Grundlagen der Kunsttherapie

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Die geschilderten Vorgänge funktionieren aber auch nur über gezielte Hemmung: Diese Vorgänge erlauben eine gerichtete Aufmerksamkeit sowie die Einbindung von Sinneseindrücken zu einer einheitlichen Wahrnehmung. ,Ohne Hemmungsmechanismen‘, so ein Mitarbeiter der Forschungsgruppe, Lüscher, ,wären alle sensorischen Hirnrindenareale maximal erregt, ähnlich einem elektrischen Gewitter‘. Dies würde eine bewusste und differenzierte Wahrnehmung unserer Umwelt verunmöglichen.“ (Larkum u. a. 2006, 603f.)

Fassen wir zwischenzeitlich den Stand unserer Erörterungen zusammen: Auge und Gehirn arbeiten erregend, hemmend, dispositionell ermöglichend, schließlich synchronisierend und topographisch repräsentierend zusammen, nach dem Motto „Neurons that fire together wire together“, um alle Erfahrungen, selbst die zwischenmenschlichen, „zu einem neuronalen Skript“, „zu spezifischen Simultanaktivierungen zahlreicher Nervenzellverbände“ (Bauer 2001, 265), schließlich zu einem Vorstellungsbild zusammenzuführen. Den Prozess der Vorstellungsbildung haben wir aus einer derzeit gültigen neurologischen Perspektive betrachtet. In einer umfassenden Einführung in die Gestalttheorie wollen wir die These nun aus einem anderen Blickwinkel, dem der Gestalttheorie beleuchten. Sie erklärt die Gesetzmäßigkeit der Gestalt-Herstellung aus psychologischer, – neuerdings auch neuro-analytischer Sicht. Das Hinzukommen der Neuro-Analyse spiegelt sich in der folgenden Wissenschaftsmeldung (idw 10.1.07):

„Unbewusste Wahrnehmung kann zuverlässiger sein als bewusstes Nachdenken. Sich auf seinen Instinkt zu verlassen und Entscheidungen schon nach einem einzigen Blick zu treffen, liefert manchmal bessere Ergebnisse als langes Nachdenken. Das ist das Fazit einer Studie britischer Psychologen. Verantwortlich dafür ist eine ausgeprägte Hierarchie der Vorgänge während der Wahrnehmung: Schon in den ersten Sekundenbruchteilen werden bestimmte Eigenschaften eines Objektes unbewusst registriert. In dem Moment jedoch, in dem das übergeordnete Bewusstsein übernimmt, werden diese durch Informationen mit einer höheren Priorität überschrieben – und das kann wiederum dazu führen, dass schnelle Entscheidungen zuverlässiger sind als wohlüberlegte Reaktionen. Zuerst nimmt das Gehirn auf einer unbewussten Ebene ganz grundlegende Eigenschaften des Gesehenen wahr, wie beispielsweise die Farbe oder die Orientierung eines Gegenstandes, erklären die Forscher. Dann greift das Bewusstsein ein und setzt die Merkmale zu vollständigen Objekten zusammen. Dabei überschreibt es aufgrund seiner höheren Position in der Hierarchie manchmal das zuvor Wahrgenommene, selbst wenn es korrekt ist. So wird in dem Moment, in dem das Gehirn den Gegenstand etwa als Apfel erkennt, die Identität des Objektes zum wichtigsten Merkmal und verdrängt die zuvor herausstechende Eigenschaft.“

Die Tagung der APA 2001 hat die Rolle der unbewussten Informationsaufnahme und -verarbeitung verdeutlicht. Im Bericht von Joachim Bauer heißt es (2001, 266):

„Inzwischen ist empirisch gesichert, dass Vernachlässigung oder frühe bzw. frühere Traumatisierungen bei einigen klinischen Störungen eine pathogenetisch erstrangige Rolle spielen: bei dissoziativen Störungen, bei den ‚Borderline‘-Syndromen, bei einem Teil der schweren depressiven Störungen und Angsterkrankungen, bei Schmerzerkrankungen sowie beim Posttraumatischen Stresssyndrom. Vor dem Hintergrund des oben Gesagten erfuhr die letztgenannte Störung (engl. ,PTSD‘) bei der diesjährigen APA-Tagung besondere Beachtung. Symposien, bei denen Rachel Yehuda, Donald Klein, Jeremy Coplan und andere ihre Ergebnisse präsentierten, zeigten, wie verheerend sich Erfahrungen in neuronale Strukturen eingraben können: PTSD-Betroffene erleiden nicht nur psychische Symptome (Intrusionen, Hyperarousal, Angst, Schlafstörungen etc.), sondern unterliegen auch neurobiologischen Folgeschäden (Volumenverminderung des Hippokampus, massive endokrine Dysregulation der hypothalamisch-hypophysären-adrenalen Achse). Angstauslösende Stimuli erzeugen bei PTSD-Patienten eine exzessive Aktivierung der Amygdala, gefolgt von einer massiven Freisetzung von Noradrenalin. Auch ,masked fearful stimuli‘, d. h. Angstauslöser, die vom Bewusstsein des Betroffenen nicht wahrgenommen werden, führen zu dieser Aktivierung des Mandelkerns: nebenbei ein eleganter neurobiologischer ,Nachweis‘ des Unbewussten und seiner dynamischen Kräfte.“

Wie unbewusst-ästhetische Programmierung mithilfe gestalt-ästhetischer Vor-Einstellungen unser Sehen und gefühlsbesetztes Beurteilen bestimmt, demonstriert der schwedische Neurophysiologe Torsten Wiesel, der Ende der 1950er Jahre schon herausfindet, dass Hirnareale auf die ästhetische Anordnung der wahrgenommenen Elemente reagieren. 1981 erhält er zusammen mit David Hubel für seine Forschungen den Medizinnobelpreis. Er meldet sich wieder in der gegenwärtigen Diskussion.

Eine ästhetisch wohlproportionierte Anordnung der Elemente unserer Wahrnehmung erregt das Areal der Insula, leichte Veränderungen in dieser Anordnung bringen sie zum Verstummen. Folglich kann Wiesel die neuronal-ästhetische Taxierung dessen, was wir sehen, in der sog. Insula, einem Areal des Schläfenlappens verorten (vgl. Bild der Wissenschaft 6, 2008, 49). Vilayanur Ramachandran (2005) mit seiner Behauptung einer Art neuronalen, gestalt-theoretisch aufgebauten Grammatik unseres Wahrnehmens wird bestätigt. Nunmehr kann die Neurobiologie erklären, wie die gefühlsmäßige Besetzung einer proportionierten Anordnung von Elementen unserer Wahrnehmung mittels Neurotransmitter und Peptiden (Endorphine) geschieht: Vom sog. Ventralen Tegmentalen Areal (VTA) werden ob des wohlgefälligen Anblicks Dopamine ausgeschüttet, die auf ihrem Weg zum NAc (Nucleus Accumbens), einem der wichtigsten Wohlfühlorte des Gehirns, Endorphine beim Hypothalamus aufnehmen und zum ACC (Anteriorer Cingulärer Cortex), dem Motivationszentrum des Gehirns, bringen. Der Anblick gefällt uns infolge.

Besonders die Motivations- und Leistungszentren des ACC und NAc, die uns seit frühesten Geborgenheits- und Lustgefühlen begleiten, werden angesprochen und nehmen Kontakt mit dem Areal der Insula auf.

Die Forschungen Edelmans, Cricks, Zekis, Pöppels, Singers, Heisenbergs und anderer erläutern den Beginn der Gestalterkennung bis zu jenem Zeitpunkt, an dem eine andere Form des Bewusstseins die Erklärung übernimmt – und im Verein mit den neurologischen bisherige psychoanalytische Verstehensmodelle durchaus eine Neuauflage erhalten (Kaplan-Solms / Solms 2005).

2 Formwahrnehmungsstörung und Gestaltrekonstruktion

2.1 Form – Ganzheit und Gestalt

Im 20. Jahrhundert werden zunehmend ästhetisch orientierte Ganzheits- und Gestaltpsychologien zur Grundlage des bildnerischen Arbeitens mit mental oder kommunikativ beeinträchtigten Kindern und Erwachsenen. Die Lehre von der Gestalt besagt, dass die Gegenstände unserer sinnlichen Wahrnehmung sich vor oder während des Erkenntnisaktes zu einer Form, einer Figur, einer Struktur fügen. Die Lehre von der Ganzheit sagt, dass jenes formhaft, figurativ, strukturiert sich Zeigende wahrnehmungs- oder erlebnismäßig vielleicht anfänglich diffus, letztlich aber als einheitlich erscheint. Erkenntnistheoretisch gesagt: Das unmittelbar Gegebene sei bzw. werde ein Geformtes; oder mit den Worten Ernst Blochs: Das „qualitative Quantum, als das sich jede Gestaltkategorie darstellt“ (1975, 155), gelange in der Wahrnehmung zur Einheit seiner selbst, indem es auf sich reflektiere. Es liegt auf der Hand, dass diese Annahmen die einer konstruktivistischen Weltbetrachtung herausfordern, nach denen wir unsere Welt, so der empirische Konstruktivismus, biographiegeschichtlich aneignen, erobern und herstellen.

Nach Jahrzehnten des sozial- und naturwissenschaftlichen Umgehens mit den Begriffen „Ganzheit“ und „Gestalt“ haben wir uns angewöhnt, mittels dieser Begriffe eine erfahrbare Einheit des Bewusstseins oder des Verhaltens zu beschreiben. Der Ganzheits- bzw. Gestaltbegriff ist aber, so wissen wir heute, ein Begriff des Komplex- bzw. des Systemdenkens, den wir wie ein Konstrukt gebrauchen, um verschiedene Dinge, Wahrnehmungselemente auf einen Nenner zu bringen, zusammenzubringen. So konstruieren wir weiße oder schwarze Punkte / Kreise zu Dreiecks-, Kreis- oder Trapezfiguren je nachdem, wie die einzelnen schwarz-weißen Elemente zueinander stehen; ähnliches tun wir mit Flächen.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts nimmt die Wissenschaft der Ästhetik an, sie könne, wie die Kunst, das Chaos der Welt zu einem wohlproportionierten Ganzen fügen (Allesch 2006): Der Kunsttheoretiker Coleridge meint, die Imagination schaffe die Einheit der Mannigfaltigkeit. Er bezieht sich auf den Philosophen Schelling, der Einbildungskraft als „eigentlich die Kraft der Ineinsbildung“ begreift und Maler wie Delacroix und Géricault letztlich animiert, das Ganze im Bild zu sehen, es ins Bild zu setzen (nach Körner 1988, 203).

Dieses kunstphilosophische Theorem hat Auswirkungen auf all jene Wissenschaften, die sich um Wahrnehmungs- und Bewusstseinsphänomene kümmern. Ende des 19. Jahrhunderts stellt Ernst Mach (1838–1916) die erste Gestalt- und Ganzheitstheorie auf. Die frühe systemtheoretische Betrachtung des Gestalt- und Ganzheitsbegriffs geht auf ihn zurück.

Der Physiker Mach, der sich u. a. für die Organisiertheit der Sinneserfahrung interessiert, unterscheidet einfache und komplexe unmittelbare Empfindungen (z. B. Raumgestalten, Tongestalten). Er stößt damit einen Forschungszweig an, der die vielen wissenschaftlichen Bemühungen um die Ganzheitstheorien in der Physik, der Biologie, auch in der Psychologie in Gang setzt. Ganzheitliche, komplexe unmittelbare Empfindungen begreift er in der Art funktionaler Beziehungssysteme, die, um ihr Gleichgewicht zu erhalten, auf Einzelreize reagieren. Diese Gedanken nimmt der Philosoph und Psychologe Christian von Ehrenfels auf: Im Anschluss an Mach versucht er, jene noch sensualistisch gefasste Komplexität zu spezifizieren. Ehrenfels fragt 1880, „ob bestimmte Vorstellungsgebilde (etwa Melodien) Zusammenfassungen von Elementen (Komplexionen) oder etwas ‚Neues‘ (Gestaltqualitäten) seien“. Er weist in seinem Beitrag auf die „Übersummenhaftigkeit“ der Gestaltqualitäten und deren Transponierbarkeit hin: „So ist die Melodie gegenüber der Summe der Einzeltöne ein ‚Mehr‘, ein ‚Neues‘; sie bleibt dieselbe, wenn auch jeder Einzelton ein anderer wird (beispielsweise Transponierung von C-Dur nach A-Dur)“ (Ehrenfels 1880, zit. nach Balmer 1976, 578).

 

Abb. 11: Gruppierung von Elementen zu einer Gestalt im Blick unserer Wahrnehmung

Zusammen mit Hans Cornelius, dem Kunstpädagogen und Philosophen (1863–1947), argumentiert Ehrenfels 1897: Jene melodischen Gestalten stellten sich unmittelbar und erlebnismäßig her als begrenzte so genannte „Unterganze im Bewußtseinsfeld (= Gestalten)“; sie umfassen nicht nur alle Teilganze, sondern auch das jeweilige Erlebnisgesamt selbst. Cornelius nennt eben dieses „Gefühl“: Gefühle seien hiernach „die Gestaltqualitäten des jeweiligen Gesamtbewußtseinsinhaltes“ (zit. nach Menzen 1998, 356).

Felix Krueger (1874–1948), Mathematiker, Psychologe und Philosoph, unterscheidet als Repräsentant der sog. Leipziger Schule seit 1903 diffuse (Ganzheits-) und gegliederte (Gestalt-)Qualitäten des Empfindens / Wahrnehmens. Er betont dabei, dass „Gestalten“ nicht erst durch unsere Vorstellungen strukturiert werden müssten, sondern dass sie unmittelbar gegeben seien. Erst Krueger differenziert die unmittelbar gegebene Gestalt (Wahrnehmungsstruktur) von der ungegliedert gegebenen Ganzheit (Erlebnisstruktur). Er macht es nach Ernst Mach wieder möglich, die Hinsicht auf eine Gestalt (Wahrnehmungs-, Empfindungs-, Gefühls-, Verhaltensgestalt) unter dem Aspekt des systemisch Zusammengehörigen zu denken. Aspekte der Gliederung, des Komplexes bzw. des Systems können hiernach auf alle Formen des menschlichen Ein- und Ausdrucks angewendet werden.


Abb. 12: Diffuse Wahrnehmungsgegenstände, die in unserer Wahrnehmung zu klaren Gestalten werden.

Adorno (1957 / 58) bemerkt in einer seiner erkenntnistheoretischen Vorlesungen hierzu kritisch: Die Einheit des Gegenstandes, wie die Einheit des Bewusstseins seien nicht unabhängig voneinander gegeben. Auch sein Freund Ulrich Sonnemann vermerkt, dass die Trennung von Gegenstands- und Bewusstseinswelt weder durch die bloß unterschobene Objekteinheit des Gestaltlichen noch durch die bloße und originäre Subjekteinheit des ganzheitlichen Erlebens aufzuheben sei (Sonnemann 1969). Die Bewusstseinsformen seien in ihrer Einheit, so Adorno, vermittelt – wie der Philosoph Georg Remmel sagt, „als Ausdrucksphänomene eines Subjektes“ (mündliche Mitteilung), die einer Form von Nachgestaltung unterlägen, d. h. sich als bildhaft im Horizont des anschauenden Subjektes erst konstituierten. Sie seien Resultat einer sinnlich-ästhetischen Formfindung eines empfindenden und diese Empfindung vermittelnden Subjekts. Gleichwohl, so interveniert richtig die Kritik, erscheint der Gestaltbegriff in der angeführten Diskussion als logischer Kunstbegriff, der suggeriert, er beschreibe Sachen. Tatsächlich habe er die Funktion eines formalen Schematismus.

Fassen wir zusammen: Am Beginn des 20. Jahrhunderts unternimmt es die Psychologie, die gesamten Elemente der Wahrnehmung und des Erlebens gestalthaft und ganzheitlich zu begreifen. So kommt es zum Versuch, ein integriertes Körpergefühl als „Gestalt“ zu verstehen (Perls 1978) und die Körperbesetzungen zu erarbeiten und auf dieses zu beziehen („body-charts“, Petzold 1985a). Seit den 1920er Jahren wird die ästhetische Dokumentation von Erlebnissen und Gefühlen als „Gestaltung“ bezeichnet, so von Franz Cizek (1865–1942). Damit wird es zum ersten Mal in der Geschichte der angewandten Psychologie möglich, psychische und physische Komplexe als Gestalten des Wahrnehmens, des Erlebens und des Selbstgefühls bildnerisch zu fassen. Während des Faschismus werden schließlich in der Tradition der sog. Leipziger Schule (deren Meinungsführer Krueger sich nationalsozialistisch exponiert und im Sinne seiner Schule das sich synthetischganz ideell vorausgesetzte und sich zur völkischen Gestalt entwickelnde Deutschland propagiert) die ersten ganzheits- und gestalttheoretischen Experimente als Schulreife- und Leistungstests durchgeführt, die besonders auf die Formauffassung und -wiedergabe von Bildvorlagen zielen (Hoffmann 1944 / 1961). Gestalt- als Gestaltungstheorie ist praktisch und schulisch-zwingend formbildend geworden. Das gleichschaltende Oktroyat, wie man zu sein, sich zu verhalten, zu denken habe, bewegt Adorno zu der Bemerkung von der „Unwahrheit der Gestalt“ (Adorno 1971, 164) und Bloch zu dem Verdikt, „Ganzheit“ sei ein Nazi-Wort.

Wie wir gesehen haben, läßt sich mit den Begriffen „Ganzheit“ und „Gestalt“ die erfahr- und erlebbare Einheit des Bewusstseins denken – und lenken. Bilder von der menschlichen Seele, die man „ganzheitlich“ zu sehen sich angewöhnt. Wenig hinterfragt geht dieses Denken über die humanistisch-psychologischen Gestaltansätze in die Tradition der Kunsttherapie ein. Es erscheint zuweilen wie eine Beschwörung des in der Summe der menschlichen Eigenschaften Fehlenden, das man therapeutisch einklagt. Des ungeachtet wollen wir das Synthetisierende, das Geschichte in eine Zusammenschau holt, und das Apperzeptive, das vorwegdenkt und kreativ ist, in der Tradition der Ganzheits- und Gestalttheorie nicht in Abrede stellen (Bloch 1964).

2.2 Neurologische Grundlagen der Gestaltrekonstruktion

Erst in den letzten Jahren hat die Kunsttherapie wichtige Erkenntnisse der gestalt-orientierten Neurologie rezipiert. Die Raum-, Form- und Figur-Herstellung zeichnender oder malender Kinder, Jugendlicher und Erwachsener gibt z. B. über deren Kompetenzen Auskunft. Eine andere wichtige Erkenntnis ist, dass die synthetisierende rechte Hirnhälfte die linke Körper- und Wahrnehmungssphäre kontrolliert und die linke differenzierende die rechte Hälfte des Körpers und Wahrnehmungsbereichs. Diese Erkenntnisse legen nahe, nach den neurologischen Grundlagen der Form- als einer Gestaltrekonstruktion zu suchen. Mit Hilfe dieser Fragen und Antworten können Therapeuten über die Kompetenzen derjenigen etwas aussagen, die in ihren Bildern beispielsweise formalästhetisch eine Bildhälfte, inhaltsästhetisch eine Körperhälfte einseitig betonen.


Abb. 13: Deutliche Betonung einer Körperhälfte bei der Bearbeitung des Selbstbildes

Wer die rechte Körper- bzw. Bildhälfte hervorhebt, scheint eher analytisch begabt zu sein, wer die linke betont, scheint eher emotional, d. h. mit Intuition begabt zu sein. Das waren Fragen und erste Antworten, die in den 1970er Jahren aufkamen und auch von kunsttherapeutischem Interesse waren. Diese Ergebnisse der sog. Split-Brain-Forschung sind mittlerweile differenziert worden. Sie wurden um die Erkenntnis angereichert, dass unsere gestaltvorwegnehmende (antizipative) und -bildende (synthetisierende) Wahrnehmung nicht ohne die Verschaltungen des Sehfeldes mit dem limbischen (gefühlsnahen) und thalamischen (informationsorganisierenden) System im Gehirn zu den-ken ist. Sie ist besonders auf die Gedächtnisfunktionen des Temporal- und Frontallappens des Cortex angewiesen (linker temporofrontaler Cortex: Alltagswissen, rechter temporofrontaler Cortex: Erinnerung). Die Kunsttherapie mit Menschen, die behindert und / oder dement sind, ist dabei, dieses Wissen grundlagentheoretisch und methodisch zu integrieren (Baukus 1997, 1ff.; vgl. Kap. 1.4; Linke 2006).

Es gibt Hinweise darauf, dass die Bilder von den Kompetenzen ihrer Hersteller sprechen und die jeweils angemessene Förderung verlangen. Die kunsttherapeutische Förderung vermag sowohl sinnes- wie auch neurophysiologische Störungen zu beeinflussen. Wahrnehmungsstörungen können geistige Retardationen zur Folge haben: Eine geschädigte sensumotorische Intelligenz steht notwendigerweise den assimilativen, akkommodativen und transferhaften Notwendigkeiten der Sinnesentwicklung im Wege. Was als Wahrnehmungsstörung erscheinen mag, verbirgt oft eine zerebrale Schädigung. Gerade die leichteren Hirnfunktionsstörungen wie die neurogenen Lernstörungen, Teilleistungsschwächen oder Perzeptionsstörungen können mit Wahrnehmungsstörungen verwechselt werden. Die Leistungen in der Reizaufnahme, Reizverarbeitung und Reizbeantwortung sind nicht nur sinnesmodaler Art, sondern mit den zerebralen Funktionen eng verknüpft (Augustin 1986, 4f.). Grund genug für die Kunsttherapeutin in der Arbeit mit sinnesgestörten Menschen, sich der neurologischen Grundlagen ihrer Arbeit zu vergewissern. Aber auch Grund, sich bewusst zu sein, dass die neurologische Verfassung eines Menschen noch nichts über die Komplexheit seiner Wahrnehmungsgeschichte aussagt.

Ob die sinnenhafte Vorstellung der eigenen Familie als Tonfigur, als sog. gestellte Skulptur oder aber als Video-Hometrainings-Mitschnitt erarbeitet wird, dazu kann die neuronale Recherche kaum Aussagekräftiges beitragen; sie ist fast immer nahezu gleich. In jedem Fall wird die Erinnerung an die gegebene Familiensituation rechtshemisphärisch und temporofrontal vermerkt und abgerufen. Und in jedem Fall werden sich diese erinnerten Situationen des Wissensbestandes der linken Temporallappen bedienen. Aber die sinnenhaften Konnotationen der jeweiligen Situation können wohl am besten mit dem breiten Repertoire des ästhetischen Mediums abgerufen und erinnerungsgemäß zugeschaltet werden.

Die kunstpädagogische oder kunsttherapeutische Arbeit mit wahrnehmungsgestörten, lern- oder geistigbehinderten Kindern und Jugendlichen zielt darauf, unterentwickelte oder verkümmerte Hirnfunktionen kompensatorisch neu zu organisieren. Wichtig ist daher die diagnostische Beobachtung der neurologischen Schädigung, um die verbleibenden Kompetenzen richtig einzuschätzen, an denen angesetzt werden kann (siehe Abbildung 1 in Kap. II.1; Wichelhaus 2007). Die Schädigung einer Hirnhemisphäre wird dem geübten Beobachter in der Regel relativ schnell offenbar. Aus den Störungen der Sinne, der Motorik und des Verhaltens kann er auf die beteiligten Hirnaktivitäten schließen. Solche Ausfälle zeigen sich sowohl alltagspraktisch wie in den bildnerischen Ausdrucksgebungen der Betroffenen.


Abb. 14: Die beiden Hirnhälften und ihre Funktionen (Kläger 1989, 17)

Zum Beispiel wird der rechtshirngeschädigte Mensch, der sich anziehen will, die räumlichen Verhältnisse zwischen den Körperteilen und den Kleidungsstücken falsch einschätzen: Er wird etwa in die Hose schlüpfen wollen, indem er den Fuß von unten ins Hosenbein steckt, und das Hemd zieht er verkehrt herum an; das Unterhemd nimmt er so, dass er zunächst mit dem Kopf ins Ärmelloch geht. Der linkshirngeschädigte Mensch dagegen wird Sequentierungsstörungen zeigen, das heißt die Abfolge der Tätigkeiten verkennen: Der Patient zieht zuerst den Pullover, danach die Hosen und die Schuhe und schließlich das Unterhemd und die Socken an. Die räumlichen Relationen stimmen und auch das Verhältnis zwischen Körperteil und Kleidungsstück, die Abfolge in der Prozedur des Anziehens, der zeitliche Zusammenhang jedoch ist gestört. Die Diagnose ist so in die Lage versetzt, die Funktionsstörungen der rechten oder der linken Hemisphäre zuzuweisen (Wais 1987; Zeki 1992; Goldenberg 1998). Die Diagnose ermöglicht zu verstehen, warum behinderte Menschen alltäglich abverlangte Leistungen wie das Erkennen und Deuten von Gesichtern, Gesten, Verhaltensweisen nicht erbringen. Und diese Erkenntnis findet auch zunehmend Anwendung in der klinisch-neurologischen Praxis.

 

Abb. 15: Seitenansicht des Gehirns mit seinen Funktionsbereichen

Die gestaltrekonstruktive Kunsttherapie muss auf diesen Erkenntnissen aufbauen. Dazu bedarf es eines unverzichtbaren Minimums neurologischen Wissens, das im Folgenden kurz resümiert werden soll:

Die große Furche des Gehirns (Sulcus centralis) teilt die vorderen und hinteren Lappen in die eher informationsverarbeitenden hinteren Bereiche, und in die eher informationsumsetzenden vorderen. Der Sulcus centralis ist eine Art Grenzlinie, um die herum sich im vorderen Teil die motorischen, im hinteren Teil die körpergefühlsmäßigen Befindlichkeiten organisieren. Hören, Sehen, Sprechen lassen sich in groben Zusammenhängen lokalisieren, obwohl ihre Verschaltung noch kaum erforscht ist. Die Stirn- (Frontal-), Scheitel- (Parietal-), Hinterhaupt- (Okzipital-) und Schläfen- (Temporal-)Lappen haben unterschiedliche sensorische und motorische Funktionen; die Schläfen- und Hinterhauptlappen z. B. sind die Orte der Erinnerung. Sie beherbergen die Projektionsfelder der Sinnesorgane, um die sich wiederum jene Assoziationsfelder lagern, die das Projizierte in die angrenzenden Fähigkeitsterrains verschalten. Die Hirnforschung gibt so den Bauplan eines Geländes, dessen praktische Nutzanwendung noch relativ unbekannt ist.

Die linke Hirnhemisphäre mit ihrem informationsaufnehmenden und -verarbeitenden sowie handlungsanleitenden Zentrum, mit ihren motorischen und somato-sensorischen Rindenfeldern, die zum Beispiel am Sprechen beteiligt sind, ist in ihren Funktionen scheinbar erforscht. Das Aus- und Nachsprechen von Wörtern z. B. kann an unterschiedlichen Hirnaktivitäten nachgewiesen werden. Stilles oder lautes Lesen führt u. U. auf die jeweils gestörten hirnorganischen Funktionen. Daran erweist sich gegebenenfalls, ob Wahrnehmungsstörungen oder hirnorganische Schädigungen vorliegen und welche Art der Förderung geboten ist. Die linke Hirnhemisphäre, so erste Resultate, scheint besonders interessant für ein bildnachahmendes Verhalten. Speziell Zellkomplexe im vorderen Sprach-Zentrum und in den motorischen Zentren scheinen sog. Spiegelneuronen zu enthalten, Nervenzellen, die die Handlungen anderer imitieren, nachstellen und sich so auf das Verhaltenssetting des Gegenübers einpendeln (Krischke 2000, 53; Bauer 2006).

Neuere Autismusforschungen (vgl. Nature Neuroscience 11, 2005; Bauer 2006; Bild der Wissenschaft 11, 2007) warnen allerdings davor, einzelne Nervenzellen für die Gesamtleistung des Gehirns verantwortlich zu machen. Sie weisen den sog. Spiegelneuronen eine eher initiierende Rolle im Prozess der Wahrnehmung zu (vgl. Kap. 1.4 Exkurs).

Für die ästhetisch-bildnerischen Verfahrensweisen ist aber auch die Intaktheit der rechten struktur- und raumvermittelnden Hirnhemisphäre von großem Belang. Daher bedarf es des Verständnisses der so genannten funktionalen Hemisphärensymmetrie, d. h. ihrer unterschiedlichen Beschaffenheit. Was heißt es konkret, wenn eine dieser Hemisphären geschädigt ist?

Die Dichotomie intellektuell oder intuitiv, analytisch oder ganzheitlich ist ein kulturell gängiges Schema. Im Fall des neurologisch Erkrankten, auch des Behinderten jedoch gewinnt diese inzwischen in die Jahre gekommene Unterscheidung neues Gewicht (Linke 2006). Manfred Schmidbauer (2004, 155f.) untersuchte die Funktionsspezialisierung unserer linken wie rechten Hirnareale hinsichtlich des Bildnerischen. Der eine Erkrankte bzw. Behinderte weiß keine Gestalt in ihrem Zusammenhang wahrzunehmen oder herzustellen, der andere zeichnet sie zu schematisch und kann sie nicht differenzieren. Die jeweiligen Mängel der Gestaltkonstruktion sind entscheidend für die Diagnose.

Die Zeichnungen linkshirngeschädigter Menschen (Abb. 16) wirken in ihrem Schematismus überaus ängstlich, geradezu pedantisch und zwanghaft repetitiv. Diese Menschen laufen Gefahr, alle Gesten und die Mimik dazu misszuverstehen, denn ihnen fehlt die Fähigkeit zur kognitiven und sozialen Differenzierung (Wais 1987, 22).

Die Zeichnungen rechtshirngeschädigter Menschen dagegen bringen alles in einen falschen Zusammenhang: Die Gestalt wird nicht erfasst, die figurativ-räumliche Leistung nicht erbracht und die Proportionen gelingen so wenig wie das Ganze. Markierungshilfen – und erst recht die kontrollierende Nachfrage – bringen diese Menschen nur in Verlegenheit. Sie offenbaren die unter Leistungsdruck versagende Kompetenz. Es ist ihnen kaum möglich, vom Teil auf das Ganze zu schließen und zu extrapolieren – ein schwerwiegendes soziales Handicap, denn es sabotiert die Fähigkeit, z. B. von der Mimik oder Gestik auf die Absichten eines Menschen zu schließen. Entsprechend schwer fällt die-sen Patienten der soziale Umgang. Ihr emotionaler Bezug bleibt unsicher. Der Rechtshirngeschädigte z. B. weiß mit dem Lächeln des anderen nichts anzufangen.


Abb. 16: Fahrrad-Zeichnungen eines linkshirngeschädigten (a) und rechtshirngeschädigten (b) Patienten (Wais 1987, 22f.)

„Bildhaft-räumliche Denkprozesse sind gewöhnlich rechts hemisphäral lateralisiert, und die Identifikation von Objekten, Gesichtern etc. gelingt besser in der zugeordneten linken Gesichtsfeldhälfte.“(Schmidbauer 2004, 160) Entsprechend hat Schmidbauer in den Zeichnungen rechtshemisphärisch geschädigter Menschen strukturell gravierende Veränderungen ausgemacht, die sich gleichermaßen in emotionalen Verunsicherungen spiegeln.

Im Prozess der wahrnehmenden bzw. vorstellenden Gestaltherstellung treten oft gravierende Verunsicherungen auf, die sich zuweilen chaotisch und aggressiv äußern. Eine ganze Forschungsrichtung – die Split-Brain-Forschung – hat versucht, die Schädigungen der Hemisphären zu simulieren. Ihr Ansatzpunkt war, dass visuelle Informationen auf der linken Seite des Gesichtsfeldes in der rechten Hirnhemisphäre aufgenommen werden, und umgekehrt. Dieses Setting wurde nachgestellt. Das Ergebnis: Die motorisch und sensorisch relevanten Nervenbahnen laufen über Kreuz. Die linke Hirnsphäre kontrolliert die rechte Körperhälfte, und umgekehrt. Daraus ergab sich einiger Aufschluss für die Methode der mentalen Funktions- oder Gestaltanalyse sowie über das analytische und synthetische Vermögen des Menschen. Im Resultat wurde die klassische Dichotomie bestätigt. Die linke Hemisphäre analysiert diachron-sequentiell, die rechte fasst synchronganzheitlich zusammen.

Wenn die mentale Funktion, wie wir aus Abb. 17 herauslesen (Patientengruppe b, die wesentlich mehr Anstrengungen, genauer: Augenbewegungen zur Dekodierung des Bildes aufbringen muss), jedoch gestört ist, dann wird die neuronale Verarbeitung und die mit ihr korrespondierende Handlung gezwungen, bildanalytisch auf die Suche zu gehen, weil ihr die dargebotenen Bildmuster nicht eindeutig scheinen. Und in dieser Situation treten die schon erwähnten sog. Spiegelneuronen („mirror neurons“) in Aktion, Hirnnervenzellen, die nur dafür da sind, die Handlungen des Gegenübers abzutasten, zu reflektieren, zu spiegeln. Sie sind eng mit dem Sprachproduktionszentrum der Großhirnrinde verknüpft und werden aktiv, wenn wir Handlungen beobachten, Bewegungsmuster wahrnehmen: Wir begreifen diese offensichtlich, indem wir sie auf die eigenen im Gehirn gespeicherten Muster projizieren, sie sozusagen schon in Ansätzen nachvollziehen (Krischke 2000; Bauer 2006). Das sind Ergebnisse eines bahnbrechenden Forschungsgebiets, das vor wenigen Jahren von dem US-Neurologen Ramachandran und der Universität Parma eröffnet wurde und inzwischen bundesdeutsche Forscher in Spannung versetzt. Diese Forschungen könnten auch die neurologisch-gestaltrekonstruktiv orientierte Kunsttherapie revolutionieren.


Abb. 17: Augenbewegungen von gesunden (a) und hirngeschädigten (b) Patienten bei dem Betrachten eines Bildes von Ilja Repin „Die unerwartete Rückkehr“ (Lurija 1992, 219)

Matthias Wais hat in seinem Buch „Neuropsychologie für Ergotherapeuten“ (1987) Behandlungsstrategien für Rechtshirn- und Linkshirngeschädigte ausgearbeitet: Die grundlegende Strategie heißt: „Neuaufbau“ und „funktionale Reorganisation“ der Leistung. Beim rechtshirngeschädigten Menschen müssen die raumrekonstruktiven Elemente, beim linkshirngeschädigten die Details und die Sequenzen regeneriert oder wieder konstituiert werden. Und gerade in der Behandlung von rechtshemisphärischen Störungen der Raumwahrnehmung liegen praktikable, ästhetisch-bildnerische Erfahrungen vor (Wais / Köster-Wais 1986, Hügel 1987, Marr 1995, Menzen / Brandenburg 1999; Linke 2006, Schmidbauer 2004).

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