Aggression - zerstörend oder lebensfördernd

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Mit diesem Verständnis von Aggressionen geht eine einseitige Abwertung einher: Die lebensfördernden und beziehungsstiftenden Seiten der aggressiven Lebenskräfte werden kaum berücksichtigt und gleichzeitig die negativen Aspekte von Sanftmut, Freundlichkeit und Friedfertigkeit ausgeblendet, die zur Harmonisierung und Vermeidung von Auseinandersetzungen und Konflikten führen können.

Und doch konnte man nicht übersehen, dass im Alten Testament häufig vom Zorn Gottes die Rede ist und dass die Propheten sich voll von aggressiven Lebensenergien wie Zorn, Ärger und Eifer leidenschaftlich mit den Feinden Gottes auseinandersetzten. Auch Jesus zeigte ebenso wie Paulus Zorn und Ärger und reagierte aggressiv in der Auseinandersetzung mit den Pharisäern (z. B. Lk 11,37 ff.) und Schriftgelehrten. Dasselbe gilt für den Umgang Jesu mit seinen Jüngern, wenn er z. B. zu Petrus sagt: „Weg mit dir, Satan, geh mir aus den Augen“ (Mk 8,33). Ein weiteres Beispiel ist die Vertreibung der Händler aus dem Tempel (Mk 11,15 ff.). Wie ist diese Aggressivität Jesu mit dem christlichen Vollkommenheitsideal zu vereinbaren? Die Lösung lautete damals: Gegen die Feinde des Glaubens und der Gemeinde sind Ärger und Aggressionen erlaubt, nur intern, untereinander sollen sie ausgeschlossen sein (Klessmann, 17).


5.2.Dualistische Tendenzen

In der Auseinandersetzung mit seiner Endlichkeit und seinem begrenzten Leben war der Mensch schon immer versucht, die Lösung für seine Lebensprobleme in der Dichotomie von Seele und Leib zu sehen. Um von den leiblichen Belastungen (Mühsal, Krankheit, Schmerz, Tod) befreit zu werden, hielten sich viele Philosophen (u. a. Plato, Aristoteles, Plotin) an das dualistische Prinzip der Trennung von Leib und Seele: Geist und Seele zu sein und den Leib nur zu haben. Das führte zu einer Geringschätzung des Leibes bis hin zur Leibfeindlichkeit.

Das platonische Seinsschema und stoische Einflüsse haben bis in unser Jahrhundert hinein das ganzheitlich-biblische Selbstverständnis des Menschen immer wieder überlagert (Außerleitner, 413). Die prä-existente, unsterbliche Geist-Seele muss durch Läuterung aus dem Gefängnis des Leibes befreit werden, um zu ihrem „göttlichen Ursprung“ zurückzugelangen.

Das platonische Stufenschema widerspricht in wesentlichen Punkten dem biblischen Verständnis von der Selbstwerdung des Menschen: z. B. in der Abwertung der Materie und des Leiblichen gegenüber einem positiven, ganzheitlichen Schöpfungsverständnis der Bibel. Es unterscheidet sich im Leib-Seele-Dualismus von der biblischen Leib-Seele-Einheit, die das Leibliche und damit auch die aggressiven Lebensenergien und die Sexualität wertschätzt. Die absolute Transzendenz Gottes widerspricht der biblischen Offenbarung von der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus ebenso wie die Lehre von der Göttlichkeit der Seele der biblischen Lehre von der geschaffenen Gottebenbildlichkeit. So wertet Platon in seinem Stufenschema (Reinigung – Erkenntnis – Einigung) das Leibliche, das Materielle und damit auch das Emotionale und Geschlechtliche ab. Gefühle allgemein und die leibhaften Triebe sind minderwertig.

Die hellenistisch gebildeten Kirchenväter (Origines, Gregor von Nyssa und Dionysius im griechischen Raum, Ambrosius, Augustinus und Gregor der Große im lateinischen Raum) haben sich mit dem platonischen Stufenschema auseinandergesetzt und immer wieder versucht, das platonische Gedankengut mit dem biblischen Verständnis in Einklang zu bringen. Dabei haben die Einzelnen in ihren Theorien zur Selbstwerdung des Menschen und seines Weges zu Gott unterschiedlich platonisches Gedankengut übernommen. Ihre Kritik am platonischen Denken „richtete sich vor allem gegen die Möglichkeit der direkten Gotteserkenntnis, des Tugendfortschritts aus eigener Leistung, gegen die Göttlichkeit der Seele und gegen die Möglichkeit ihrer substanzhaften Vereinigung mit Gott … Diese Kritik wurde jedoch selten ganz konsequent durchgezogen. Der Grundsatz: ‚Der Logos wurde Mensch, damit wir göttlich werden‘ (Clemens und Athanasius von Alexandrien, Origines) zeigt zu deutlich, welche Attraktion die platonistischen Motive Gotteserkenntnis, Göttlichkeit der Seele, Vereinigung mit Gott auf die Kirchenväter ausübten“ (Außerleitner, 136 f.).

Die dualistische Tendenz spiegelt sich auch in den von der Stoa übernommenen Tugend- und Lasterkatalogen wider, wo die leiblichen Triebe und die Affekte wie Wut, Zorn und Ärger als Sünde betrachtet werden.

Die Wüstenväter nehmen den Leib zwar ernst, sie verstehen ihn aber als Ort der Versuchung, als Einfallstor für die Sünde. Sie kasteien den Leib, um ihn gleichsam für die Auferstehung „vorzubereiten“. Letztlich ist das „Leibliche“ auch für sie minder-wertig.

Thomas von Aquin hat die biblische Tradition der seelisch-leiblichen Einheit des Menschen in seiner Theologie ausdrücklich aufgegriffen. Er sieht den Menschen ganzheitlich als Geschöpf Gottes in seiner Geist-Seele-Leib-Wirklichkeit (S. th. I, 76). Die erlösende Zuwendung und Liebe Gottes wendet sich dem ganzen Menschen zu, seiner Seele, seinem Geist und seinem Leib, vor allem in der Menschwerdung seines Sohnes Jesus.

Seit Thomas ist das biblisch-ganzheitliche Verständnis in der christlichen Anthropologie neu verankert, wenn es auch immer wieder durch neuplatonische, stoische und moralisierende Einflüsse in Frage gestellt wird.

Zu erwähnen ist noch die Mystik, in der eine ambivalente Einstellung zur Leiblichkeit zu beobachten ist. Das zeigt sich z. B. in der Fragestellung, ob Mystiker über alle Geschöpflichkeit hinaus mit Gott in sich in Berührung kommen oder ob Mystiker „nur“ in der geschaffenen Welt von Bildern und Wahrheiten und in der konkreten Menschwerdung Jesu Gott erfahren können. Sudbrack schreibt dazu: „Jede Mystik hat es mit Bildern zu tun. Aber sie besteht im ständigen Überschreiten der Bilder, besser gesagt: in deren Öffnung für die geistige Welt, die sich im Bild verleiblicht“ (Sudbrack, 148).

Der Mensch begegnet Gott in vermittelter Unmittelbarkeit auch in der Schöpfung und vor allem im menschgewordenen Gottessohn Jesus Christus (Sudbrack, 150). So sprechen sich Bernhard von Clairvaux, Teresa von Avila u. a. in kritischer Auseinandersetzung mit der platonischen Stufenlehre gegen ein rein geistiges Beten aus, weil dadurch das Menschliche und damit auch die Menschwerdung Gottes letztlich abgewertet werden.

Die dualistischen Denkformen der Neuzeit gehen vor allem auf Descartes und seine res cogitans und res externa und auf I. Kant mit seinen drei Säulen „Vernunft – Verstand, Verstand – Sinnlichkeit, Pflicht – Neigung“ zurück. In der Aufklärung und auf andere Weise im Pietismus hat sich ein „dualistisches Ideal“ menschlicher Lebensführung, „vernunftmäßig und beherrscht zu leben“, durchgesetzt. D. h., alle nach außen drängenden Gefühle, insbesondere die aggressiven Antriebskräfte, Ärger, Wut, Zorn und Leidenschaft, müssen unterdrückt werden, um einen möglichst hohen Grad an „Vollkommenheit“ zu erreichen und so dem Willen Gottes zu entsprechen.

Die Abwertung der Leiblichkeit und die Unterdrückung der Emotionen hat u. a. zu der sogenannten negativen Aszese geführt, die eine falsch verstandene Selbstverleugnung zur ausschließlichen Tugend erklärt und als Nachfolge des leidenden Jesus betrachtet.

Unterdessen wissen wir, wie wichtig die aggressiven Antriebskräfte, die in die Aus-ein-ander-Setzung führen, und damit auch Gefühle wie Wut, Ärger und Zorn für die Entwicklung der Ich-Stärke und der persönlichen Identität sind. Werden sie unterdrückt, wird eine gesunde Persönlichkeitsentfaltung und Selbstwerdung des Menschen eher behindert oder gar verunmöglicht. Ferner besteht die Gefahr, dass die Abwertung des Leiblichen und die Unterdrückung von Gefühlen allgemein und insbesondere von lebensfördernden Aggressionen zu einer Vermeidung von konstruktiven Auseinandersetzungen im religiösen Leben und im kirchlichen Bereich führen können.


5.3.Die wiedergewonnene ganzheitliche Sicht des Menschen

Das 2. Vatikanische Konzil orientiert sich wieder eindeutig an dem ganzheitlichen Menschenbild der Bibel und betrachtet den Menschen als „Geist in Leib“. Durch seine Leiblichkeit vereint der Mensch die „Elemente der stofflichen Welt in sich: Durch ihn erreichen diese die Höhe ihrer Bestimmung und erheben ihre Stimme zum freien Lob des Schöpfers. Das leibliche Leben darf also der Mensch nicht geringachten; er muss im Gegenteil seinen Leib als von Gott geschaffen und zur Auferstehung am Jüngsten Tage bestimmt für gut und der Ehre würdig halten“ (Rahner/Vorgrimler, 460 f.).

Leib und Leiblichkeit sind für den Christen vom Glauben her als Geschenk Gottes grundsätzlich positive Werte. Durch die „Fleisch-Werdung“ des Sohnes Gottes, der uns in allem gleich wurde, außer der Sünde, ist der Wert des Leibes noch einmal unterstrichen worden und, wie die Bibel sagt, „geheiligt als Tempel Gottes“ (1 Kor 3,16). Gefühle und auch die aggressiven Lebensenergien haben ihren Sitz im Körper. Erst der Leib ermöglicht, dass sie sich bewegen können und zum Aus-Druck kommen, „aus dem Körper heraus“ und sich so auf andere zubewegen und Beziehung stiften. Freude, Sympathie, Glück, Liebe und Leid drücken sich im Körper aus; Freude z. B. in Formen der leiblichen Freude: in Tanz, Sport, Spiel; oder Liebe in der sexuellen Intimität und Zärtlichkeit. Wie sehr können leibliche Gebärden, Mimik, Gesten und die ganze Körpersprache seelische und geistige Vorgänge im Menschen nach außen vermitteln. D. Mieth schreibt zusammenfassend: „Daher kann der Leib nicht einfach als das aufgefasst werden, was wir mit dem Tier gemeinsam haben. Ebenso wenig ist der Leib die Summe der körperlichen Funktionen des Menschen. Leiblichkeit bezeichnet die psychosomatische Einheit im Hinblick auf ihre sichtbare und sinnliche Erscheinung“ (Mieth, 642).

 

M. Schneider beschreibt das Menschenbild der christlichen Anthropologie wie folgt: „Ziel christlichen Lebens ist kein entleiblichter und entsinnlichter Geist (nous, intelligentia), das wäre eine (neuplatonische) Versuchung. Gewiss müssen die Sinne geläutert und von jeder egoistischen Begierlichkeit gereinigt werden, doch den geläuterten ‚Sinnen‘ kommt es zu, den menschgewordenen Gott zu erspüren: ‚Was wir gehört und mit unseren Augen gesehen … und mit unseren Händen betastet haben vom Wort des Lebens‘ (1 Joh 1,1 f.). Die innere Bedeutung der Sinne wird im Blick auf die Menschwerdung Gottes deutlich. Seit der Himmel auf die Erde herabgekommen und der Herr bleibend gegenwärtig ist, findet der Mensch Gott in allen Dingen des Lebens, also nicht jenseits, in einer geistigen Welt; das reine Herz schaut ihn schon jetzt überall“ (Schneider, 270 f.). Auch die Vollendung des Menschen in Gott wird am ganzen und unteilbaren Menschen offenbar werden, einschließlich seiner Leibgestalt. So hofft der gläubige Mensch nicht auf eine Befreiung vom Leib, sondern auf die Vollendung seiner Leiblichkeit.

In jüngster Zeit wird in der Liturgie und im Gebet die Bedeutung des Leibes neu entdeckt: in den körperlichen Gebetshaltungen, in Gestik und Mimik, in Bewegung und Tanz. Hier wird der Leib in ein ganzheitliches Beten und Meditieren bewusst mit einbezogen, gemäß dem Wort des Paulus: „Verherrlicht Gott in eurem Leib“ (1 Kor 6,20).

Im christlichen Brauchtum wird die Ehrfurcht vor dem Leib u. a. in den sakramentalen „leiblichen Berührungen“ ausgedrückt.

In der Taufe wird die Stirn des Täuflings mit Chrisam gesalbt und das Wasser des Lebens über seinen Kopf ausgegossen. Sein Mund wird als Ort des Aus-Drucks der Gefühle und der Einnahme von lebenserhaltenden Speisen und Getränken gesegnet. Ebenso das Herz, als Sitz des Lebens, der Gefühle und der Verankerung von Beziehungen.

In der Eucharistie kommen wir in der Gestalt von Brot und Wein mit Christus leibhaftig in Berührung.

In der Krankensalbung wird der Körper des Kranken an allen Sinnen mit dem Öl des Heiles gesalbt.

Im Begräbnis nach dem irdischen Tod wird der Leib in die Erde gebettet, aus der er genommen ist, in der Erwartung seiner Verklärung bei der Auferstehung von den Toten. Hier wird deutlich, dass wir von Gott als Menschen mit Leib, Geist und Seele geschaffen und erlöst sind.

Leider hat sich die ganzheitliche Sicht des Menschen als Leib-Geist-Wesen in den Jahren nach dem Vatikanischen Konzil nur langsam durchgesetzt. Nach wie vor sind Vorurteile gegenüber dem Leiblichen, den Gefühlen und Beziehungen im Allgemeinen und den Aggressionen und der Sexualität im Besonderen in christlichen und kirchlichen Kreisen zu finden (vgl. die Ergebnisse der im Oktober 2015 beendeten Bischofssynode).


6.Zusammenfassung

Die Fabel des arabischen Mystikers Sa’di vom „invaliden Fuchs“ fasst unser Thema Aggression und Beziehung gut zusammen (Mello, 64): „Unterwegs im Wald sah ein Mann einen Fuchs, der seine Beine verloren hatte. Er wunderte sich, wie das Tier wohl überleben konnte. Dann sah er einen Tiger mit einem gerissenen Wild. Der Tiger hatte sich satt gefressen und überließ dem Fuchs den Rest. Am nächsten Tag ernährte Gott den Fuchs wiederum mit Hilfe des gleichen Tigers. Der Mann war erstaunt über Gottes große Güte und sagte zu sich: ‚Auch ich werde mich in einer Ecke ausruhen und dem Herrn voll vertrauen, und er wird mich mit allem Nötigen versorgen.‘

Viele Tage brachte er so zu, aber nichts geschah, und der arme Kerl war dem Tode nahe, als er eine Stimme hörte: ‚Du da, auf dem falschen Weg, öffne die Augen vor der Wahrheit! Folge dem Beispiel des Tigers, und nimm dir nicht länger den behinderten Fuchs zum Vorbild.‘

Auf der Straße traf ich ein kleines frierendes Mädchen, zitternd in einem dünnen Kleid, ohne Hoffnung, etwas Warmes zu essen zu bekommen. Ich wurde zornig und sagte zu Gott: ‚Wie kannst du das zulassen? Warum tust du nichts dagegen?‘

Eine Zeitlang sagte Gott nichts. Aber in der Nacht antwortete er ganz plötzlich: ‚Ich habe wohl etwas dagegen getan. Ich habe dich geschaffen.‘“

Zum menschlichen Leben gehört wesentlich die Spannung zwischen Ich und Du, zwischen Geben und Empfangen, in der die aggressiven Lebensenergien, die in die Auseinandersetzung, Loslösung und Distanz führen, eine entscheidende Rolle spielen. Einerseits besteht die Aufgabe, die aggressiven Energien einzusetzen, um Ich selbst zu werden und autonom zu bleiben. Das beinhaltet auch, mich nicht in symbiotischen oder abhängigen Beziehungen zu verlieren, in denen die Ich-Identität verschwimmt und eins wird mit der Identität des anderen oder wo ich meine Identität ausschließlich über die Identität des In-Beziehung-Seins mit einem Menschen oder einer Gruppe gewinne. So wird die Selbstwerdung gerade verhindert. Ebenso gehört zu einem erfüllten menschlichen Leben, dass ich meine aggressiven Lebensenergien einsetze, um auf andere Menschen zuzugehen und mich ihnen Schritt für Schritt zu öffnen und mit ihnen zu leben. Dann können gute und heilsame Beziehungen entstehen, in denen Liebe geschenkt und empfangen werden kann.

Eine heilsame Beziehung gründet zunächst in der Beziehung zu mir selbst mit einer geordneten Selbstliebe, die Selbstzerstörung ausschließt; dann in der Beziehung zu anderen Menschen und zur Umwelt mit einer geordneten Nächstenliebe, wo auch Hass und zerstörerische Aggressionen lebensfördernd aufgearbeitet und in neue Beziehungsmöglichkeiten umgewandelt werden; das gilt auch für die Beziehung zu Gott, in der eine aggressive Auseinandersetzung den Weg zu einer tieferen Gottesbeziehung eröffnet (Frielingsdorf 1993, 45 ff.).

Eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen von Beziehungen sind der Selbststand und die Fähigkeit, gerade auch den zerstörerischen Aggressionen standzuhalten und sie in lebensfördernde umzuwandeln. Wenn die aggressiven Schritte auf den anderen zu beziehungsfördernd sein sollen, dann sind sie einfühlsam und differenziert zu setzen. Sie erfordern viel Geduld und Vor-Sicht beim Aufeinanderzugehen, damit die anderen nicht abgeschreckt, verletzt oder überfahren werden. Gute Beziehungen wachsen langsam heran und sind als Vorstufe von Freundschaft und Liebe sehr verletzbar und empfindlich, gerade weil sie so kostbar für das menschliche Leben sind. So können Aggressionen heilsame Beziehungen stiften und im Rahmen der Selbstliebe, der Nächstenliebe und Gottesliebe zum Gelingen des Lebens wesentlich beitragen.

Elternbotschaften über Gefühle, Aggressionen und Beziehungen


1.Die Bedeutung der Gefühle für die Persönlichkeitsentfaltung

Wie wir gesehen haben, führt das dualistische Denken in der Tradition des christlichen Abendlandes zu einer Überbewertung des Geistigen. Gleichzeitig wird das Materielle und Leibliche abgewertet und damit geraten auch die Gefühle in Misskredit. Im Anschluss an die aristotelische Psychologie, die die Seele in geistiges, sinnliches und vegetatives Vermögen aufteilt, wird das Gefühl den sinnlichen Seelenkräften zugeordnet, die den geistigen Kräften untergeordnet sind. Dadurch erhalten das Denken und Wollen, der Verstand und der Wille eine eindeutige Vormachtstellung gegenüber dem emotionalen Vermögen.

Die Analysen unserer westlichen Gesellschaft bestätigen noch heute diesen Trend: Wir leben „kopflastig“. Für den Fortschritt und das Wachstum in Wirtschaft und Gesellschaft sind Intelligenz und Rationalität gefragt. Gefühle gehören in die Privatsphäre, weil sie angeblich die Leistung und den Erfolg behindern. Wer im Beruf vorankommen will, kann sich kaum Gefühle leisten. Die Folgen der Abwertung der emotionalen Fähigkeiten sind bereits spürbar: Einerseits wachsen die Gefühlskälte und das Unvermögen, Gefühle wahrzunehmen und sie adäquat mitzuteilen; anderseits nimmt gerade auch bei jungen Menschen die Tendenz zu, ihre Gefühle als wertvoll anzusehen und zu leben. Dabei werden die Emotionen dann oft unkontrolliert eingesetzt und speziell in Form von Aggressionen zerstörerisch und gewalttätig ausgelebt. Skinheads, Neonazis und Autonome sind nur die Spitze des Eisbergs, der Gewalt heißt (vgl. Shell-Jugendstudie 2015).

Eine weitere Folge in unserer Gesellschaft sind der mangelnde Gemeinschaftssinn und die fehlende Solidarität und Menschlichkeit als emotionales Unvermögen und Defizit. „Eiskalt“ werden Arbeitsplätze wegrationalisiert. Computergesteuerte Hirne sparen Arbeitsplätze und sind nicht in Gefahr, durch plötzlich auftauchende Gefühle „Fehler“ zu produzieren, die das Leistungsmaß beeinträchtigen.

Im Laufe der abendländischen Geistesgeschichte hat es bis in unsere Zeit immer wieder Denker, wie B. Pascal oder S. Kierkegaard, gegeben, die den einseitigen Primat des Verstandes ablehnten und die ihrer Philosophie eine Einheit von Denken und Fühlen zugrunde legten. So spricht Pascal von der „Logik des Herzens“. Wir erfassen die Wirklichkeit und Wahrheit nicht allein mit dem Verstand, sondern auch mit dem Herzen. Denn „das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt“ (Guardini, 1935).

Auch die heutige Psychologie bezeichnet die Gefühle neben dem Denken, Wollen und Handeln als grundlegende Erfahrungs- und Ausdrucksweise des Menschen. „Im Unterschied zum Denken als einer Form der Vergewisserung erlebt der Mensch im Gefühl etwas in Bezug auf sich selbst. Wundt hat das Gefühl als Zustandsbewusstsein bestimmt. Gefühle lassen sich verstehen als unwillkürlich auftretende, meist im Kontext von Interaktionen entstehende, Betroffenheit auslösende seelische Zustände, die meist mit einem erhöhten Grad an Erregung einhergehen“ (Maurer, 344; Kernberg, 140 f.).

Ethisch gesehen, ist das Gefühl „die Fähigkeit, die bewusstes und damit verantwortungsvolles menschliches Leben wesentlich ausmacht. Das Gefühl muss zur Vernunft hinzutreten, damit das objektiv Gute die Herrschaft über den Willen gewinnt“ (Kaufmann, 344 f.).

Es sei daran erinnert, dass auch in der Bibel der Mensch ganzheitlich gesehen wird. Das Wort „Herz“ steht für den „Sitz des Lebens“, die Personenmitte des Menschen, in dem Denken, Wollen und Fühlen einheitlich miteinander verbunden sind. Wenn wir im Volksmund von der „inneren Stimme“ oder der „Stimme des Herzens“ sprechen, dann meinen wir damit eine Weisung, die aus dem inneren Wesenskern des Menschen kommt, aus Tiefenschichten, wo Vernunft und Gefühl, die die Zeitspannen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfassen, noch eine Einheit bilden. Ähnlich ist es bei elementaren Regungen von Glück, Unglück oder Schuld. Hier spielt weniger das Denken, sondern mehr das Erleben und Fühlen eine Rolle.

Die Bedeutung der Gefühle im Selbstwerdungsprozess ist offenkundig. Nicht das Verdrängen oder das Wegschieben der Aggressionen führt zur Heilung, sondern das Sich-Einlassen auf die Gefühle, die mit diesen Lebensenergien verbunden sind, sei es Liebe oder Hass, Angst oder Trauer, Freude oder Wut.

Wenn ich meine unterschiedlichen Gefühle wahrnehme, mache ich schon einen Schritt der Distanzierung. Denn ich entscheide, ob ich die Gefühle wieder verdränge oder ob ich sie zulasse und mich ihnen stelle. Das mildert die Angst vor der Bedrohung, den Gefühlen hilflos ausgeliefert zu sein. Dann ist es in einem zweiten Schritt möglich, die Gefühle noch einmal näher an mich herankommen zu lassen, mich in gewisser Weise in sie hineinzuversetzen, um sie zu spüren, ihre Energie und damit auch ihre Richtung zu erleben. Dabei erfahre ich, wohin die Gefühle tendieren, und ich kann entscheiden, was ich mit ihnen machen will. Auf diese Weise durchlebe ich sie, und am Ende haben sie mir geholfen, wesentliche Elemente, die in mir sind und leben, in mein Handeln zu integrieren, wie es mir und der Situation angemessen ist. So spielen sich Gefühle und Verstand z. B. bei Entscheidungen oder im täglichen Tun die Bälle zu mit dem Ziel, dass ich authentisch und realitätsgerecht handle.

In einem Prozess der Auseinandersetzung und des Durchlebens der Gefühle kann auch eine Wandlung geschehen: Aus den zerstörerischen Aggressionen können in diesem dynamischen Vorgang beziehungsstiftende Aggressionen werden. Wenn ich meine „Mordswut“, meine „blinde Wut“ bewusst wahrnehme und mich auf sie einlasse, können die zerstörerischen Aggressionen in positive Lebensenergie umgewandelt werden. Dasselbe gilt auch für andere Grundgefühle wie Angst, Verzweiflung, Ohnmacht, Trauer.

 

Das Sich-Einlassen und Durchleben der Gefühle beschränkt sich aber nicht nur auf das Wahrnehmen und Sprechen über die Gefühle. In dieser existentiellen Auseinandersetzung stellt sich auch die Frage, was das Gefühl, z. B. die Aggression oder Angst, mit mir macht, inwieweit es mein Leben beeinflusst bzw. fördert oder behindert. Letztlich geht es darum, sich auf das bedrohliche, bisher verdrängte Gefühl von Wut, Ärger, Zorn oder Angst einzulassen und es möglichst intensiv nachzuerleben. Auf diese Weise kann ich erfahren, dass diese Gefühle jetzt nicht mehr die Macht über mich haben, die sie einmal hatten, als ich mich in frühkindlichen Erfahrungen z. B. den Gefühlen von Angst oder Ohnmacht, Wut und Trauer hilflos ausgesetzt erlebte. Erst wenn ich erfahre, dass die Angst vor dem Erleben des Gefühls schlimmer ist als das Erleben des Gefühls selbst, kann ich die lebens- und beziehungsstiftenden Energien in ihnen entdecken und entsprechend einsetzen.

Ein Beispiel kann diesen dynamischen und komplexen Vorgang verdeutlichen (bei allen Beispielen sind die persönlichen Daten verfremdet und typisiert).

Eines Abends rief Pfarrer S. an und bat dringend um ein Gespräch. Er sei 46 Jahre alt, im Augenblick beurlaubt, nachdem sich der Pfarrgemeinderat beim Bischof über ihn beschwert habe. Er habe angetrunken die Messe gefeiert, häufiger die Predigt abgebrochen und betrunken an Pfarrgemeinderatssitzungen teilgenommen und sei einmal tätlich geworden. Vor einem Jahr gab es einen misslungenen Selbstmordversuch. In einem Gespräch mit dem Bischof wurde die Beurlaubung vereinbart mit der Auflage, therapeutische Gespräche zu führen.

Beim ersten Gespräch klärten wir, nach einem längeren Klinikaufenthalt, u. a. die Gründe und Motive für eine Therapie und legten, soweit möglich, die Ziele unserer wöchentlichen Gespräche fest. Zuerst erzählte S. seine Lebens- und Berufungsgeschichte. S. war das fünfte Kind in einer Bauernfamilie, die nach dem Krieg ihren Lebensunterhalt schwer verdienen musste. Im Alter von 43 Jahren wurde seine Mutter plötzlich mit ihm schwanger.

„Meine Mutter hat mich sicher nicht gewollt. Mein Vater machte ihr Vorwürfe, dass sie nicht aufgepasst hätte. Da eine Abtreibung aus religiösen Gründen nicht in Frage kam, erfand meine Mutter eine ganz raffinierte Methode, mich loszuwerden: Sie hat mich bereits im Mutterschoß Gott geweiht und dadurch, wie ich meine, geistlich abgetrieben und mein Leben entscheidend beschnitten.

So begann mein Priesterleben schon nach der Geburt, indem ich als zukünftiger Priester immer eine Sonderrolle unter den Geschwistern und im Dorf spielte. Wie eine religiöse Marionette wurde ich auf Bravsein und Vorbildsein hin erzogen: Ich durfte mich nicht dreckig machen, durfte nicht mit den anderen bösen Kindern spielen, musste gute Leistungen bringen, war früh Messdiener, musste an Feiertagen vor dem Essen fromme Gedichte aufsagen und von der Predigt des Pfarrers erzählen. Rechtzeitig kam ich in ein kleines Seminar, damit ich vor den Gefahren der Welt, besonders vor den Frauen, geschützt war. Es folgte das Theologiestudium und schließlich mit Pauken und Trompeten unter großer Anteilnahme die Priesterweihe und Primiz. Meine Mutter setzte mir unter Tränen das übliche Blumenkränzchen auf, und ich war der Stolz der Familie und des ganzen Dorfes. Im Rückblick muss ich sagen: Ich habe mich nie selbst für das Priestertum entschieden, ich bin entschieden worden.

Damals merkte ich noch nicht, welchen Preis ich für dieses Leben in einem goldenen, religiösen Käfig zahlte: mich selbst und mein Leben. Die große Krise begann, als ich mit Spielerkreisen in Kontakt kam, Schulden machte und nach einiger Zeit erpresst wurde. Damals begann ich zu trinken. Ich konnte nur noch sporadisch beten und vernachlässigte meine Aufgaben als Gemeindepfarrer. Meine Mutter erfuhr von meinen Schwierigkeiten. Ihre Vorwürfe machten alles noch viel schlimmer, so dass es vor einem Jahr zu meinem Selbstmordversuch mit Tabletten und Alkohol kam. Das Verrückte war, dass ausgerechnet meine Mutter mich entdeckte und meine Rettung einleitete. Und nun sitze ich hier als ein vor Gott und den Menschen Gescheiterter. Aber ich möchte jetzt wirklich aus dem Schlamassel heraus und zu meinem Leben finden.“

Nach einem erfolgreichen Klinikaufenthalt war S. trocken und nahm regelmäßig an den Sitzungen einer Gruppe der anonymen Alkoholiker teil.

In unseren nächsten Gesprächen bearbeiteten wir anhand des Lebensskripts die Lebensgeschichte von S., die damit verbundenen negativen Elternbotschaften, vor allem die existentielle lebensverneinende Botschaft der Mutter: Eigentlich sollst du nicht leben. Du darfst leben, wenn du mein Besitz und Geschöpf bist und wenn du Priester wirst. Durch die Anpassung und durch das Sich-Ausliefern an den Willen der Mutter bekam S. als Kind die notwendige Zuwendung und Anerkennung seiner Umgebung. Gleichzeitig konnte er in dieser Fremdbestimmung nicht zu seiner eigenen Identität finden.

In einem Wochenkurs Identitäts- und Glaubensfindung rekonstruierten wir in der Gruppe gestalterisch seine Herkunftsfamilie und anschließend speziell seine Mutterbeziehung. In der Familie war S. ein besonderer Außenseiter, von vielen bewundert, aber auch von vielem ausgeschlossen und allein. Die Beziehung zur Mutter stellte S. wie folgt dar: Er stand vor der Mutter (die von einem gewählten Gruppenmitglied dargestellt wurde) mit dem Rücken zu ihr. Die Mutter umklammerte ihn von hinten (hinterhältig) und führte ihn als ihren Priestersohn vor. Als S. diesen Klammergriff spürte, überfiel ihn wie er sagte eine unbändige Wut. Blitzschnell befreite er sich aus dem Klammergriff, drehte sich um und schrie die Mutter wütend an: Du falsche Schlange! Du Betrügerin! Du Heuchlerin! Er wiederholte dies mehrmals und stampfte mit den Füßen auf und schüttelte wütend seine Mutter, d. h. das Gruppenmitglied, das er als seine Mutter gewählt hatte. Nach einigen Minuten, als die angestaute Wut ausagiert war (Trommeln), wurde S. ruhiger und fühlte sich erleichtert. In dieser Übung richtete S. zum ersten Mal seine Aggressionen nicht gegen sich selbst oder stellvertretend gegen andere, sondern direkt gegen die Mutter. Später konnte er dann in einem Anklage- und Wutbrief an die Mutter seinen Aggressionen freien Lauf lassen und ihr vorwerfen, wie sie sein Leben ruiniert und im Namen Gottes massiv behindert hat.

Wichtig war in dieser Aggressionsphase, deutlich zu machen, dass das Ziel des ganzen Prozesses die Versöhnung mit der Mutter und der Selbststand von S. ist. Einige Monate später, auf einem Zweiwochenkurs in Positano (Süditalien), weitab von zu Hause und dem Alltag, vertiefte sich S. in die leidvolle Lebensgeschichte seiner Mutter, lernte sie besser kennen und verstehen und konnte ihr schließlich vergeben.

Es folgte dann die Auseinandersetzung mit Gott, der ihm ja dieses Leben, diese Eltern und diese Berufung zum Priester eingebrockt hatte, mit den Warum-Fragen. Die Entlarvung des unbewussten, dämonischen Gottesbildes, das stark von den mütterlichen Zügen Ablehnen, Benutzen und Missbrauchen geprägt war, stellte einen ersten Schritt auf dem Weg zum wahren Gott dar (vgl. Übung S. 187 f.). In einer Gestalt-Übung zur Berufung in die Nachfolge Jesu wurde S. zum ersten Mal klar, dass er von dem wahren Gott in Freiheit berufen war. In späteren Einzelexerzitien konnte S. dann sein freies Ja zum Priesterberuf sprechen und nachholen. Aufgrund der erkannten persönlichen Möglichkeiten und Grenzen aus seiner Lebens- und Glaubensgeschichte lernte er allmählich, seine seelsorglichen Aufgaben in einer neuen Gemeinde wahrzunehmen und jetzt wirklich die Frohbotschaft zu verkünden. Der gesamte Heilungsprozess von Pfarrer S. dauerte mehr als drei Jahre. Die Gespräche werden in größeren Abständen weitergeführt. S. hat eine regelmäßige geistliche Begleitung und nimmt immer noch an einer Selbsthilfegruppe der anonymen Alkoholiker teil.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?