handelt, der alle Kriterien erfüllt, also als ein Sinn aufgefasst und akzeptiert zu werden hat, ist im Rahmen einer an der Universität Witten/Herdecke durchgeführten medizinischen Inauguraldissertation aufgezeigt worden.21

Als einen noch subtileren Sinn hat Steiner einen Begriffssinn herausgearbeitet und charakterisiert. «Dann kommen wir zum zehnten der Sinne. Das ist derjenige, der für das gewöhnliche Menschenleben der höchste ist. Durch ihn wird der Mensch fähig, den Begriff, der sich in Sprachlaute kleidet, zu verstehen. Das ist geradeso ein Sinn wie jeder andere. Damit wir urteilen können, müssen wir Begriffe haben. Soll die Seele sich regen, so muss sie Begriffe wahrnehmen können. Dies vermag sie durch den Begriffssinn. So haben wir in ihm einen zehnten Sinn aufgezählt.» (Steiner 1909, Vortrag vom 23.10.1909)

Im Rahmen der in der Vortragsreihe 1909 dargestellten Konzeption zu einer geisteswissenschaftlich erweiterten Sinneslehre hat Rudolf Steiner den Tastsinn und den Ichsinn bewusst nicht als Sinn behandelt. Beide Sinne erfahren bei Rudolf Steiner erst ab 1916 eine Würdigung. In dem Vortrag «Die zwölf Sinnesbezirke und die sieben Lebensprozesse» (im Vortrag vom 12.08.1916) und in allen späteren Darstellungen werden nun zwölf Sinne beschrieben. Als erster wird hier der Tastsinn genannt und folgendermaßen charakterisiert. «Tastsinn ist gewissermaßen derjenige Sinn, durch den der Mensch in ein Verhältnis zur materiellsten Art der Außenwelt tritt. Durch den Tastsinn stößt gewissermaßen der Mensch an die Außenwelt, fortwährend verkehrt der Mensch durch den Tastsinn in der gröbsten Weise mit der Außenwelt. Aber trotzdem spielt sich der Vorgang, der beim Tasten stattfindet, innerhalb der Haut des Menschen ab. Der Mensch stößt mit seiner Haut an den Gegenstand. Das, was sich abspielt, dass er eine Wahrnehmung hat von dem Gegenstand, an den er stößt, das geschieht selbstverständlich innerhalb der Haut, innerhalb des Leibes. Also der Prozess, der Vorgang des Tastens geschieht innerhalb des Menschen.»

Die mitweltbezogenen Sinne, d. h. Gehörsinn, Wortsinn bzw. Sprachsinn oder Lautsinn und Denksinn werden jetzt durch einen Ichsinn ergänzt. Diese Gruppe der «oberen» Sinne werden von Rudolf Steiner im vorgenannten Vortrag wie folgt ergänzt: «Noch intimer setzen Sie sich mit dem Inneren der Außenwelt durch den Gehörsinn in Beziehung. Der Ton verrät uns schon sehr viel von dem inneren Gefüge des Äußeren, viel mehr noch als die Wärme, und sehr viel mehr als der Gesichtssinn. Der Gesichtssinn gibt uns sozusagen nur Bilder von der Oberfläche. Der Hörsinn verrät uns, indem das Metall anfängt zu tönen, wie es in seinem eigenen Innern ist. Der Wärmesinn geht schon auch in das Innere hinein. Wenn ich irgendetwas, zum Beispiel ein Stück Eis anfasse, so bin ich überzeugt: Nicht bloß die Oberfläche ist kalt, sondern es ist durch und durch kalt. Wenn ich etwas anschaue, sehe ich nur die Farbe der Grenze, der Oberfläche; aber wenn ich etwas zum Tönen bringe, dann nehme ich gewissermaßen von dem Tönenden das Innere intim wahr.

Und noch intimer nimmt man wahr, wenn das Tönende Sinn enthält. Also Tonsinn: Sprachsinn, Wortsinn könnten wir vielleicht besser sagen. Es ist einfach unsinnig, wenn man glaubt, dass die Wahrnehmung des Wortes dasselbe ist wie die Wahrnehmung des Tones. Sie sind ebenso voneinander verschieden wie Geschmack und Gesicht. Im Ton nehmen wir zwar sehr das Innere der Außenwelt wahr, aber dieses Innere der Außenwelt muss sich noch mehr verinnerlichen, wenn der Ton sinnvoll zum Worte werden soll. Also noch intimer in die Außenwelt leben wir uns ein, wenn wir nicht bloß Tönendes durch den Hörsinn wahrnehmen, sondern wenn wir Sinnvolles durch den Wortsinn wahrnehmen. Aber wiederum, wenn ich das Wort wahrnehme, so lebe ich mich nicht so intim in das Objekt, in das äußere Wesen hinein, als wenn ich durch das Wort den Gedanken wahrnehme. Da unterscheiden die meisten Menschen schon nicht mehr. Aber es ist ein Unterschied zwischen dem Wahrnehmen des bloßen Wortes, des sinnvoll Tönenden, und dem realen Wahrnehmen des Gedankens hinter dem Worte. Das Wort nehmen Sie schließlich auch wahr, wenn es gelöst wird von dem Denker durch den Phonographen, oder selbst durch das Geschriebene. Aber im lebendigen Zusammenhange mit dem Wesen, das das Wort bildet, unmittelbar durch das Wort in das Wesen, in das denkende, vorstellende Wesen mich hineinversetzen, das erfordert noch einen tieferen Sinn als den gewöhnlichen Wortsinn, das erfordert den Denksinn, wie ich es nennen möchte.»

Dieser hier geschilderte Denksinn dürfte, so scheint es, die Grundlage dafür darstellen, dass wir über semantisches Verstehen verfügen bzw. Semantik betreiben. «Und ein noch intimeres Verhältnis zur Außenwelt als der Denksinn gibt uns derjenige Sinn, der es uns möglich macht, mit einem anderen Wesen so zu fühlen, sich eins zu wissen, dass man es wie sich selbst empfindet. Das ist, wenn man durch das Denken, durch das lebendige Denken, das einem das Wesen zuwendet, das Ich dieses Wesens wahrnimmt – der Ichsinn. Sehen Sie, man muss wirklich unterscheiden zwischen dem Ichsinn, der das Ich des anderen wahrnimmt, und dem Wahrnehmen des eigenen Ich. […] Diese beiden Dinge müssen streng voneinander unterschieden werden. Wenn wir vom Ichsinn reden, so reden wir von der Fähigkeit des Menschen, ein anderes Ich wahrzunehmen. […] Bezüglich dieser Wahrnehmung des anderen Ich durch den Ichsinn ist nun – das sage ich aus tiefer Liebe zur materialistischen Wissenschaft, weil diese tiefe Liebe zur materialistischen Wissenschaft einen befähigt, die Sache wirklich zu durchschauen – die materialistische Wissenschaft ist heute geradezu behaftet mit Blödsinnigkeit. Sie wird blödsinnig, wenn sie von der Art redet, wie sich der Mensch verhält, wenn er den Ichsinn in Bewegung setzt, denn sie reden ihnen vor, diese materialistische Wissenschaft, dass eigentlich der Mensch, wenn er einem Menschen entgegentritt, aus den Gesten, die der andere Mensch macht, aus seinen Mienen und aus allerlei anderem unbewusst auf das Ich schließt, dass es ein unbewusster Schluss wäre auf das Ich des anderen. Das ist ein völliger Unsinn! Wahrhaftig, so unmittelbar wie wir eine Farbe wahrnehmen, nehmen wir das Ich des anderen wahr, indem wir ihm entgegentreten. Zu glauben, dass wir erst aus der körperlichen Wahrnehmung auf das Ich schließen, ist eigentlich vollständig stumpfsinnig, weil es abstumpft gegen die wahre Tatsache, dass im Menschen ein tiefer Sinn vorhanden ist, das andere Ich aufzufassen. So wie durch das Auge Hell und Dunkel und Farben wahrgenommen werden, so werden durch den Ichsinn die anderen Iche unmittelbar wahrgenommen. Es ist ein Sinnenverhältnis zu dem anderen Ich. Das muss man erleben. Und ebenso, wie die Farbe durch das Auge auf mich wirkt, so wirkt das andere Ich durch den Ichsinn. […] Zwölf gesonderte Gebiete des menschlichen Organismus haben wir in diesen Sinnesgebieten.»

 

Der Kreis der zwölf Sinne bei Karl König

Als Geistesschüler Rudolf Steiners hat sich Karl König sein ganzes, hoch intensives und höchst vielseitiges Leben lang mit der Frage nach der Bedeutung einer durch die anthroposophische Geisteswissenschaft Rudolf Steiners erweiterten Erkenntnis der Sinne des Menschen beschäftigt. Die Ausführungen Steiners zur Sinneswahrnehmung und zu den einzelnen Sinnen unvoreingenommen höchst ernsthaft und gewissenhaft prüfend, hat Karl König dank der ihm eigenen Genialität und Kreativität eigenständige Auffassungen und Bewertungen der einzelnen Sinne und ihres Zusammenwirkens vollzogen.

Die in diesem Band herausgegebenen Schriften zu den menschlichen Sinnen stützen sich im Wesentlichen auf Vorträge und Kurse, die Karl König an unterschiedlichen Orten gehalten hat. In den acht Vorträgen des 1960 in Spring Valley gehaltenen Kurses gibt König im ersten Vortrag einen Überblick über die Zwölfheit der Sinne des Menschen, um sodann im Verlauf der beiden nachfolgenden Vorträge eingehend sich mit den die Wahrnehmungen des eigenen Leibes ermöglichenden Sinnen – Tastsinn, Lebensinn, Bewegungssinn und Gleichgewichtssinn – zu beschäftigen.

Inwelt-bezogene Sinne

Angeregt durch Rudolf Steiner gibt König neben einer subtilen phänomenologischen Schilderung des Tastens Erlebnismetamorphosen des Tastsinns in Form des Angsterlebens und weist auf die Aussage Steiners hin, dass der Mensch, «wenn er keinen Tastsinn hätte, das Gottgefühl nicht haben» könnte. Der Angst, so König, als der Erfahrung der Unsicherheit im Tasten, «steht gegenüber die Erfahrung des Durchdrungenseins mit Gottgefühl: die Anwesenheit göttlicher Schöpfungskräfte in unserer physischen Existenz». Sowohl im Kontrast zum Tastsinn als auch unter dem Aspekt zu dessen Ergänzung bei der Vermittlung des Erlebens leiblicher Geschlossenheit zeigt König die Erlebnisqualitäten des Lebenssinns auf. «Durch den Lebenssinn erlebt sich der Mensch als ein Wesen, das den Raum seines Körpers erfüllt.» Dort wo dies nicht hinreichend gelingt, so die Beobachtung des Arztes und Heilpädagogen König «wachsen in den vergangenen Jahren Kinder auf, die an Schizophrenie, an Psychosen oder an verwandten Störungen leiden. Wenn man sie kennenlernt, fällt ein Symptom ganz besonders auf: diese Kinder sind nicht in der Lage, sich mit ihrem eigenen Körper zu identifizieren».

Die Frage nach der organischen Grundlage des Lebenssinnes beantwortet König mit dem Verweis auf das autonome vegetative Nervensystem, wobei er eingehend die Polarität zwischen sympathischem und parasympathischem System herausarbeitet. Als die beiden seelischen Äquivalente des Lebenssinns werden die Urerlebnisgebärden Furcht und Scham überzeugend vor Augen geführt. König: «Wir müssen uns darüber klar werden, dass es keine gültige Trennung zwischen der Geisteswissenschaft und der gewöhnlichen Wissenschaft gibt. Sie müssen sich vereinigen. Und wenn wir nicht mutig genug sind, den Lebenssinn den Baum des Lebens zu nennen, der dem Menschen entzogen worden ist, und Furcht und Scham als die Folge davon zu sehen, dass wir einseitig vom Baum des Lebens gegessen haben, dann sind wir unfähig, die umfassenden Ergebnisse der modernen Wissenschaft mit den geistigen Einsichten zu verbinden, die Rudolf Steiner uns vermittelt hat.»

In einem weiteren Vortrag werden Bewegungssinn und Gleichgewichtssinn vorgestellt. Im Hinblick auf den Bewegungssinn hebt König hervor, dass dieser uns nicht etwa die eigenaktive Selbstbewegung vermittelt, sondern deren Ergebnis: die vielfältige und hochdifferenzierte Bewegtheit unseres Leibes, weswegen eine Erlebnisanalyse dieses Sinns, der Kinästhesie, leichter und unmissverständlicher gelingt, wenn wir zunächst davon absehen, uns selbst zu bewegen, und stattdessen unsere Gliedmaßen von einer anderen Person bewegen lassen. König: «Wenn wir gehen oder unseren Arm heben, wissen wir, dass wir es tun, weil wir diese Bewegungsgestalten im Raum wahrnehmen können. Ähnlich ist es, wenn wir durstig sind und einen Schluck Wasser trinken; wir spüren, dass wir trinken, und wissen, was wir getan haben. Wenn wir dies jedoch sorgfältig beobachten, wird uns deutlich, dass wir uns weniger bewusst sind über das, was wir gerade tun, als über das, was wir gerade getan haben. […] All unsere Beweglichkeit wird uns jedoch fortwährend durch den Bewegungssinn bewusst.» Als das Organ des Bewegungssinnes nennt König das «sogenannte motorische Nervensystem des Rückenmarks und des zentralen Nervensystems». Bei all meiner Wertschätzung, die ich gegenüber Karl König hege, so kann ich ihm bei dieser Zuordnung nicht folgen. Bei allem, was wir heute wissen, ist die organologische Grundlage des Eigenbewegungssinnes, also der Kinästhesie, das sensorische System der sogenannten Tiefensensibilität oder der Propriozeption, bestehend aus den Sinnesorganen in Muskulatur, Sehnen und Faszien, den Muskelspindeln bzw. Tensorezeptoren, deren Erregung über die bipolaren Nervenzellen des Rückenmarks weitergeleitet wird und nach einer synaptischen Umschaltung auf ein zweites Neuron über die Hinterstränge des Rückenmarks bis zum Thalamus geleitet wird und sodann in Form eines drittes Neuron zum Gyrus postzentralis der Großhirnrinde geleitet wird. Das sogenannte motorische Nervensystem dient nach traditioneller neurophysiologischer Auffassung der Willkürbewegung, also dem Akt des Bewegens, nicht der Bewegtheit unseres Leibes. Allerdings wird diese Auffassung von Rudolf Steiner sehr dezidiert als unzutreffend kritisiert. Die Aufgabe des «motorischen» Nerven sei es stattdessen, im Sinne einer sich im Schlafbewusstsein abspielenden Wahrnehmung, den willentlichen Akt der Bewegungshervorbringung zu vermitteln, was ich hier gleichwohl nicht weiterverfolgen möchte.

Mit Blick auf den Gleichgewichtssinn betont König mit Nachdruck, dass dieser Sinn die aufrechte Körperhaltung und damit zugleich auch die seelische Aufrechte ermöglicht. Beim Vergleich mit der Tierwelt wird deutlich, welche kategoriale Bedeutung diese durch den Gleichgewichtssinn vermittelte Tätigkeit des Menschen zur Aufrichtung hat: «Wir erleben nur eine durchdringende Sicherheit, dass wir ein Geist sind, frei von Raum und Zeit. Tastsinn, Lebenssinn und Bewegungssinn sind in das Unbewusste eingetaucht, aber die spirituelle Gewissheit, dass wir derselbe Mensch sind, ganz gleich, wo wir uns befinden, dieser innere Frieden ist uns gegenwärtig durch den Gleichgewichtssinn.» Die Behandlung des Gleichgewichtssinn schließt mit einem Ausblick auf die Korrespondenz zwischen dem Mikrokosmos Mensch und dem Makrokosmus in Bezug auf die Raumesgesetze: «Wir denken, dass wir den Gleichgewichtssinn theoretisch verstehen, aber wenn wir ihn näher studieren, entdecken wir, dass es drei verschiedene Arten von Nerven gibt, die zu den drei verschiedenen Teilen des Gleichgewichtsorgans führen. Ein Typ dieser Nerven hat sieben Fasern, der zweite zwölf und der dritte hat achtundzwanzig Fasern. Sie repräsentieren den Kosmos, der die Organisation aufbaut: sieben Erde, zwölf Sonne, achtundzwanzig Mond. Dies legt nahe, dass die drei Arten der sensorischen Nerven den dreidimensionalen Raum repräsentieren und uns die Möglichkeit geben, uns von der Bewegung der Erde, der Sonne und des Mondes zu befreien. Sie geben uns die Möglichkeit, aufrecht zu sein, und dies wiederum ist die Grundlage dafür, dass allmählich Frieden in uns werden kann. Wir befreien uns vom Einfluss der Natur, ihrer Kräfte und allem, was uns sonst eins machen würde mit der Welt. Es ist unsere Aufgabe, uns darüber zu erheben. In seinem ersten Lebensjahr erlangt das Kind den Gleichgewichtssinn. Es bildet ihn in der aufrechten Haltung aus und hat dadurch die Möglichkeit, zu denken und in eine menschliche Haltung hineinzuwachsen. Diese urmenschlichen Fähigkeiten verdanken wir dem Gleichgewichtssinn.»

Umwelt-bezogene Sinne

Zu ihnen werden Geruchssinn, Geschmackssinn, Sehsinn und Wärmesinn gerechnet. Hier weist König darauf hin, dass es sich bei den in-Welt-bezogenen «unteren» Sinnen um bloße Empfindungen handelt, während die Umwelt in unterschiedlichen Modalitäten als Erfahrungen vermittelt werden. Es wird, mit den Worten Karl Königs, «ein anderer ‹Leib›, der Leib der uns umgebenden Welt» wahrgenommen, was bedeutet, «dass unser eigener Leib in einem größeren, weiteren und schöneren Leib lebt, der ihn umgibt». Worauf König ebenfalls hinweist ist, dass die Wahrnehmung dieser Umwelt-bezogenen Sinne in dem Sinne «individuelle Erfahrungen» sind, dass wir sie mit keinem anderen Menschen teilen, wir sie ganz für uns haben. Zugleich wird aber verdeutlicht, dass wir «die Wahrnehmungen, die ein jeder macht, miteinander vergleichen, sie benennen, und uns über sie austauschen […] Moderne Physiologen irren sich, wenn sie annehmen, es handele sich bei den Erfahrungen des Geruchs, des Geschmacks, der Farbe und der Wärme um Urteile. Ein Geruch oder ein Geschmack hat mehr Realität als eine chemische Formel, die in Bezug auf diesen Geruch oder Geschmack erarbeitet werden kann. Geschmack, Geruch, Gesehenes und Wärme sind Wirklichkeiten des Weltleibes, in den wir eingebettet sind. Weil das für alle Menschen so ist, können wir uns auf sie beziehen und über sie sprechen, auch wenn es sich um individuelle Erfahrungen handelt».

«Wir können nur sagen, wonach etwas riecht, denn Gerüche sind individuell, und es gibt so viele Gerüche, wie es Worte gibt, sie zu benennen und zu beschreiben», so Karl König im Hinblick auf die schier unbegrenzte Mannigfaltigkeit an Gerüchen. Abgesehen davon, dass man beim Versuch, dieser unübersehbaren Mannigfaltigkeit an Geruchsqualitäten auf die besonders dem Geruchssinn eigene Schwierigkeit stößt, dass keine spezifischen Wortbezeichnungen für Geruchsklassen oder Geruchskategorien existieren, weil Gerüche in besonderem Maße der Sphäre des Emotionalen, Affektiven und Vitalen angehören, ist die Charakterisierung der einzelnen Gerüche als «individuell» zutreffend. Das zeigt sich auch daran, dass die Versuche, das vielfältige Gesamt der Geruchsqualitäten in eine Phänomenale oder an anderen Kriterien orientierte Ordnung zu bringen, allesamt vorläufig sind, unbefriedigend erscheinen und letztendlich als gescheitert angesehen werden müssen.22

Der Geruchssinn, darauf verweist König eindrücklich, bringt uns auf sehr intime Weise in eine Vereinigung mit den Dingen, insofern diese, gleichsam «verduftend», sich der Luft mitteilen, dass wir dort, wo wir mit unserer Sprache darauf zu verweisen suchen, auf das jeweilige Substantiv Bezug nehmen: es riecht wie eine Rose, wie Lindenblüten, wie ein Kadaver. In früherer Zeit ist von den Ärzten beispielsweise eine Masernerkrankung nicht nur am Hautausschlag, sondern auch an einem spezifischen Geruch diagnostiziert worden, nämlich: Es riecht wie im Keller der Berliner Viktualienhändler (Scharlach), oder, bei Masern: Es riecht wie frisch gerupfte Gänsekiele.23 Ähnliches findet sich in der Medizin hinsichtlich spezifischer, unverwechselbarer Mundgerüche, nämlich einem Foetor hepaticus, diabeticus, psychoticus u. a. m.24 Zudem macht König darauf aufmerksam, dass Gerüche dann entstehen, wenn Verwesungsprozesse sich abspielen, Absterbeprozesse, wenn also im aristotelischen Ursachenmodell sich eine Steresis abspielt, im Rahmen von Entstehen und Vergehen der einjährigen Pflanze eine «Beraubung» (vom gestaltenden «eidos» bzw. der «causa formalis») vonstattengeht. Oder in der Begrifflichkeit der modernen Naturwissenschaften: Dass das Phänomen Geruch im Zuge eines Prozesses auftritt, der nach dem Zweiten Thermodynamischen Hauptsatz nach Entropiezunahme im Sinne maximaler molekularer Unordnung strebt. Eine aufschlussreiche phänomenologische Zuordnung bestimmter Geruchsqualitäten zu den jeweiligen Relationen zwischen Aufbau- und Abbauprozessen ist von Thomas Göbel durchgeführt worden.25 Worauf König uns des Weiteren bei der Besprechung des Riechsinns verweist, ist der Umstand, dass wir beim Riechen die Substanzen in extremen Verdünnungen noch riechen, die den Verdünnungen potenzierter Arzneimitteln entsprechen, und auch darauf, dass sich das Riechhirn im Zuge einer evolutiven Höherentwicklung in das Limbische System unseres Gehirns metamorphosiert hat, das neben dem Gedächtnis im Dienste der emotionalen Tönung unserer Sinneserfahrungen steht.

 

Eindrucksvoll gelingt König eine Kontrastierung zwischen Riechsinn und Geschmackssinn, hier die unbegrenzt individualisierte Erlebnismannigfaltigkeit, dort eine klare Konturierung auf die Grundqualitäten bitter, salzig, süß und sauer, die erst im Verbund mit dem Riechen eine qualitative Vervielfältigung erfahren, wobei gerade durch das Schmecken Vorlieben und Abneigungen in Erscheinung treten, die uns darauf hinweisen, wie weitreichend die Sinneserlebnisse im engeren Sinn auch auf andere Erlebnisstufen übertragbar sind, ohne dabei ihre spezifische Sinnesqualität einzubüßen.

Der Darstellung des Sehens stellt König eine Behandlung seines Organs, also des Auges voraus. Dabei streift er den Gedanken, dass das Auge als Organ nicht allein die Funktion erfüllt, dem Menschen das Sehen der Welt, also eine Bewusstwerdung des (visuellen) Weltganzen zu ermöglichen, sondern es zugleich dem Weltganzen ermöglicht, sich seiner Selbst bewusst zu werden. Insofern gehört das Sinnesorgan als Werkzeug der Wahrnehmung stets dem Menschen als Mikrokosmos und dem Weltganzen als Makrokosmos an.

Die Natur ist es, die (nach Goethe) durch uns – und zwar zuallererst durch unsere Sinne – sich offenbaren will: Das Auge hat sein Dasein dem Licht zu danken. «Aus gleichgiltigen thierischen Hilfsorganen ruft sich das Licht ein Organ hervor, das seinesgleichen werde, und so bildet sich das Auge am Lichte fürs Licht, damit das innere Licht dem äußeren entgegentrete.»26 Wenn das stimmt – der in die Breite geführte Erweis, vor allem des «Wie», steht noch aus! –, könnte man gemäß diesem Modell ganz allgemein die These aussprechen: Der Mensch bildet sich (aus dem Sinn) am Sein für das Sein; die Welt-Wirklichkeit tendiert dahin, sich ständig neue Organe im Menschen heranzuziehen, um sich mit ihrer Hilfe in immer weiteren und tieferen Bereichen erschließen zu können. Hebt man das Gegenüber von Selbst und Welt auf und betrachtet das Selbst als Moment (Movens) innerhalb der Welt, dann stellt sich nicht nur der Leib, sondern der ganze Mensch – genauer: die ganze Menschheit – als ein Organ dar, durch das die Welt ihre Evolution bewerkstelligt. Nicht nur Goethes Weltbild, sondern auch die Anthroposophie Rudolf Steiners baut in sehr weitem Umfang auf solchen Voraussetzungen auf. Immer wieder finden sich bei Steiner lapidare Sätze wie dieser: «Was in die Erkenntnis des Menschen hineinfällt, ist davon abhängig, dass der Mensch Organe dafür hat.»27 Diese Aussage enthält eine Binsenwahrheit, die so selbstverständlich ist, dass es schwer ist, ihre ungeheure Tragweite für das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zur Welt zu ermessen. Sie begründet eine der Einsichten, die eine vorurteilslose Beschäftigung mit dem Weg zur Erlangung von Erkenntnissen der «höheren Welten» ermöglichen. Nicht zufällig beginnt das Werk Theosophie28 mit jenem bekannten Fichte-Zitat, das auf die Möglichkeit einer Erschließung neuer Sinne hinweist. Das Buch endet damit,29 dass Steiner diejenigen Regionen aufzeigt – es sind vor allem die der Gefühle –, wo der Mensch unmittelbar aus seinem alltäglichen Dasein heraus an der Bildung neuer Organe zu arbeiten vermag. Diese Arbeit der Umwandlung der Gefühle hat ihre Bedeutung nicht nur durch die Erfolge, die ihr beschieden sind oder nicht. Unabhängig davon ist bedeutsam, was der Mensch an einer solchen Arbeit erfährt. Dafür kommt es nicht so sehr darauf an, wie weit – sondern dass überhaupt eine solche Umwandlung möglich ist. Diese Erfahrung gehört zu den wichtigsten, die der Mensch machen kann. Denn er hält damit (d. h. mit einer bewussten Mikroevolution) einen Zipfel der Weltevolution in seinen Händen. Das Bilden neuer Organe wird dadurch auf eine ganz neue Stufe gehoben, ja im eigentlichen Sinne des Wortes potenziert, dass der Mensch nicht nur durch seine (ihm mitgegebenen) Sinne «belehrt» wird, sondern diese seinerseits zu belehren vermag.30 Diese Spontaneität bereitet eine neue Form der Rezeptivität vor. Für die Anthroposophie bedeutet der «organologische» Ansatz aber nicht nur den Angelhaken, mit dem der Mensch geistig in die Ausgangsposition «gelupft» wird, von der aus er sich auf den Weg machen kann. Konsequent verfolgt, führte dieser Ansatz zugleich zu tiefen Einsichten in den konkreten Aufbau der menschlichen Wesenheit. Rudolf Steiner selbst hat diesen Weg am weitesten in seinem Fragment gebliebenen Buch Anthroposophie. Ein Fragment (GA 45) ausgeführt.

Karl König weist zudem auf den Umstand, dass das Auge während der Embryonalzeit vom Zwischenhirn aus entsteht und zusammen mit dem Ektoderm, der Hautanlage, das Auge bildet, wobei der bildentwerfende Apparat des Auges aus der ektodermalen Anlage, der bildempfangende Teil aus dem vom Zwischenhirn ausgegangenen Augenbecher entsteht. Verfolgt man Augen- und Gehirnentwicklung im Detail und vergleicht man im voll ausgebildeten Zustand Gehirn und Auge, so erweist sich das Auge als eine Metamorphose des Gehirns. Das Auge als kleines Gehirn, was es zugleich ermöglicht, das Gehirn als Sinnesorgan aufzufassen, als ein großes Auge also. Dieser Gesichtspunkt ist erstmals von Rudolf Steiner entwickelt31 und von Gisbert Husemann im Detail ausgearbeitet worden.32 Entsprechend erweisen sich Sehen und Denken als Abwandlung einer Tätigkeit, eines Typus. «Das Organ des Denkens erweist sich als ein solches, dem das Sehen, unser Organ des Sehens erweist sich als ein solches, dem auch das Denken, in irgendeiner Form zugrunde liegt» (Husemann). Oder in den Worten Rudolf Steiners: «Das Denken hat den Ideen gegenüber dieselbe Bedeutung, wie das Auge dem Licht, das Ohr dem Ton gegenüber. Es ist Organ der Auffassung».33 Ohne dies hier im Einzelnen kommentieren zu wollen, bezieht sich Karl König auf Hinweise Rudolf Steiners und leitet daraus ab, dass dem Menschen durch die luziferische Versuchung durch den Sündenfall die Augen geöffnet wurden und ihm dadurch «die Welt in ihrer Herrlichkeit» erschien. «Das Auge ist», so König seine Auseinandersetzung mit dem Sehsinn beschließend, «das Ergebnis des Sündenfalls, und es ist das Organ, durch das wir die Schönheit und Herrlichkeit der Welt um uns erblicken».

In bewusstem Kontrast zum Sehsinn findet sich bei König der Wärmesinn behandelt. Bei der Verfolgung der Frage, warum Rudolf Steiner der Wahrnehmung der Wärme im Kreis der zwölf Sinne einen so hohen Rang einräumt und sie zwischen dem Sehsinn und dem Hörsinn einordnet, während der Wärmesinn in der konventionellen Physiologie gemeinhin den Erfahrungen der Hautsinne, also Berührung, Schmerz und Vibration zugerechnet wird, führt König aus: «In der Tat ist der Wärmesinn das Tor von den hohen, zu den höchsten Sinnen. Aber warum?» In Bezugnahme des Phänomens, dass wir bei drei Wasserbecken, von denen das eine mit heißem, das andere mit kaltem und ein drittes mit lauwarmem Wasser gefüllt ist, wir die rechte Hand in heißes Wasser, die linke in kaltes Wasser legen und dann die Hände in das Becken mit lauwarmem Wasser halten, so erhalten wir ungleiche Wärmeempfindungen der Hände. Hierzu König: «Wenn wir dieselbe Außentemperatur wegen der Verfassung unserer Hände verschieden wahrnehmen, müssen wir annehmen, dass wir uns nicht auf die Information verlassen können, die uns der Wärmesinn gibt. […] Dies sind Phänomene, die alle höheren Sinne gemeinsam haben. […] es ist der Gleichgewichtssinn, der uns die oben beschriebene, differenzierte Wärmeerfahrung gibt, […] denn der Gleichgewichtssinn arbeitet kontinuierlich daran, eine Balance zwischen der Wärme außerhalb und innerhalb des Leibes zu schaffen.» Im Weiteren führt König aus, dass der Gleichgewichtssinn «viel tiefer in unserem physischen Organismus» arbeitet, indem er «das Verhältnis kleinster Substanzen im Blut so zueinander» reguliert, «dass z. B. die Menge der verschiedenen mineralischen Substanzen im Blut konstant bleibt. Dadurch wird das menschliche Bewusstsein, die persönliche Identität aufrechterhalten».

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