Weihnachten

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Die Geburtsgeschichte

Damit kommen wir endlich zur Geburtsgeschichte selbst (Lk 2,1–21). Lukas hat viel (wenn auch letztlich vergeblich) für die Datierung des Jahres getan, aber nichts für den genauen Tag. Die gesamte Ausmalung der Szene mit den Hirten auf den Feldern spricht für alles andere als den heutigen Feiertermin am 25. Dezember, zu dem es selbst in Palästina zu kalt ist, um sich draußen aufzuhalten. Lukas schweigt einfach und lässt stattdessen wieder einmal einen Engel auftreten, nicht Gabriel, sondern einen Ungenannten, der aber offenbar genügt, um die Hirten so sehr zu erschrecken, dass sie beruhigt werden müssen: »Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteilwerden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Christus, der Herr« (Lk 2,10 f.). Worauf der Engel auch noch sagt, wo sie das Kind finden können: nämlich bei seinen Eltern, in Windeln gewickelt in einer Krippe. Daraufhin verwandelt sich die Szenerie in eine große Oper – ein himmlisches Heer tritt auf und jubiliert: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens« (Lk 2,14). Die Hirten laufen also los, finden alles wie angekündigt und berichten darüber denen, die sie anschließend treffen. Ende der Geburtsgeschichte.

Sind wenigstens in diesem Fall die Details stimmig? Ja, durchaus, es gibt keine Widersprüche. Dafür wie immer Vorbilder. Die Krippe bzw. den Futtertrog im Stall hat Lukas eingeführt, um einen größtmöglichen Gegensatz von weltlichem Herrscher und Gottessohn zu erzeugen, auch im Hinblick darauf, dass der Erlöser keine »Herberge« findet, vielmehr in der jüdischen Umgebung abgewiesen wird. Die Windeln stehen für die ganz normale Geburt, der Erlöser ist eben nicht vom Himmel gefallen oder sonst wie »geschaffen«, sondern wirklich Mensch geworden, braucht Windeln wie jedes Kind. Und die Hirten? Hirten gehörten nach der damaligen Sozialleiter auf die unterste Stufe, zählen also zu Lukas’ Lieblingen. Sie sind offenbar befähigt, das Ereignis zu verstehen – nach entsprechender Ansprache von oben. Wenn man zusätzlich bedenkt, dass Lukas ein gebildeter Hellenist ist und für den vielleicht noch gebildeteren Theophilus schreibt, könnte man daran denken, dass er die Szene mit einem literarischen Kolorit ausstatten wollte, das nahelag. Als Vergil in der vierten Ekloge seiner Hirtengedichte die Geburt eines Herrschers ankündigte, der ein Goldenes Zeitalter einleiten wird, ist die Umgebung ebenfalls »bukolisch« geprägt, spielt also im Hirtenmilieu, weil Goldenes Zeitalter und Einfachheit zusammengehören – als Gegenbild zu den Zivilisationsexzessen im hochentwickelten Römischen Reich.

Andererseits bewegt sich Lukas ganz in der Tradition des Alten Testaments, wenn er den Hirten ein »Zeichen« geben lässt, wie es immer bei besonderen Anlässen der Fall war. Man kann ihm höchstens vorwerfen, dass er bei der Szenerie noch nicht an Ochs und Esel dachte, die später hinzuerfunden wurden, weil sie perfekt zu einer Vorausdeutung beim Propheten Jesaja passen: »Der Ochse kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn; Israel aber hat keine Erkenntnis, mein Volk hat keine Einsicht« (Jes 1,3). Lukas fährt fort mit dem, was nach einer Geburt im Judentum gesetzesgemäß notwendig ist: mit der Beschneidung und Reinigung – davon war schon die Rede. Bei dieser Schilderung wird wieder einmal deutlich, dass Lukas sich in den jüdischen Gebräuchen schlecht auskennt. So spricht er von »ihrer« Reinigung im Plural, obwohl nach dem jüdischen Recht nur die Frau dieser Reinigung nach der »unrein« machenden Geburt bedarf – im damaligen griechischen Recht sind es übrigens wirklich beide. Und auch das bei der Reinigung übliche Opfer (zwei Tauben statt des Lamms, das Reiche darzubringen hatten) scheint Lukas mit dem weiteren Opfer von fünf Schekeln durcheinanderzubringen, die dazu dienten, den Sohn bei der Darstellung »auszulösen«, weil jede männliche Erstgeburt ansonsten zum Dienst im Tempel bestimmt war.

Aber es kam Lukas offenbar bei der ganzen Prozedur ohnehin weniger auf die jüdischen Bräuche an als auf ein dabei sich vollziehendes Ereignis, das wieder einmal perfekt ausgedacht sein dürfte. Es taucht nämlich der greise und blinde Simeon auf, dem der Heilige Geist versprochen hatte, er werde vor seinem Tod den Messias sehen. Simeon erkennt das Kind trotz seiner Blindheit sofort, lobt Gott wieder in einem berühmten Lobgesang (dem Nunc dimittis, ›Nun, Herr, entlässt du mich in Frieden‹, ebenfalls einer Collage aus dem Alten Testament, speziell aus dem Propheten Jesaja) für die Erfüllung des Versprechens und kündigt der verdutzten Maria das einstige bittere Ende an. Auch die greise Prophetin Hanna, die sich täglich im Tempel aufhält, kommt hinzu und versteht, was hier vorgeht. Rembrandt hat die eindrucksvolle Szene mehrfach als Motiv gewählt, weil ihn offenbar die Darstellung des Blinden reizte.


Rembrandt van Rijn: Simeon mit dem Jesusknaben auf dem Arm, um 1661

Dann springt Lukas zu zwei Ereignissen, die schon weit von der Geburt entfernt liegen. Zuerst schildert er den spektakulären Auftritt des zwölfjährigen Jesus im Tempel, der plötzlich verschwunden ist und den die besorgten Eltern dabei wiederfinden, wie er die »Alten« belehrt – und die Eltern wegen ihrer verständlichen Sorge einigermaßen derb zurechtweist. Der nächste Abschnitt behandelt dann die Taufe durch Johannes im Jordan mit ungefähr dreißig, und zwar ganz nach Markus unter Mitwirkung des Heiligen Geistes, der aus dem sich öffnenden Himmel in Gestalt einer Taube herabkommt, wozu eine Stimme sagt: »Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden« – was direkt aus dem Propheten Jesaja (Jes 44,1) stammt, wo es auf Israel, den »Gottesknecht«, gemünzt ist. Diese Passage ist immer eng mit einer anderen Stelle in Verbindung gebracht worden, nämlich mit der Formulierung »Mein Sohn bist du. Ich selber habe dich heute gezeugt« aus Psalm 2,7 – möglicherweise überhaupt die ursprüngliche Version. Immerhin beginnt die Kirche nach Ausformung der Liturgie in der Spätantike die Mitternachtsmesse von Weihnachten mit diesem Psalmvers. Nicht zufällig. Denn dem Geburtsfest, das wir heute so selbstverständlich mit Weihnachten als der Geburt des Menschen Jesu verbinden, ging einmal ein ganz anderes Geburtsfest voraus, dem die Vorstellung zugrunde lag, dass die eigentliche, nämlich göttliche Geburt Jesu mit der Taufe zustande kam. Dies wird uns noch näher beschäftigen.

Wie lässt sich ein knappes Fazit ziehen? Ich versuche es so: Lukas hat sich die Geburtsgeschichte ausgedacht und dem ihm vorliegenden Stoff hinzugefügt. Sie ist nach literarischen Kriterien überzeugend, ja »schön« konstruiert, aber nicht wirklich »richtig«. Darüber sollte man sich nicht wundern, weil es um Richtigkeit ohnehin nicht geht. Von heute her gesehen müsste man betonen, dass Lukas nicht einfach ein Idyll bietet. Personen und Ereignisse stammen eigentlich alle aus dem Fundus des Alten Testaments. Die gesamte Geburtsdarstellung läuft auf diese Verbindung hinaus. Wenn man sich Theophilus als ersten Leser vorstellt, lag darin wohl ein äußerst wichtiger Punkt. Noch wichtiger aber: Dieser Jesus war Gottes Sohn. Sein Auftreten hat wirklich stattgefunden, ist (wenn auch nicht widerspruchsfrei) datierbar – für Theophilus vermutlich ebenfalls von erheblicher Bedeutung. Der lange Vorspann vor dem dann folgenden »eigentlichen« Evangelium hat sich also gelohnt.

Man möchte sich ausmalen, wie es Lukas dabei zumute war, dem Erfinder, der sich als Chronist ausgab. Hatte er Skrupel, weil er letztlich nicht die Wahrheit sagte? Oder ist das wieder eine neuzeitliche Vorstellung? Glaubte er überhaupt, dass Theophilus ihm das Mythologische als historisch abnahm? Oder war er eher stolz darauf, ein Stück Mythologie geliefert zu haben, das die wirklichen Tatsachen perfekt in Szene setzte? Niemand weiß es.

Matthäus

Dabei hat Lukas einiges nicht erzählt, ohne dessen Kenntnis die heutige Weihnachtsfestzeit nicht vorstellbar ist: Weder die Anbetung der Heiligen Drei Könige noch der betlehemitische Kindermord kommen bei ihm vor. Es hat also einen zweiten Geschichtenerfinder im Zusammenhang mit Weihnachten gegeben, einen von Lukas unabhängigen. Dies war der Evangelist Matthäus, nicht zu verwechseln mit dem Apostel Matthäus, der in der frühen Kirche allerdings auch als Verfasser des Evangeliums angesehen und aus diesem Grund immer als der erste Evangelist den anderen vorangestellt wurde – sozusagen als Berichterstatter aus erster Hand. Aber auch dieser Evangelist bezieht sich viel zu stark auf Markus, um als selbständig gelten zu können. Natürlich hat man sich auch bei ihm gefragt, ob er zunächst Jude oder Heide war. Weil er nicht nur das Alte Testament sehr gut kennt, sondern auch die jüdischen Traditionen und nicht zuletzt verhältnismäßig schlechtes Griechisch schreibt, hat man ihn mehrheitlich als ursprünglichen Juden angesehen. Dabei ist auch Matthäus ein Befürworter der Völkermission, er könnte in Syrien bzw. der Hauptstadt Antiochia mit ihrer hellenistischen Umgebung gelebt haben. Auf jeden Fall schrieb er ungefähr zur gleichen Zeit wie Lukas, also nach 70, dem Jahr der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Römer, was Matthäus ausdrücklich als gerechte Strafe für den »Mord« an Jesus ansah – vom ausgeprägten Antijudaismus gerade dieses Evangelisten war schon die Rede.


Theoderich von Prag: Der Evangelist Matthäus, 1360–64

Einen Hinweis auf das Programm, das Matthäus mit seinem Evangelium verbindet, kann man der Überschrift entnehmen, wo die Rede ist vom »Buch des Ursprungs Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams«. Darin liegt zunächst einmal eine Imitation des Alten Testaments, wo das 1. Buch Genesis ebenfalls eine »Liste der Geschlechterfolge« von Adam bis Noah bietet. Matthäus aber kommt es auf Jesus an, den Erlöser, und er verortet ihn geradezu programmatisch in der Tradition des Judentums mit David als erstem König und Abraham als Ahnherr der Israeliten. Dann folgen in einer Liste die Söhne Abrahams im Einzelnen, auch vier Ehefrauen. Das Ganze endet (nach dreimal vierzehn Generationen) bei Josef, dem »Mann Marias; von ihr wurde Jesus geboren, der der Christus genannt wird« (Mt 1,16). Klar, dass die Stelle heikel werden musste, als es um die Unterbringung der Jungfrauengeburt ging. Die Lesarten türmen sich förmlich, im 4. Jahrhundert bietet der wichtige (weil älteste) Codex Sinaiticus die Formulierung: »Josef, mit dem verlobt war Maria, die Jungfrau, zeugte Jesus«, worauf nicht folgt: »Sie wird einen Sohn gebären«, sondern: »Sie wird dir einen Sohn gebären«. Das Entscheidende war für Matthäus offenbar, dass Jesus über Josef von David abstammt. Weil dies an der Zeugung durch den Heiligen Geist zu scheitern drohte, ist er der Namengeber von Jesus – das musste genügen. Jesus war damit Davidide, worauf alles ankam.

 

An dieser Stelle lohnt ein vergleichender Rückblick auf Lukas, der genau wie Matthäus einen Stammbaum Jesu bietet, aber mit starken Abweichungen (nur zwischen Abraham und David stimmen die Namen überein, danach kaum noch). Lukas bringt die Liste nicht gleich zu Beginn im Zusammenhang mit der Geburtsgeschichte, sondern trägt sie später nach, ehe Jesus nach seiner Taufe in Galiläa zu wirken beginnt. Es handelt sich in diesem Fall nach römischer Tradition um eine aufsteigende Liste der Vorfahren von Josef, die bis zu Adam geführt wird. Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass Lukas Josef gewissermaßen aus der Schusslinie nimmt. Von Jesus heißt es: »Er galt als Sohn Josefs« – Punkt. Für Lukas steht eben Maria im Mittelpunkt, nicht Josef. Wer gibt Jesus bei Lukas den Namen? Eben nicht wie bei Matthäus Josef, sondern Maria. Und wo liegt sonst noch ein wichtiger Unterschied? Bei Lukas sieht die Ausweitung bis Adam so aus, als wolle er damit den universalen Aspekt des Auftretens von Jesus unterstreichen. Bei Matthäus hat man demgegenüber den Eindruck, er wolle Jesus als Juden darstellen, der aus der jüdischen Geschichte heraus die Wende brachte.

Genau dies bestätigt sich in einem noch viel wichtigeren Punkt. Wir wissen schon, dass die Autoren des Neuen Testaments die Beglaubigung ihrer Erzählung auf die Verbindung mit dem Alten stützen. Niemand geht dabei so systematisch und vor allem so offen vor wie Matthäus. Lukas montiert Alttestamentliches ein wie etwa beim Magnificat. Matthäus nennt dagegen ausdrücklich die Stellen, die sich als Voraussage deuten lassen. In der Geburtsgeschichte sind es insgesamt fünf solcher Erfüllungszitate, alle in entscheidendem Zusammenhang. Und alle besagen: Diese Geschichte, die im Folgenden erzählt wird, wurzelt in einer anderen, höchst bedeutsamen, nämlich in der Geschichte des jüdischen Volkes, wie sie dessen Heilige Schriften fixiert haben. Dieser Jesus ist genau der Messias, der angekündigt war, Punkt für Punkt seines Auftretens lässt sich mit den Aussagen des Alten Testaments abgleichen.

Nehmen wir zunächst Betlehem, den Geburtsort, den auch Lukas nennt, aber mit der Volkszählung in Verbindung bringt. Was sagt Matthäus? Er zitiert den Propheten Micha bzw. lässt sogar ganz Unabhängige, nämlich die jüdischen Experten des Herodes, bei dessen Suche nach dem Kind aus Micha zitieren: »Du, Betlehem im Gebiet von Juda, bist keineswegs die unbedeutendste unter den führenden Städten von Juda; denn aus dir wird ein Fürst hervorgehen, der Hirt meines Volkes Israel« (Mt 2,6). Das Zitat stimmt ungefähr, bei Micha heißt es genau: »Aber du, Betlehem-Efrata, bist zwar klein unter den Sippen Judas, aus dir wird mir einer hervorgehen, der über Israel herrschen soll […] Er wird auftreten und ihr Hirt sein in der Kraft des Herrn, in der Hoheit des Namens des Herrn, seines Gottes« (Mi 5,1–3). Nur muss man auch den Kontext berücksichtigen. Micha, ein Zeitgenosse des bedeutenderen Propheten Jesaja, versucht, seinen Stammesgenossen Mut zu machen angesichts der anrückenden Assyrer. Angekündigt ist also ein Heerführer, der zusammen mit seinen Leuten Assur »mit dem Schwert weiden« und damit das eigene Land retten werde. Zwar ist auch von »Frieden« die Rede, aber einem Frieden durch das Schwert.

Die zweite Vorausdeutung – sie geht der gerade behandelten im Text voran – betrifft die wichtige Jungfrauengeburt. Matthäus fällt ja anders als Lukas wirklich mit der Tür ins Haus, beginnt die »Geburtserzählung« mit der eingetretenen Schwangerschaft. Weil Matthäus aber nun einmal Josef im Visier hat, berücksichtigt er die Gedanken, die sich dieser Josef machen müsste, der genau weiß, dass er mit Maria nicht geschlafen hat, aber es plötzlich mit einer Schwangeren zu tun bekommt. Es erscheint ihm im Traum ein Engel und informiert ihn über die himmlischen Umstände, so dass Josef Maria »zu sich nehmen« kann, ohne sie weiter zu »erkennen«. Will sagen: Josef muss die Schwangere nicht verstoßen, schläft aber auch nicht mit ihr – vorläufig, denn bei Matthäus hat Jesus später Brüder (Mt 12,46 f.) bzw. Brüder und Schwestern (Mt 13,55 f.), die nicht vom Heiligen Geist stammen. Hier jedoch geht es um Jesus, den der Heilige Geist gezeugt hat. Und so beruft sich Matthäus auf »den Propheten«, wobei jeder wusste, dass Jesaja gemeint war: »Siehe: Die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären und sie werden ihm den Namen Immanuel geben, das heißt übersetzt: Gott mit uns« (Mt 1,23).

Zugrunde liegt die Jesajastelle (Jes 7,14), die Matthäus nach der Septuaginta zitiert, die tatsächlich an dieser Stelle das griechische Wort parthenos verwendet, das sowohl ›junge Frau‹ als auch ›Jungfrau‹ bedeuten kann. Im hebräischen Text steht dagegen das eindeutige almah für ›junge Frau‹, nicht das ebenfalls eindeutige betulah für ›Jungfrau‹. Das Wort almah wird zum Beispiel im Hohen Lied, einem der bekanntesten Texte des Alten Testaments, verwendet und bezeichnet dort Königinnen und Konkubinen, die ganz sicher keine Jungfrauen waren. Man kann so gesehen von einer Ungenauigkeit der Übersetzung oder schärfer von einem Übersetzungsfehler sprechen. Übrigens enthalten die jüdischen Neuübersetzungen des Alten Testaments ins Griechische nach dem von ihnen empfundenen Skandal der fortschreitenden »Christianisierung« der Septuaginta an dieser Stelle das Wort neanis, das eindeutig ›junge Frau‹ bedeutet. Noch Luther hat dagegen die ›Jungfrau‹ zäh verteidigt. Das Gespräch mit Rabbinern über die Jesajavoraussage brach er gekränkt ab, als die Rabbiner seiner Verteidigung der Jungfrau nicht folgen wollten – nach einer Anekdote wollte er den Juden 100 Gulden zahlen, falls bei Jesaja wirklich nur eine »junge Frau« gemeint sei.

Aber die Sache ist letztlich noch dramatischer. Das Zitat bezieht sich wie beim Zitat von Micha auf die äußerst kritische Bedrohung Israels durch die Assyrer, wobei der Prophet Jesaja seinem König Ahas Mut machen wollte, auf Jahwe zu vertrauen und auf jeden aktiven Widerstand zu verzichten, um keinen Anlass zu einer Racheaktion zu bieten. Jahwe selbst wendet sich an Ahas, dass er sich ein tröstendes Zeichen erbitten solle. Als der sich unentschlossen zeigt, nennt Jahwe selbst dieses Zeichen: Eine junge Frau – das Judentum kennt keine Jungfrauengeburt – werde den Retter Immanuel gebären, und er beschreibt weitere Zeichen, an denen er zu erkennen ist, zum Beispiel dass er Butter und Honig essen werde.

Die nächste Vorausdeutung bezieht sich auf die Flucht der Familie nach Ägypten aufgrund der Verfolgung durch Herodes. Josef ist auch hier wieder – nach entsprechender Aufforderung im Traum – der Protagonist, denn er ist es, der in der Nacht aufstand und »mit dem Kind und dessen Mutter« nach Ägypten flieht, ehe er nach dem Tod des Herodes – wieder nach einem Traum und wieder mit der Familie – nach Nazaret zurückkehrt. Da hakt Matthäus ein und zitiert erneut einen Propheten, der das schon vorher wusste: »Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen« (Mt 2,15). Der Prophet ist in diesem Fall Hosea, der im 8. Jahrhundert im Nordreich wirkte, als sich das jüdische Volk trotz der politischen Bedrohung immer wieder von Jahwe abwandte. Übrigens macht Matthäus in seinem Zitat aus »Söhnen« einen »Sohn«, um damit die Voraussage zu gewinnen.

Fügen wir noch kurz die letzten beiden Voraussagen hinzu. Beim von Herodes angeordneten Kindermord in Betlehem heißt es: »Ein Geschrei war in Rama zu hören, lautes Weinen und Klagen: Rahel weinte um ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn sie waren nicht mehr« (Mt 2,18). Dies bezieht sich auf den Propheten Jeremias (Jer 31,15), der in den Zeiten der Babylonischen Gefangenschaft seinem Volk neuen Mut zu machen versucht. Dazu gehört die Erinnerung an die Verschleppung nach Ägypten, als Rahel, die Lieblingsfrau von Jakob, ihre Kinder beweinte – in Rama nahe Betlehem, wo das Grab der Rahel verehrt wurde. Dabei muss man berücksichtigen, dass es in diesem Fall nicht um Morde ging, vielmehr um Verschleppung, die der Prophet deswegen als Referenz heranzog, um zu betonen, dass diese einst Verschleppten im Triumph zurückkehren sollten. Genau damit wollte er die neuerlich Verschleppten trösten, die von den Assyrern übrigens vor ihrem Abtransport nach Babylon in Rama gefangengehalten worden waren. Über die letzte und schwächste Erfüllungsvoraussage im Zusammenhang mit Jesus als »Nazarener«, die sich nirgendwo finden lässt, wurde schon gesprochen.

Um zusammenzufassen: Keine einzige Vorausdeutung erfüllt Kriterien, die man nach moderner historisch-kritischer Methode an eine solche stellen muss. Dafür sind sie zu sehr aus dem Zusammenhang gerissen, entstellt, ja beruhen auf Übersetzungsfehlern. Aber es gibt eben auch eine andere Perspektive. Wenn man nicht so genau hinsieht, erscheinen die Ereignisse des Neuen Testaments aufgrund ihrer Spiegelung im Alten in einem reizvollen Licht, voller Bezüge, die immer nur eines andeuten: dass Gott in dieser Welt handelt. Wer auch noch glaubt, dass dieser Gott seinen Sohn als Erlöser der Welt geschickt hat, kann nicht davon ausgehen, dass sich dieses Ereignis unangekündigt, unkommentiert, einfach nur »historisch« vollzog. Es muss in ein Gewebe von Zeichen gehüllt sein, die sich mit etwas Mühe entdecken lassen. Eine Jungfrau gebiert den Sohn Gottes – wer fragt da nach den genauen Umständen? Matthäus tut es nicht, weil er nicht an Zufälle glaubt, wo es um etwas so Wichtiges geht. Und was ist wichtiger als diese alles ändernde Geburt?

Matthäus versucht, die Glaubwürdigkeit also anders als Lukas zu erzielen. Er vertraut auf die Voraussagen, weil er ohnehin die Jesus-geschichte in die Geschichte Israels eingebettet sieht. Im Übrigen arbeitet er nicht mit einer historischen Datierung, der dann eine idyllische Schilderung mit Hirten fern jeder historischen Wirklichkeit folgt, sondern bietet eine durch und durch »historische« Szenerie mit realistischen oder durchaus realistisch wirkenden Akteuren.