Mein Lebensglück finden

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Der Ausgangspunkt des menschlichen Lebens ist also die befruchtete Eizelle, in der bereits der ganze genetische Lebensplan für die körperlichen und psychischen Strukturen enthalten ist. Deshalb wird diese erste Lebenszelle mit Recht „omnipotent“ (allmächtig) genannt. Denn in dieser winzigen befruchteten Zelle sind alle Anlagen und menschlichen Potentiale, die durch das spätere Leben gefördert oder behindert werden können, vorhanden; und zwar ohne Trennung von Körper und Psyche, von Sensorik und Motorik. Aus dieser Sicht ist es gar nicht verwunderlich, dass die Schlüsselpositionen sowie die grundlegenden Lebensgefühle vieler Menschen schon bei der Zeugung durch die Einstellung und die Beweggründe von Mutter und Vater wesentlich beeinflusst werden.

„Entscheidend für den Einfluss eines Erlebnisses auf unsere psychosoziale Entwicklung ist die Möglichkeit des Abgleichs mit einer Art ‚Erfahrungs-Pool‘. Wenn uns ein Kellner im Restaurant flegelhaft behandelt, können wir dieses Erleben mit anderen, positiven Erfahrungen vergleichen und das Verhalten als ‚unverschämt‘ klassifizieren. Die Begegnung wird in der Regel keinen Tumult in unserer Seele hinterlassen, wir werden erhobenen Hauptes das Restaurant für immer verlassen.

Je jünger ein Mensch ist, desto weniger Vergleichsmöglichkeiten hat er oder sie in seinem ‚Erfahrungs-Pool‘. So kann ein Kleinkind die wütende Mutter nach der fünften verschmutzten Hose am Tag einordnen, auch wenn es erst eine tränenreiche und verzweifelte Irritation gibt. Erfahrungsgemäß glätten sich die Wogen bald – und die liebevoll-in-den-Arm-nehmende Versöhnung ist quasi vorprogrammiert.

Ganz anders ist das Erleben des intrauterinen Kindes, das noch keine ausreichenden Vergleichserfahrungen hat, um Irritationen oder gar Krisen einzuordnen. Bei einer schwangeren Mutter, die raucht, geht es keineswegs nur um Gifte und Gase – es geht für das Kind um die erschütternde Erfahrung, dass sich das schützende und nährende System Plazenta plötzlich in ein bedrohliches, Erstickung bringendes Organ verwandelt. Damit ist nicht gesagt, dass alle Kinder rauchender Mütter seelische Probleme haben werden. Jedes Kind wird auf seine Weise lernen, mit dem Erlebten umzugehen und es einzuordnen. Es kann auch sein, dass die Mutter an die krisenhafte Erfahrung ein positives Signal der Liebe, der Zuwendung, des Mitgefühls und des Bedauerns koppelt und bedauert, dass sie das Rauchen während der Schwangerschaft nicht eingestellt hat, weil sie ihre Sucht nicht beherrschen konnte. Dennoch wird die körperliche Erfahrung während der Schwangerschaft beim Kind abgespeichert und somit lebenslang Einfluss haben – und sei es in Form einer Sucht. Dabei gilt der Grundsatz: Je früher das Erleben, desto geringer ist der ‚Vergleichs-Pool des Kindes, und desto tiefer der emotionale Eindruck der Spur im Lebensweg. (…) So sind ganz frühe intrauterine Erfahrungen als besonders gravierend anzusehen, weil sie wie eine Grund-Matrize, eine Art Urerfahrung das Leben beeinflussen, wie die Tonart einer Sinfonie. Natürlich gibt es dort mal immer wieder strahlendes Dur, aber die Grundtonart ist möglicherweise bitteres Moll“ (Hildebrandt, 2015, 12f.).

Diese Beobachtungen kann ich aus der Arbeit mit den Lebensskripts bestätigen. Wenn Menschen von Anfang an abgel ehnt werden, z.B. mit dem Schlüsselwort „nicht gewollt“, „lebendig begraben“, „weggetreten“ oder „totgewünscht“, wenn sie Abtreibungsversuche überlebt haben, dann verhalten sie sich in der Schule und als Erwachsene oft wie Abgelehnte und Weggewünschte und übertragen Grundgefühle von Ablehnung, Minderwertigkeit sowie Urmisstrauen auch in Beruf und Alltag. Sie trauen sich selbst wenig zu, verfallen in depressive Verstimmungen, haben wenig Lebensenergie, leben mehr passiv und ziehen sich zurück. Ihr Grundgefühl ist und bleibt „Ich bin nicht lebenswert, ich muss mir mein Leben immer wieder verdienen, ich bin ein ‚Loser‘, ein existentieller Versager“, letztlich versagen sie sich selbst ihr Leben.

Und dieses negative Grundgefühl inszenieren sie immer wieder unbewusst im Alltag, besonders wenn sie gestresst, unüberlegt und emotional, also „kopflos“ handeln. Oft genügt schon eine harmlose Ablehnung, die dann aber als existentielle Lebensbedrohung empfunden wird. Wenn die Betroffenen ihre „traumatische, emotionale Grundtendenz“ kennen, sich damit auseinandergesetzt und sie therapeutisch bearbeitet haben, wird zwar das negative Grundgefühl der frühen Kindheit bleiben und wiederkommen. Aber sie können lernen, reflektierter und konstruktiver, der realen Situation entsprechend, damit umzugehen. Dann wird das negative Lebensgefühl seine lebensbedrohende Macht verlieren. Allerdings ist die Grundvoraussetzung, dass sie zu ihrem Leben Ja gesagt und entsprechende Lebensweisen gefunden haben.

Das kann sich auch in weniger auffälligen Verhaltensweisen ausdrücken: Wenn nicht-gewollte, abgelehnte Menschen in eine neue Gruppe kommen, bleiben sie oft zuerst stehen, setzen sich dann zögernd allein, schauen nach unten, die Hände im Schoß haltend und wenn die Runde komplett ist, rücken sie meist mit ihrem Stuhl etwas zurück. Das kann auch noch dann geschehen, wenn sie um dieses Verhalten wissen. Ihre Grundangst ist und bleibt unbewusst, abgelehnt zu werden.

Bei Menschen, die in einer Vergewaltigung gezeugt worden sind, außerhalb oder in der Ehe, durchzieht das Thema „Gewalt“ ihr Leben wie ein roter Faden. So kann es sein, dass sie selbst gewalttätig und in den verschiedensten Varianten auffällig werden: in Formen von beißendem Sarkasmus und stechender Ironie über Mobbing in der Schule oder am Arbeitsplatz, in sadomasochistischen sexuellen Spielen bis hin zu Tötungsdelikten.

Die Grundangst kann sich auch zu einer „Gewaltphobie“ entwickeln, die jeder Form von Aggression ausweicht und jeden Konflikt vermeidet und verurteilt. Gewaltphobie kann zu einer Weise von „Harmonisierung“ führen, die der Wirklichkeit nicht angemessen ist. Sie kann auch ideologisch zu einem falsch verstandenen „friedfertigen Verhalten“ führen, das Gewalt als Gegenreaktion provozieren kann.

Die pränatalen Forschungen zeigen, dass das Kind in der Zeit der Schwangerschaft bereits ein aufmerksamer Mensch ist, der sehen, hören, erleben und sogar ein wenig lernen kann. Vor allem kann das Ungeborene fühlen und sich erinnern. Von der Zeugung an werden alle positiven und negativen Ereignisse in irgendeiner Weise gespeichert und sind im späteren Leben abrufbar. Zwar können die direkten und indirekten Interaktionen der Mutter mit dem Embryo nach der Zeugung noch nicht als Fakten wahrgenommen werden, aber sie zeigen schon Wirkung. So bestätigt die Arbeit mit dem Lebensskript, dass es sich z.B. positiv oder negativ auswirkt, je nachdem ob Vater und Mutter sich ein Kind wünschen oder es ablehnen oder wie gut die Beziehung der Eltern ist. Negativ wirken sich Gewalteinwirkung, Ablehnung, Angst, Unsicherheit oder die Erfahrungen eines Nein zum Leben aus, die sich dann häufig im Erwachsenenleben wiederholen. Das Ungeborene reagiert aber nicht nur auf starke Emotionen wie Ablehnung (weg- oder totgewünscht) oder liebevolle Annahme. Die Gemütserregungen der Mutter, wie Angst, Ärger, Stress, Depressionen oder Wutausbrüche (auch laut streitende und schreiende Eltern) wirken sich durch entsprechende Hormonausschüttungen über die Plazenta auf das Ungeborene aus. Dasselbe geschieht, wenn sich z.B. der Herzschlag der Mutter beschleunigt.

In der „empathischen Kommunikation“ nimmt das Ungeborene auch Gefühle der Mutter wahr, die keine biologische Ursache haben wie Gelassenheit, Liebe, Gefühlskälte, Gleichgültigkeit. Man kann heute nachweisen, dass glückliche und lebensbejahende Frauen eher lebensfrohe, aufgeweckte und unternehmungslustige Babys bekommen (vgl. dazu Karasch, 2015, 105ff.).

Bei allem Eigenleben kann sich der ungeborene Mensch aber noch nicht mit den negativen Einflüssen bewusst auseinandersetzen. Er ist ihnen zunächst ohnmächtig ausgeliefert und hat im Mutterleib nur wenige körperliche und psychische Abwehrmöglichkeiten. Deshalb können wir davon ausgehen: Gerade weil der Mensch im Mutterleib ganz von den negativen und destruktiven Ereignissen getroffen wird, wirken sich die frühen Störungen und Verletzungen so tiefgreifend aus. Es entstehen „Grundstörungen“ (Balint), die darüber entscheiden, ob und wie das Kind überlebt.>2

Er sagt: „Der mandelförmige Synapsenkomplex Amygdala und ein Teil des limbischen Systems, der sich paarig in den beiden Schläfenlappen des Großhirns befindet, steht im Mittelpunkt des Interesses der posttraumatischen Forschung. Die Amygdala ist lange bekannt als das Zentrum der affektiven Bewertung. Stark vereinfacht gesagt muss man sich den Mandelkern als eine Art Informationsschleuse vorstellen, durch die sämtliche Sinneseindrücke auf ihrem Weg zur Projektion im Endhirn geschickt werden.

Jede Information, die unsere Sinnesorgane aufnehmen, wird dort mit einer Art ‚affektivem Etikett‘ versehen. Wenn beispielsweise ein romantisch veranlagter Dichter und ein Hersteller von Insektiziden ein und dieselbe Rose betrachten, versieht die Amygdala des ersten die Information mit dem Affekt ‚bezaubernd schön‘, die des zweiten mit ‚ziemlich verlaust‘.

Die Amygdala liefert die berühmte ‚rosarote Brille‘ des Verliebten und versetzt uns für Wochen in einen ‚Liebesrausch‘, der im neuroendokrinen Sinne dem Zustand einer Psychose gleicht.

Unsere Mandelkerne können Sinneseindrücke aber nicht nur ‚einfärben‘ und somit ganz wesentlich unsere Gefühlswelt beeinflussen. Sie sind zugleich in der Lage, die Informationsweitergabe von den peripheren Sinnesorganen zur zentralen Verarbeitung in der Großhirnrinde komplett zu blockieren, um unser bewusstes Erleben vor einer problematischen Reizüberflutung zu schützen.

Am besten untersucht ist die Reaktion des Gehirns auf extreme Belastungen. In Lebensmomenten, in denen wir die Wucht der Sinneseindrücke nicht mehr zu bewältigen vermögen, kommt es in der Amygdala zu einer unser Bewusstsein schützenden Informationsblockade. Dieses Phänomen lässt sich beispielsweise bei schweren Verkehrsunfällen regelmäßig beobachten: Der Patient hat nach dem Überleben der Krise keinerlei Erinnerung an das Geschehen.

 

Dabei bedeutet die Unfähigkeit, auf die Erinnerung zuzugreifen keineswegs, dass die entsprechende Information verloren gegangen ist. Im Gegenteil: Die Erfahrung ist detailgetreu erhalten und gespeichert, jedoch in Hirnarealen, auf die unser Großhirn keine ‚Zugriffsberechtigung‘ hat.

Tatsächlich ist unser Gehirn ähnlich hierarchisch organisiert wie das Speichersystem eines Computers. In der Regel legen wir die Informationen in Repräsentanzen ab, die wir systematisch ordnen können und auf die wir frei zuzugreifen vermögen. Dieses sogenannte ‚explizite Gedächtnis‘ befindet sich in der Großhirnrinde. Die geordnete Zugriffsmöglichkeit auf Erfahrungen und Erlebnisse ist somit ein Merkmal hoch entwickelter Nervensysteme: Wir wissen in der Regel noch, was wir gestern Abend getan haben oder wo wir im Urlaub waren … Wir sind in der Lage, auf den Ordner ‚Gedichte‘ zuzugreifen und fehlerfrei Goethes ‚Osterspaziergang‘ zu rezitieren.

Voraussetzung für das Abspeichern von Informationen im expliziten Gedächtnis ist jedoch, dass diese unsere ‚Zensurbehörde‘ Amygdala erfolgreich passiert haben und von dieser quasi als ‚jugendfrei‘ akzeptiert wurden. Kurz vor dem Zusammenprall mit einem Geisterfahrer verweigert die Amygdala diese Freigabe und stuft die Information des auf uns zurasenden Autos als ‚unzumutbar‘ ein. Die Datenweiterleitung ins Großhirn wird blockiert und der Informationsfluss umgeleitet. Die Sinneseindrücke werden in entwicklungsgeschichtlich älteren Hirnarealen abgespeichert, auf die unser Bewusstsein keinen freien Zugriff hat.

Dieses so genannte ‚implizite Gedächtnis‘ wird landläufig ‚Unterbewusstsein‘ genannt. Die Inhalte dieses verborgenen Speicherplatzes sind keineswegs komplett abgeschottet – im Gegenteil. Das Gehirn versucht lebenslang, die dort abgespeicherten Daten mit unserem Bewusstsein in Kontakt zu bringen. Regelmäßig erleben wir solche Konkretisierungsversuche in unseren Träumen, wo es offenbar zu Brückenbildungen zwischen beiden Gedächtnisrepräsentanzen kommt.

Das bedeutet: Blockierte und im impliziten Gedächtnis gespeicherte Sinneseindrücke sind nicht verloren, sondern nur ‚nicht abrufbar‘. Der Schreckensmoment des Zusammenstoßes mit dem Geisterfahrer ist im Unterbewusstsein erhalten und sucht den auf diese Weise Traumatisierten in blitzartigen Tagträumen regelmäßig heim.

Ähnlich verhält es sich mit den als Kind erlebten sexuellen Übergriffen: Die Erfahrung ist für das Kind so ungeheuerlich, dass die Amygdala dessen Seele zu schützen versucht und die Weitergabe der fürchterlichen Inhalte an das explizite Gedächtnis blockiert. Stattdessen werden die problematischen Sinneseindrücke in subkortikalen Strukturen abgelegt, auf die der inzwischen erwachsen gewordene Mensch nicht zugreifen kann. Es gibt keine Erinnerung an das erlebte Grauen. Aber ein kleiner Moment der Ähnlichkeit mit der damals so schrecklichen Situation – zum Beispiel das Ultraschallgel, was an das Gleitgel erinnert, die achtlose anale Penetration bei einer gynäkologischen Untersuchung – vermag die Schleuse zu öffnen. Der Mensch ‚switcht‘ in die andere Erinnerungswelt, wird quasi wieder zum Kind – er ‚dissoziiert‘.“

Der Begriff „Trauma“ bezeichnet also folgendes Phänomen: „Die Amygdala blockiert die Weitergabe von die seelische Stabilität gefährdenden Sinneseindrücken an das explizite Gedächtnis und leitet diese in subkortikale Strukturen um, wo die problematische Erfahrung lebenslang gespeichert bleibt – geschützt vor gezielten Zugriffen des Bewusstseins, aber durchaus immer wieder mit dem Bewusstsein kommunizierend“ (Hildebrandt, 2015, 8ff.; Gross, 2003).

Die Ergebnisse der pränatalen Psychologie sind für mich und meine pastoraltherapeutische Arbeit insofern von Bedeutung, als sie meine durch Rückschlüsse aus der aktuellen Arbeit mit Problemsituationen gewonnenen Annahmen ergänzen und bestätigen: Die emotionale Schlüsselposition mit der entsprechenden Lebenseinstellung wird bereits in der pränatalen Lebensphase grundgelegt. Die damit verbundenen unbewussten Grundeinstellungen und Lebensgefühle werden im Erwachsenenalter unter ähnlichen Bedingungen und in vergleichbaren Situationen oft unbewusst wiederholt.

Als ich mit meiner therapeutischen Arbeit Ende der 1960er Jahre begann, ist mir besonders in der Begegnung mit Menschen, die in der Zeit des Zweiten Weltkrieges geboren wurden, aufgefallen, wie sehr sich die schwierigen äußeren Lebensbedingungen über die Mutter auf ihr ungeborenes Kind bis in die Gegenwart ausgewirkt haben. Überall war das Leben in der Kriegs- und Nachkriegszeit bedroht durch unzureichende Ernährung, Todesängste bei Bombenangriffen und auf der Flucht, die Nächte im Bunker, Unterwegssein im fremden Land, Vertreibung von zu Hause; Angst um den Mann, Bruder und Vater an der Front, um das eigene Leben und das Leben der Verwandten und Freunde; Unsicherheit – wie wird die Zukunft werden? So wird das Kind im Leib der Mutter oft als zusätzliche Last empfunden, nicht selten ‚weggewünscht‘, weil dann alles einfacher wäre. Diese Gefühle der Ablehnung und die Ängste der Mutter erlebt das Kind mit und speichert sie. Aber auch wenn eine Mutter das Kind unter anderen Umständen ablehnt und eigentlich loswerden will; wenn sie zu viel Alkohol trinkt, raucht, Tabletten oder Drogen nimmt; wenn sie sich in ständigem körperlichem oder seelischem Stress befindet, wirken die damit verbundenen biochemischen und psychischen Negativ-Einflüsse auf den Embryo ein.

Heute nähern sich die verschiedenen Wissenschaften mit ihren biologischen und biochemischen Analysen oder mit ihren Verhaltensbeobachtungen in den Ergebnissen vielfach nur dem, was im Volksglauben alter Kulturen von jeher bekannt war: dass sich Schwangere vor Aufregungen und negativen Eindrücken hüten sollen, weil diese das Kind schädigen könnten. Nach einer indischen und afrikanischen Tradition beginnt die Erziehung bereits nach der Zeugung. Der griechische Philosoph Aristoteles sagte seinen Landsleuten zu diesem Thema: „Schwangere Frauen müssen für ihren Körper Sorge tragen, ihr Gemüt aber sollten sie von Sorgen freihalten, denn das werdende Kind nimmt vieles von der es tragenden Mutter an, wie die Pflanze von dem Erdreich, in dem sie wurzelt“ (zit. nach Rottmann, 84).

Natürlich sind es neben den negativen auch die vielen positiven Einflüsse, die auf das Kind in der pränatalen Zeit einwirken und sich später auswirken werden. „Wenn ein Mensch eine gesunde und liebevolle Atmosphäre während der Schwangerschaft, Geburt und den frühen Jahren erlebt, hat er sehr gute Voraussetzungen, ein gesundes und erfolgreiches Leben zu führen (…). Erlebt ein Baby eine solche positive Umgebung nicht in dieser ersten Zeit, beobachten wir entsprechend einschränkende Entwicklungen“ (Brönner, 55).

Was unsere Frage nach dem glücklichen Leben angeht, kann das Baby in der prä- und perinatalen Phase gar nichts oder nur sehr wenig dazu beitragen, dass sein Leben glückt. Glück und Unglück werden ihm gleichsam „in den Schoß bzw. in die Wiege gelegt“.

In meiner pastoraltherapeutischen Arbeit ist mir immer klarer geworden, welch großen Einfluss die vorgeburtlichen Erfahrungen auch auf die religiöse Entwicklung haben. So spielen die Ablehnung oder liebevolle Annahme durch die Mutter nicht nur bei der Entstehung eines negativen oder positiven Gottesbildes eine Rolle. Sie beeinflussen über das Urvertrauen und Urmisstrauen auch die gesamte Einstellung zum Leben.

2.2. Der Geburtsvorgang als Kampf ums Überleben

Erst in den letzten Jahrzehnten beschäftigt sich die Psychologie mit dem Thema Geburt und Geborensein. Janus macht darauf aufmerksam, dass die Geburt bis ins 20. Jahrhundert als „biologischer Vorgang und als ‚natürliches Ereignis‘ ohne eine psychologische Dimension“ betrachtet wurde“ (Janus, 2012, 220f.). Die hohe Säuglingssterblichkeit, die vielen Fehlgeburten und der Tod vieler Frauen bei der Geburt blockierten den Zugang zu einer emotionalen und inneren Auseinandersetzung mit der Geburt. Im 20. Jahrhundert verbesserten sich nicht nur die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Vor allem die medizinischen Fortschritte schufen eine größere Sicherheit um Schwangerschaft und Geburt und machten den Blick auf die psychologischen Aspekte möglich.

In der Psychotherapie gibt es seit Anfang des 20. Jahrhunderts „einen stetigen Forschungsprozess zur lebensgeschichtlichen Bedeutung der Geburt. Die Forschung vollzog sich nach den Grundlagenbüchern von Otto Rank ‚Das Trauma der Geburt‘ (1924) und von Gustav Hans Graber ‚Die Ambivalenz des Kindes‘ (1924) zunächst im Rahmen der Psychoanalyse (Janus 2000, 230ff.). Hierbei standen die traumatischen Aspekte der Geburt selbst und der Weltenwechsel der Geburt und die kulturpsychologische Verarbeitung der Geburt in Märchen, Mythen und der Kunst im Vordergrund. In den siebziger und achtziger Jahren vollzog sich die weitere Erforschung der Einzelheiten des Geburtsprozesses und der psychologischen Dynamik der Geburt wesentlich im Rahmen der humanistischen Psychologie, insbesondere vorangetrieben von Arthur Janov, Stanislav Grof, William Emerson u. a.“ (Janus, 2012, 222ff.).

Unterdessen wird das Thema Geburt interdisziplinär erforscht. Dabei ist man sich einig, dass mit der Geburt der entscheidende Schritt in die Welt und die Selbstwerdung des Menschen geschieht. Es ist ein zweiter Anfang, denn die Zeugung, „sein pränatales Sein (…) sein generativer Zusammenhang in seiner familialen Geschichtlichkeit und weltlichen Existenz, seine kulturelle, soziale Vorgeschichte und seine biologischen Dispositionen gehen jedem geborenen Mensch voraus. Die Geburt verortet den Menschen als Geborenen in einem mitmenschlichen Zusammenhang auf der Welt. Deshalb bedeutet das Geborensein eine generative Verortung in der Welt“ (Schües, 211).

Geburt „bedeutet auch Bruch und Übergang: Sie unterbricht das Leben derer, denen ein Kind geboren wird, und sie unterbricht die kontinuierliche Entwicklung eines Kindes, das geboren wird und nach der Geburt nicht mehr in der inner-leiblichen Bezogenheit mit der werdenden Mutter zur Welt, sondern auf der Welt ist. Die Geburt bedeutet somit einen Übergang von der intrauterinen Lage hin zur extrauterinen Situation auf der Welt, die notwendig in einer konkreten Beziehungskonstellation gelebt wird“ (Schües, 211). Schües nennt die Geburt eine Grundkonstante des Menschen. „Strukturell bedeutet Geburt immer die Entbindung von jemandem und die Verbindung mit jemandem. Sie führt von der besonderen pränatalen leiblichen Verbindung zur intentionalen Mitgegenwart mit anderen und in eine Mitwelt.“ Das Neugeborene wird angesehen und angeblickt als Junge oder Mädchen, als schön oder hässlich, als gewollt oder nicht gewollt und es kann zurückblicken. So ist Beziehung von Beginn an wesentlich, von der Zeugung an, in der pränatalen Zeit und erst recht bei und nach der Geburt.

Nach den ersten neun Monaten im Mutterleib stellen die relativ wenigen Stunden der Geburt in konzentrierter Form einen Kampf ums Überleben dar. Im Erleben des Fötus ist es ein existentieller Wechsel. Bisher lebte er geborgen im Mutterleib, in einem vertrauten, bergenden und dunklen Schoß. Hier wird er umspült und genährt vom warmen Fruchtwasser. Dieser Raum wird plötzlich zu eng und er wird hinausgepresst in einen Kanal, durch den er hindurchkommen muss: Ein Kampf um Leben und Tod, verbunden mit Todesangst, Verzweiflung und Hoffnung. Der Durchbruch zum Leben kann lange dauern oder sehr schnell gehen. Er gelingt aber nur mit Hilfe anderer Menschen.

Was aber erlebt das Kind, wenn es das Licht der Welt erblickt? Das Leben draußen ist so anders: Statt der vertrauten Dunkelheit grelles Licht, statt des warmen Schoßes kalte Luft; die Nabelschnur, die das Leben automatisch versorgte, wird durchgeschnitten. Das Neugeborene ist allein, muss selbst atmen, sich selbst versorgen. Nicht nur die Wahrnehmung der Welt ändert sich (sehen, hören, schmecken, riechen, fühlen), der gesamte Stoffwechsel, der innere Organismus (Blutkreislauf) und die Körperfunktionen arbeiten nun anders. Die natürliche Befriedigung aller Lebensbedürfnisse im Mutterleib ohne eigenes Dazutun ist beendet.

Der für das Kind wie für die Mutter oft schwierige Geburtsvorgang ist in erster Linie ein Kampf ums Überleben. Aber es ist auch für das Kind ein erfolgreicher Überlebenskampf, an dessen Ende, bei allen Veränderungen und Wechseln, das eigene Leben steht. Deshalb hat eine normal verlaufende Geburt einen großen Einfluss auf das spätere Leben. Allerdings ist es für mich fragwürdig, wenn die Geburt als „Makrotrauma“ im Lebenszyklus des Menschen gesehen wird, „das ungeheure Folgen für die ganze Menschheit hat“ (Gross, 1986, 104). Wohl habe ich in der Arbeit mit Träumen erlebt, wie traumatisch die Geburt für Menschen sein kann, z.B. nach schwierigen und bedrohlichen Situationen und Vorgängen während der Geburt wie Nabelschnurverschlingung, Zangengeburt, Kaiserschnittgeburt, Frühgeburt mit anschließender langwieriger Brutkastenzeit. Hier können Träume eine Rückerinnerung an eine lebensbedrohende Situation bei der Geburt sein (vgl. Käppeli-Valaulta, 83 ff.).

 

Als Beispiel ein typischer Traum: Ein 29-jähriger Mann, bei dem sich die Nabelschnur bei der Geburt um den Hals gelegt hatte, erzählt: Ich „bin in einen Keller geflüchtet, verfolgt worden, sämtliche Ausgänge waren versperrt. Dort fanden sie mich, legten mir eine Schlinge um den Hals und zogen mich heraus, dass ich bald erstickt wäre. Im letzten Moment kamen mir Leute zu Hilfe“ (Gross, 60ff.). Träume mit ähnlichem Inhalt kenne ich aus vielen Lebensgeschichten.

Auch Ängste und Phobien sind oft auf lebensgefährliche Geburtssituationen zurückzuführen. So hatte bei einem Ordensmann, der an Asthma und Anfällen von schwerer Atemnot (besonders vor Predigten) litt, eine Nabelschnurverschlingung vorgelegen. Bei einer 35-jährigen Frau kam ein „tödlicher Hass“ der Mutter in den ersten Lebensjahren hinzu, den sie als „Hals-Zuschnüren“ erlebte. Sie versuchte sich später zu erhängen.

Bei Menschen mit einer langwierigen und schweren Geburt habe ich manchmal eine große Angst erlebt, fallen gelassen zu werden. Diese übergroße Angst zeigte sich in entsprechenden Alpträumen, beim Meditieren, besonders bei Meditationsübungen am Boden, beim Schwimmen im Meer, wenn die Betreffenden den festen Boden unter sich nicht loslassen konnten. Die Angst kann sich zu einer panischen, „bodenlosen Todesangst“ steigern, wenn zu der schwierigen Geburt auch noch die Ablehnung der Eltern hinzukommt, z.B. wenn sie vergeblich versucht haben abzutreiben.

Nicht selten wird dieses ängstliche Misstrauen auch auf Gott übertragen. Eine 50-jährige Ordensschwester wurde von ihrer Mutter von Anfang an abgelehnt, da sie „unehelich“ und damit in den Augen der streng katholischen Umgebung als „Kind der Sünde und Schande“ gezeugt wurde. Da die Mutter Angst hatte, zum Arzt zu gehen, um eine Abtreibung vornehmen zu lassen, stürzte sie sich bewusst mehrere Male die Kellertreppe herunter und beim letzten Sturz kam das Kind als Frühgeburt zur Welt. Die Ordensfrau übertrug ihre negativen Schlüsselerfahrungen unbewusst auch auf Gott. Sie lebte mit der ständigen Angst, dass Gott sie beim „Jüngsten Gericht“ auch fallen lassen und schließlich verdammen würde. Zwar war im Bewusstsein der Ordensfrau das positive Gottesbild vom guten Hirten. Aber die Ängste überfielen sie trotzdem immer wieder so stark, dass sie vor Angst, ins Bodenlose zu fallen, nur aufrecht im Bett sitzend schlafen konnte.

Im Ganzen ist der Geburtsvorgang für das Leben des Menschen also prägend und wichtig. Innerhalb von wenigen Stunden wird der kleine Mensch aus der vertrauten, symbiotischen Verbindung im Schoß der Mutter hinausgestoßen in eine zunächst fremde und erschreckende Kontrastsituation von Kälte und Licht. Das Kind erlebt Getrenntsein, Haltlosigkeit, Verlassenheit, Unsicherheit.

Aber bei all diesen neuen und auch schwierigen Erfahrungen und den damit verbundenen Ängsten erlebt das Kind zum ersten Mal positiv, wie die eigenen Kräfte sich entfalten und am Leben erhalten: Im Atmen, im eigenen Blutkreislauf und Stoffwechsel, in der erweiterten Wahrnehmung durch die Sinne, vor allem im Schreien. So macht das Kind im Geburtsgeschehen unbewusst die wichtige Grunderfahrung, dass der Weg zum eigenen Leben auch immer ein Loslösen, ein Loslassen, ein Weggehen aus einer vertrauten Einheit bedeutet, in diesem Fall ein Verlassen der Ureinheit des Mutterschoßes.

In diesem Zusammenhang ist der Hinweis des Biologen A. Portmann wichtig, dass der Mensch eine Frühgeburt ist. „Aus evolutionsbiologischen Gründen – aufrechter Gang mit Verengung des Beckenausgangs, progressives Hirnwachstum – kommen menschliche Babys 9–12 Monate zu früh auf die Welt. In einer noch uterin geprägten Seelenverfassung müssen sie ihr erstes Lebensjahr als ‚Extrauterines Frühjahr‘ schon außerhalb des Mutterschoßes verbringen (Portmann, 1969). Das hat eine lebensgeschichtliche Prägung in dem Sinne zur Folge, dass Säuglinge nach der Geburt einerseits in der realen Außenwelt sind und sich gleichzeitig seelisch noch in einem mystischen Bezug zur ‚jenseitigen‘ uterinen Welt fühlen. Die Wechselbeziehung zwischen der diesseitigen und der jenseitigen (uterussymbolischen) Welt musste in der Geschichte der Menschheit immer neu balanciert werden“ (Janus, 2012, 223f.; Janus, 2015, 125ff.).

So ist dieses durch die biologische Geburt erkämpfte Leben zunächst mehr ein Überleben. Der Säugling kann alleine noch nicht leben und braucht die intensive Hilfe und Unterstützung der Umwelt, um in den ersten Jahren zu überleben. Es ist deshalb bei uns Menschen notwendig, dass die nähere Umwelt, die Familie des Neugeborenen einen „sozialen Uterus“ schafft, in dem das Kind sich geborgen fühlt und „Urvertrauen“ im späteren Leben entwickeln kann. Die Frage ist, inwieweit heute dieser „soziale Schoß“ z.B. in Patchworkfamilien, in Flüchtlingsfamilien oder bei Alleinerziehenden noch ausreichend gegeben ist.

Inzwischen gibt es viele Ratgeber und Kurse für werdende Eltern, die auf die Geburt vorbereiten. Insgesamt ist man sich einig, dass eine gute und einfühlsame Elternkompetenz für eine gute Entwicklung des Kindes entscheidend ist. Dabei kommt der vorgeburtlichen Beziehung zwischen Mutter und Kind eine basale prägende Bedeutung zu.

Janus weist auf die Wichtigkeit der Prävention hin: „Gerade weil heute die Wissenschaft einig ist, dass dem Zeitraum von der Zeugung bis zum dritten Lebensjahr eine entscheidende, prägende Bedeutung zu kommt, müsste hier die Planung für die Schulen neu ausgerichtet werden, und zwar in dem Sinne, dass psychosoziale Kompetenz gleichrangig neben beruflichen und technischen Kompetenzen stehen müsste.“ Das könnte „zur Verfriedlichung und zur Förderung einer konstruktiven Entwicklung unserer Gesellschaft“ beitragen (Janus, 2012, 231f.).

2.3. Die postnatale Phase als Einübung ins Leben

Nach der physiologischen Geburt ist der Säugling ein leiblich von der Mutter getrenntes Individuum. Die alles Leben versorgende und verbindende Nabelschnur ist durchtrennt. Damit beginnt die psychische Geburt des Menschen, die in einem langen Prozess der Ichwerdung geschieht, der zu einem unabhängigen und selbständigen Leben führen soll. Dieser intrapsychische und schwer zugängliche Prozess der Menschwerdung vollzieht sich nach Erikson vor allem in den ersten Jahren nach der Geburt. Wir betrachten hier insbesondere die erste Phase des Urvertrauens, die zweite Phase der Autonomie und die dritte Phase der Initiative. Dabei ist zu beachten, dass die nachgeburtlichen Grundeinstellungen zum Leben bereits Wiederholungen pränataler Schlüsselerfahrungen sein können, die Erikson kaum berücksichtigt, die aber von Bedeutung für die spätere Entwicklung des Selbstwertgefühls sind. Deshalb ist beim Begriff „psychische Geburt“ mitzubedenken, dass das psychische Leben bereits im Augenblick der Zeugung beginnt und sich in der pränatalen Lebensphase weiterentwickelt.