Worte verletzen ... und Schweigen tötet

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„Herein“, hörte sie eine weibliche Stimme von innen.

Nele atmete wie immer tief durch und betrat zögerlich die Kanzlei. Auf dem Schreibtischsessel saß eine hochschwangere Frau, die im selben Alter wie Nele sein musste. Freundlich sagte sie: „Ich bin Lisa, die Pastoralassistentin. Was kann ich für dich tun?“

Nele war im ersten Moment verwirrt, sofort mit du angesprochen zu werden, aber als sie die freundliche Frau noch einmal anblickte, war sie sich sicher, dass dies nur ihrer Herzlichkeit zuzuschreiben war. Nele fühlte sich eigenartig wohl in Lisas Gegenwart. Trotzdem war sie unsicher in ihren Worten, so stotterte sie: „Ich bin wegen des Jobs als Haushälterin da.“

Lisa seufzte erleichtert, ehe sie sagte: „Endlich, es ist wirklich mehr als dringend, diesen Posten zu besetzen. Es sind nur wenige Stunden in der Woche, da es nur darum geht, das Pfarrheim und die Kirche sauber zu halten. Eigentlich bräuchten wir auch dringend eine Sekretärin, da ich nur mehr zwei Wochen bis zum Mutterschutz habe und das Seelsorgeteam unserer Pfarre nicht auch das noch übernehmen kann. Ich bin ja schon heilfroh, wenn die Gottesdienste einigermaßen weiterlaufen.“

„Wenn du möchtest, kann ich das Sekretariat auch übernehmen, also vorausgesetzt, meine Söhne sind hier willkommen. Ich bin eigentlich Musiklehrerin, aber seitdem mein Mann verstorben ist, schaff ich es nicht mehr mit den Finanzen und bin froh über jeden Zuverdienst“, gestand Nele.

Mit der Reaktion der Pastoralassistentin hatte Nele nicht gerechnet, Lisa stand mit Freudentränen in den Augen auf und umarmte Nele. „Dich schickt der Himmel. Natürlich sind deine Söhne hier jederzeit willkommen. Mein Baby wird in Zukunft auch mitkommen, wenn ich nach dem Mutterschutz wieder ein paar Stunden arbeiten werde, aber das Sekretariat gehört dir, denn ich glaube nicht, dass ich mit meinem Kleinen, wenn es auf der Welt ist, mehr als geringfügig arbeiten kann. Also nur, wenn du damit einverstanden bist?“

„Natürlich bin ich das“, freute sich Nele. Endlich lief einmal etwas glatt. Innerlich fiel ihr ein Stein vom Herzen, das zusätzlich Geld löste zumindest die finanziellen Probleme. „Sorry, Gott, und danke für deine Hilfe“, entschuldigte sich Nele still für die vorangegangenen Vorwürfe.

Nele hatte sich schon nach kurzer Zeit gut im Pfarrheim eingearbeitet. Lisa und sie nutzten die wenigen Tage bis zu ihrem Mutterschutz, um alles ordnungsgemäß in Neles Aufgabenbereich zu übertragen, und es klappte im Großen und Ganzen gut. In dieser Zeit lernte Nele dann auch Noah kennen, Lisas Ehemann. Die beiden waren ein schönes Pärchen, freuten sich von ganzem Herzen über den Nachwuchs, der bald das Licht der Welt erblicken würde. Und Nele freute sich für die beiden, sosehr hatte sie Lisa in dieser kurzen Zeit ins Herz geschlossen, aber das beruhte eindeutig auf Gegenseitigkeit, sie verstanden sich einfach hervorragend.

Auch Neles Söhne Samuel und Jonas hatten sich bereits daran gewöhnt, statt nach Hause zu fahren, gewisse Zeiten im Pfarrheim zu verbringen. Es war wie ein zweites Heim, in dem alle willkommen waren. Und das zauberte ein gutes, geborgenes Gefühl in Neles Herz. Auch wenn Lisa jetzt nicht mehr arbeiten durfte, hatten sie engen Kontakt und fieberten gemeinsam auf die Geburt hin. Und Lisa war es auch, die Nele wieder dazu brachte, sich für den Glauben an Jesus Christus zu interessieren. Denn Lisa wollte, dass Nele die Kinderliturgie übernahm. Einmal im Monat gab es im Pfarrheim einen Kinderwortgottesdienst, bei dem es möglich war, im Sitzkreis ganzheitlich mit den Kindern zu arbeiten mit Liedern, Bildern und vielen Bewegungen, damit die Kleinen mit ganzem Herzen mitfeiern konnten. Nele gefiel diese lockere und spielerische Art, mit der Lisa den Kindern die Geschichten aus der Bibel erzählte und mit viel Gefühl die Herzen der Kinder für Gottes Liebe öffnete. Nele war über alle Maßen wissbegierig und löcherte Lisa mit Fragen, den schon beim nächsten Gottesdienst mit den Kindern musste sie allein zurechtkommen, aber sie freute sich darauf, das war eine neue Herausforderung. Und schließlich war es nicht viel anders als ihre Arbeit als Musiklehrerin, hier galt es auch, die Kleinen zu begeistern, damit sie mit Freude ihr Instrument lernten, in Neles Fall das Klavierspielen.

Nele las nun auch ab und zu wieder für sich in der Bibel. Als sie die Geschichten über Jesus las, verstand sie ihren verstorbenen Mann besser, was seinen unerschütterlichen Glauben betraf. Sie verstand nun, dass sein Tod niemals eine Strafe gewesen war, sondern wahrscheinlich eine Erlösung von seiner Erkrankung. Im Himmel gab es keine Schmerzen für Jan mehr. Nele verstand wieder, wie wichtig Gottes Liebe war. Wie ein kleines Kind saugte sie diese kostenlos geschenkte Zuneigung auf. In ihrem Herzen wuchsen die Hoffnung und der Wunsch, diese Liebe auch wieder weitergeben zu können. Dankbarkeit erfüllte sie, denn Gott ließ ihre Wunden heilen. Es tat Nele gut, endlich wieder den Boden unter den Füßen zu spüren.

Als endlich das Finanzielle durch die erfüllende, neue Arbeit gefestigt war, regte sich der Wunsch nach einem Mann erneut bei Nele. So kramte sie abermals unsicher die Liste hervor und las den nächsten Namen darauf: Frederic.

Kurz entschlossen engagierte Nele wieder Martha als Babysitterin und machte sich auf den Weg. Es war leicht, Frederic im Internet zu finden, denn er war der Erbe eines Familienunternehmens, eine über das Land hinaus bekannte Konditorei mit verschiedenen Standorten.

Nele kannte Frederic von einem Sommerlager, eine musikalische Freizeit für Jugendliche. Es war damals eine kurze Romanze zwischen den beiden entbrannt. Der allererste Kuss ging auf sein Konto. Musizieren wurde in seiner Anwesenheit zur Nebensache, so verliebt war sie gewesen. Doch zurück zu Hause, war das Ganze nach einigen Monaten und vielen verschickten Briefen wieder vergessen, die Entfernung war einfach zu weit. Damals waren fünfzig Kilometer ein unüberbrückbares Hindernis.

Nele stieg, am Ziel angelangt, aus dem Auto aus. Staunend betrachtete sie das riesige Kaffeehaus mit der dazugehörigen Backstube, die die anderen Filialen der Konditorei täglich belieferte und durchaus einen angesehenen Bekanntheitsgrad besaß. Schüchtern trat sie ein und bestellte sich Kaffee und Kuchen. Als die Kellnerin beides brachte, erkundigte sich Nele vorsichtig nach dem Chef des Hauses und ob er zu sprechen wäre. Die Kellnerin versicherte ihr, dass er da sei, aber sie müsste erst fragen, ob er Zeit für ein Gespräch mit Nele hätte. So verschwand sie und kehrte nach wenigen Minuten mit Frederic zurück. Er hatte sich kaum verändert, bis auf die Tatsache, dass er nun erwachsen war und die Zeit nicht spurlos an ihm vorübergegangen war. Aber sein Gesicht war unverkennbar. Nele musste lächeln, denn zumindest beim Aussehen gab es diese Mal keine großen Überraschungen.

„Grüß Gott. Stimmt etwas mit dem Kuchen nicht?“, erkundigte er sich zuvorkommend und höflich.

„Nein, alles bestens. Ich wollte dich nur wiedersehen, Frederic“, wagte sich Nele vor.

Frederic verengte seine Augen zu Schlitzen und musterte Nele, ehe ihm ein Licht aufzugehen schien. „Nele, das süße Mädchen, das mich mit ihren Küssen im Sommerlager verzaubert hat“, sagte er charmant und setzte sich ungefragt an den Tisch. Er nahm Neles Hand in die seine und küsste ihren Handrücken. „Schön, dich wiederzusehen“, erklärte er lächelnd.

Neles Herz hüpfte vor Freude. „Ich freue mich auch sehr“, gab sie zurück.

Es folgte ein zweistündiges Gespräch über alte Zeiten. Nele versank in seinen wunderschönen braunen Augen. Frederic war sympathisch und charmant, alles an ihm schien zu stimmen. Nele war zufrieden, das Wiedersehen verlief sehr erfreulich. Es war fast so, als wäre dazwischen keine Zeit vergangen, sie verstanden sich auf Anhieb blendend. Noch dazu hielt er die ganze Zeit hindurch Neles Hand, das Gefühl seiner Berührung war sehr angenehm und ließ Neles Hoffnung weiterleben.

„Möchtest du die Konditorei sehen? Also die Backstube, in der wir unsere süßen Leckereien herstellen?“, fragte Frederic.

Nele willigte ein und folgte ihm. Es war spannend, zu sehen, welcher Aufwand für das vielseitige Angebot der Konditorei betrieben wurde, es war ein Zuckerbäckerparadies, Kreativität und unverfälschter Geschmack wurden hier eindeutig großgeschrieben. Zum Schluss der Führung zeigte Frederic Nele sein Büro. Kaum hatte er die Tür zugemacht, zog er Nele an sich. Er küsste sie auf die Lippen und brachte Nele in Gedanken durch diese spontane Berührung zurück in die Vergangenheit, als sie Frederic damals zum ersten Mal küsste. Es tat gut, ihn spüren zu können, es war genauso schön wie damals. Nele war sichtlich aufgeregt. Doch er war kein Teenager mehr und seine Hände knöpften nun gekonnt Neles Bluse auf. So etwas hätte er damals nicht getan. Und auch jetzt wollte es Nele nicht überstürzen, auch wenn sie sich sehr nach Nähe sehnte. So trat sie einen Schritt zurück.

„Frederic, es ist wunderschön, dich zu küssen, aber ich will es nicht übertreiben fürs erste Mal. Ich würde dich gerne besser kennenlernen“, sagte sie mutig.

Frederic sah beschämt zu Boden und stammelte: „Nele, ich bin verheiratet und habe eine drei Monate alte Tochter. Es tut mir leid, ich dachte mir, ich könnte einmal mit dir schlafen. Es ist nur, ich habe es mir immer gewünscht, dich so spüren zu können. Es war nicht richtig, ich sollte meine Frau nicht betrügen. Ich glaube, es war ziemlich unüberlegt von mir.“

Nele blieb der Mund offen. Es war ihr jetzt peinlich, hier zu sein. Warum hatte sie nicht gleich nach einer Ehefrau gefragt? Natürlich stand seine Familie an erster Stelle! Genau diesen Fehler wollte sie nicht begehen. Schleunigst verschwand sie aus seinem Leben und rannte weg, ohne sich umzudrehen. Immer mehr wuchs ihr die Sache über den Kopf, jetzt brachte sie schon Familienväter dazu, sich zu entschuldigen. Sie war eindeutig kein guter Mensch. Durch Wut und Verzweiflung legte sich ein Tränenschleier über ihre Augen, während sie nach Hause fuhr. Ihr Leben glich immer mehr dem einer Achterbahnfahrt.

 

Nele suchte umgehend Hilfe bei Martha, die mit ihrer Hab-ich-dir-doch-gleich-gesagt-Rede keine große Hilfe war. Dass sie heute einen schweren Fehler begangen hatte, wusste Nele selbst. So packte sie ihre Jungen zusammen und brachte sie nach Hause, um von dort aus Lisa anzurufen. Vielleicht konnte diese ihr weiterhelfen.

Lisa zeigte mehr Verständnis, konnte ihr aber auch nur zur Geduld und zum Vertrauen in Gottes Plan raten. Das war Nele mittlerweile zu wenig handfest. Sie wollte doch nur glücklich sein, war es leid, zu warten. Es fühlte sich schrecklich an, ohne die zärtliche Liebe, die Jan immer für sie übrig gehabt und die so unendlich gutgetan hatte.

Nele fiel durch den Vorfall erneut in ein tiefes Loch, ließ es in ihrer Trauer zu, komplett abzustürzen. Allen Vernunftgründen zum Trotz betrank sie sich und leerte Weinglas um Weinglas, während Samuel und Jonas schliefen. Der Alkohol und die tiefe Einsamkeit machten Nele schläfrig. Sie war gerade dabei, einzunicken, als das Telefon läutete.

„Nele? Hier ist Noah. Lisa hat unser Baby zur Welt gebracht. Wir wollen es nach dir benennen, Nele, und dich fragen, ob du seine Patin wirst. Kannst du herkommen?“, flötete Lisas Ehemann aufgeregt ins Telefon.

Nele vergaß über die Euphorie, dass sie zu betrunken war, um mit dem Auto fahren zu können. Sie weckte kurzerhand ihre Söhne und setzte sich hinters Steuer mit ihren Kindern auf der Rückbank, was keine gute Entscheidung war. Doch weit kam sie nicht, schon nach der ersten Kurve verlor sie die Kontrolle über den Wagen und krachte trotz Vollbremsung in eine Straßenlaterne. Erschrockene Passanten holten umgehend Hilfe. Die Rettung brachte Mutter und Kinder ins Krankenhaus. Samuel hatte eine Platzwunde am Kopf und Jonas einen gebrochenen Arm. Nele selbst hatte zwei gebrochene Rippen und musste operiert werden.

Als sie aus der Narkose erwachte, plagte Nele das schlechte Gewissen, alles lief wieder einmal schief in ihrem Leben. Den Führerschein war sie mit Sicherheit los und ihre eigenen Kinder hatte sie in Lebensgefahr gebracht. Wie sollte sie sich selbst ihr dummes Verhalten verzeihen? Nele weinte, keine der Krankenschwestern konnte sie beruhigen, ehe die Tür aufging und genau die fünf Menschen eintraten, bei denen Nele sich dringend entschuldigen musste.

Als Erster stürmten Samuel und Jonas auf ihre Mutter zu und umarmten sie vorsichtig. Nele stöhnte trotzdem auf vor Schmerzen. „Jungs, es tut mir so leid, dass ich euch in Gefahr gebracht habe“, sagte Nele aufrichtig.

„Passt schon, Mama. Wir sind so froh, dass du lebst“, gab Samuel zurück.

„Wir hatten alle unbeschreibliches Glück. Der Arzt meinte, dass ein Schutzengel über uns gewacht hat“, ergänzte Jonas.

„Ja, da hat er wahrscheinlich recht“, versuchte Nele, positiv zu klingen. Dann lenkte Nele ihre Aufmerksamkeit auf das Trio, das noch im Zimmer stand – beziehungsweise saß und lag. Denn Noah hatte Lisa in einem Rollstuhl hereingebracht und sie hatte das neugeborene Baby am Arm liegen.

„Darf ich vorstellen, das ist Nele“, sagte Lisa ohne Vorwürfe in der Stimme.

Nele musste nun wieder weinen, aber dieses Mal vor Freude. „Es tut mir so leid, was ich angerichtet habe“, gestand Nele.

„Gott hat dir längst verziehen, damit du es in Zukunft besser machen kannst. Warum sollten wir dich dann verurteilen?“, erklärte Noah.

„Ihr seid so wunderbare Menschen“, schniefte Nele.

Lisa legte Nele das Baby in den Arm und fragte: „Magst du ihre Patin werden?“

„Nichts lieber als das“, freute sich Nele dankbar.

Das Geschenk, das ihr das Leben in diesem Moment machte, war unbezahlbar. Klar musste Nele noch die Konsequenzen ihres Verhaltens tragen. Aber das war ihr momentan egal, denn ihre Söhne waren am Leben und verziehen ihr und Lisas kleine Familie war nicht einmal böse auf sie. Ganz im Gegenteil, sie vertrauten ihr weiterhin. Nele war glücklich und wieder felsenfest sicher, Gott meinte es doch gut mit ihr.

Und Nele hielt endlich daran fest, sodass eine dankbare Zeit an Gott folgte. Es war wie ein Neuanfang, ihre Fehler war verziehen und das beflügelte Nele, dankbarer für die wertvollen Menschen und wichtigen Dingen des Lebens zu sein. Sie haderte auch nicht mehr mit der Tatsache, alleinerziehende Mutter zu sein, denn sie war so glücklich, dass ihren Kindern bei dem Unfall nichts zugestoßen war und dass sie ihre Entschuldigung akzeptiert hatten.

Nele musste zwar eine Nachschulung machen, um ihren Führerschein zurückzubekommen, aber sie empfand das als gerecht. Für ihre erneute Mobilität lernte sie fleißig und stotterte ihre Geldstrafe vom Gehalt ab. Es war trotzdem gut so, die Freude darüber, dass nicht mehr passiert war, überwog eindeutig.

Nele erlaubte es sich einfach wieder, glücklich zu sein – gemeinsam mit ihren beiden Söhnen. Sie verbrachten viel mehr Zeit mit Lisas Familie, um die frischgebackenen Eltern zu entlasten. Nele konnte auch die Zeit mit dem Baby richtig genießen. Es war einfacher, ein fremdes Kind zu hüten, als wenn man selbst ein schreiendes Bündel zu Hause hatte, das einen manchmal bis zum Rande der Erschöpfung brachte und in anstrengenden Phasen scheinbar kein Ende in Sicht war.

Doch eines war sehr merkwürdig in dieser freudigen Zeit. Der Traum von Peristera kehrte fast jede Nacht wieder. Er wiederholte sich unaufhörlich, sodass Nele Peristera immer wieder zuschaute, wie sie die Inschrift am Altar anbrachte. Aber Nele konnte nicht erkennen, was sie schrieb, denn sie wachte stets im entscheidenden Moment auf. Dieser Traum verwirrte Nele immer mehr. Was hatte Peristera mit ihrem Leben zu tun? Und warum konnte sie nicht erkennen, was so wichtig war, dass die fremde Frau es in den Altar ritzte?

Nach ein paar Wochen kramte Nele noch einmal die Liste hervor, und zwar zum letzten Mal. Ein einziger Name stand noch darauf. Sie hatte zwar keine Hoffnung mehr, dass der letzte Mann der Richtige für sie war, aber der Vollständigkeit halber beschloss Nele, ihn doch noch zu besuchen. Doch dieses Mal war es ein reiner Freundschaftsbesuch, denn Nele wollte sich nicht erneut in Teufels Küche bringen, die vorangegangene Begegnung war ihr eine Lehre gewesen.

Beeindruckt fuhr sie wenig später bei der Villa vor, in der Julian lebte. Er hatte sich in den letzten Jahren mit einer brauchbaren App fürs Smartphone dumm und dämlich verdient. Er war vor langer Zeit ein Mitschüler von Nele und hatte sie getröstet, als Philipp sie damals verlassen hatte. Kurz ließ sie ihn in ihr Herz, ehe sie beschloss, nie wieder einen Mann zu lieben. Sie wollte bis an ihr Lebensende Single bleiben. Damit waren Julians Chancen bei ihr zunichtegemacht, er war ihr zum falschen Zeitpunkt zugetan. Nele musste über diese Erinnerungen laut auflachen, denn aus heutiger Sicht war ihr Verhalten sehr naiv gewesen. In so jungen Jahren jeglicher Beziehung abzuschwören, war mehr als komisch. Damals hatte sie echt keine Ahnung vom Leben.

Nele versuchte, gefasst zu wirken, und läutete mutig bei dem Haus mit Schlosscharakter an. Ein Butler öffnete und erkundigte sich nach alter Schule nach ihrem Befinden und ihrem Begehr. Es war, als wäre man in vergangene Zeiten zurückversetzt durch sein förmliches Getue. Der Hausdiener führte sie höflich und zuvorkommend zu Julian, der sich über den Besuch durchaus freute. Sofort erkannte er Nele und umarmte sie freudig.

Nach kurzem Small Talk zeigte Julian Nele das Anwesen mit Schwimmbad, Golfplatz und romantisch angelegten Gärten. Prunk erstreckte sich, wohin das Auge reichte, es wirkte wie in einem Märchen. Nebenbei plauderten sie über sein Leben. Er war geschieden, hatte aber keine Kinder, weil seine Ex-Frau wegen ihrer Figur nicht schwanger sein wollte. Er versicherte Nele aber, dass er Kinder liebte und etwas enttäuscht war, weil er keine hatte.

Nele begann unbewusst darüber nachzudenken, ob sie mit Julian einen Volltreffer gelandet hatte. Ihr Vorsatz, nur in freundschaftlicher Absicht zu kommen, war auf einmal wie vom Wind weggeblasen. Blitzschnell, eigentlich viel zu überstürzt, verabredeten sie sich zu einem Dinner in seiner wunderschönen Villa in ein paar Tagen, denn Julian musste noch zu einem Termin im Ausland und vertröstete Nele höflich auf das geplante Wiedersehen. Nele freute sich wie ein kleines Kind. Hochrot vor Nervosität begab sie sich nach Hause. Doch ein leiser Anflug von Panik kroch erneut in ihr Herz. Was dachte sie sich dabei? Wahrscheinlich gar nichts, sonst hätte sie nicht schon wieder alle Register der Hoffnung gezogen, doch noch einen Mann zu finden, der ihr Leben bereichern könnte.

Martha war überrascht, dass Nele sobald zurück war. Auch ihre Söhne Samuel und Jonas wollten noch nicht gehen, denn sie waren gern bei Martha. So blieb Nele auf einen Kaffee und tratschte mit ihrer langjährigen Freundin. Diese warnte sie erneut und holte Nele auf den Boden der Tatsachen zurück, als sie erklärte, dass Julian schon in der Schulzeit sehr eigenartig war. „Pass bloß auf“, waren ihre Worte.

„Ja, du hast ja recht. Aber waren wir nicht alle von der Rolle in unserer Pubertät und benahmen uns wie von einem anderen Stern?“, erwiderte Nele.

„Das schon, aber Julian benahm sich manchmal etwas wie ein Psychopath. Entschuldigung, dass ich das so sage, aber es war echt nicht normal, wie er sich verhielt. Ich hätte ihm eher eine Karriere als Triebtäter zugetraut“, gab Martha eiskalt von sich.

Nele starrte sie ungläubig an. Das war doch nicht ihre warmherzige Freundin, die da sprach! „Bist du eifersüchtig? Oder würdest du mir mein Glück nicht vergönnen, falls Julian doch der Richtige ist?“, fragte Nele patzig.

„Nein, ganz bestimmt nicht. Ich möchte dich nur vor einem weiteren großen Fehler bewahren. Ja, es klingt hart, aber ich würde es in Erwägung ziehen, dass es immer noch sein könnte, dass er nicht alle Tassen im Schrank hat. Weißt du nicht mehr, was damals vorgefallen ist?“, seufzte Martha ehrlich besorgt.

Nele starrte auf ihre Fingernägel und piepste kleinlaut: „Doch. Er hat mich eine Stunde in sein Kinderzimmer gesperrt, weil ich ihm gesagt habe, dass ich nicht mit ihm zusammen sein kann.“

„Da siehst du es. Das ist nicht normal“, ermahnte Martha sie.

„Aber er hat sich hundert Mal entschuldigt. Außerdem waren wir fast noch Kinder“, rechtfertigte sich Nele.

„Wie du meinst, ich habe dich gewarnt“, sagte Martha mit strengem Blick. Damit war das Thema Julian für diesen Tag abgehakt. Doch das ungute Gefühl in Neles Herzen war ein Stück weit gewachsen. Hatte ihre Freundin doch recht? Sie wusste nicht mehr, was sie glauben sollte.

Zwei Tage später gab es die nächste Überraschung. Lisa rief Nele aufgeregt in der Pfarre an und berichtete, dass ein Aushilfspriester für die Pfarrgottesdienste und ein paar weitere seelsorgliche Pflichten heute noch zu ihr kommen würde, um Lisas Mutterschutz zu überbrücken. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es immer geheißen, dass kein Personal für die Vertretung zur Verfügung stünde.

Na gut, dann musste sich Nele nun neu arrangieren, damit der Geistliche seine Arbeit machen konnte und sie ihm nicht in die Quere kam. Leise schickte sie ein Stoßgebet zu Gott, er möge einen aufgeschlossenen, offenen Priester schicken und keinen verbohrten, der die Zusammenarbeit erschweren würde.

Als es am späten Vormittag dann an der Tür klopfte, meldete sich Nele laut mit einem einfachen: „Herein!“

Als der Geistliche den Raum betrat, blieb Nele unbeabsichtigt der Mund offenstehen. Damit hatte sie nicht gerechnet, vor ihr stand ein junger, dunkelhaariger und hübscher Mann, der höchsten fünf Jahre älter war als sie selbst. Er passte keineswegs in das Bild, das Nele bislang von Priestern hatte. Alle, die sie bis jetzt kannte, waren mindestens über fünfzig Jahre alt.

„Ich bin Pater Nikolaos“, stellte sich der junge Mann schüchtern vor. Nele, die erst jetzt bemerkte, dass sie den Geistlichen peinlich anstarrte, ohne ein Wort zu sagen, löste sich aus ihrer unpassenden eingefroren wirkenden Körperhaltung, gab ihm höflich die Hand und nannte freundlich ihren Namen. Lächelnd und sichtlich erleichtert, dass Nele doch noch reagiert hatte, fügte er hinzu: „Ich bin der Aushilfspriester, ich soll einige Aufgaben der Pastoralassistentin übernehmen, die gerade ein Baby bekommen hat.“

 

Nele schoss der Gedanke in den Kopf, dass sein Akzent irgendwie süß war. Schnell ermahnte sie sich innerlich, dass man über einen Geistlichen nicht so dachte. Trotzdem fragte sie: „Woher kommen Sie? Also, woher stammt Ihr Akzent?“

„Ich komme ursprünglich aus Griechenland. Darf ich Ihnen das Du anbieten? Es ist mir lieber, weil es persönlicher ist“, sagte er förmlich.

„Ja natürlich. Ich bin Nele.“

Dann zeigte sie ihm das Pfarrheim und die Kirche, damit er seine Arbeit aufnehmen konnte. Sie erklärte die wichtigen und weniger wichtigen Details, wie immer war sie nervös, wenn etwas neu war. Pater Nikolaos machte es Nele aber leicht, seine ungezwungene und lockere Art beeindruckte sie. Er erzählte ihr sogar eine Geschichte über die heilige Lucia, deren Darstellung sich in einem Seitenaltar der Kirche befand. Die Legende über die Lichtbringerin, die schon in so jungen Jahren die Armen versorgte, Trost spendete und ihnen Gottes Wort nahebrachte, beeindruckte Nele noch mehr. Der Priester konnte so lebendig erzählen, dass die Botschaft der Geschichte direkt ins Herz ging. Das war eine Gabe, die ihn sicher zu etwas ganz Besonderem machte. Nele konnte sich vorstellen, dass die Menschen, die hier wohnten, ihn sehr gernhaben würden.

Und Nele behielt recht, Nikolaos begeisterte bereits in den wenigen Tagen, die er da war, die Pfarre und deren Mitglieder. Er war warmherzig und hörte den Menschen zu, ehe er mit seinen guten Worten Zuwendung und Vertrauen schenkte. Dadurch wurde er bei den meisten mit offenen Armen empfangen. Die paar, die ihn noch argwöhnisch anblickten, würden sich auch noch an seine Anwesenheit gewöhnen, da war sich Nele ziemlich sicher. Sie selbst hatte endlich jemanden gefunden, der ihr Gottes Gegenwärtigkeit in ihrem Leben sehr bildhaft erklären konnte. Sie verbrachte gerne Zeit in seiner Nähe, um ihm zu helfen, sich einzuleben, denn sie profitierte selbst davon. Sogar ihre Söhne fanden den neuen Priester cool. Nur die Tatsache, dass Nikolaos sehr hübsch war, irritierte Nele. Deshalb war sie mehr als erleichtert, als es endlich zum Date mit Julian kam.

Das Zusammentreffen mit Julian lief im Großen und Ganzen gut. Nele war bei ihm zu Hause in seiner prunkvollen Villa. Er hatte sie im Vorfeld gebeten, einen Bikini mitzubringen. Und so sonnten sie sich gemeinsam am Pool, tranken Cocktails und gingen im lagunenartigen Blau schwimmen. Im Wasser benahmen sich die beiden albern, bespritzen sich gegenseitig mit Wasser und begannen, wie Jugendliche zu rangeln.

Plötzlich drückte Julian Nele an sich und küsste sie. Nele freute sich über diese zärtliche Berührung, dieses Mal sprach ja nichts dagegen. Doch die Begeisterung war von kurzer Dauer, denn Julians Hände wanderten gleich zu ihren Brüsten und er flüsterte ihr ins Ohr: „Ich will mit dir schlafen.“

Nele löste die Umarmung und erwiderte: „Julian, das geht mir zu schnell.“

Unvermittelt schrie er hysterisch los: „Was soll das? Küssen lässt du dich und dann machst du einen Rückzieher?“

Nele starrte ihn schockiert an, seine Reaktion war eindeutig überzogen.

Julians Miene hellte sich aber wieder auf, reumütig gestand er: „Entschuldigung, Nele, das war dumm von mir. Mein Stress in der Arbeit steigt mir viel zu sehr zu Kopf. Ich hatte heute schon einen schrecklichen Tag. Natürlich darfst du das Tempo bestimmen.“

Nele war hin- und hergerissen, als er sie erneut vorsichtig küsste. Aber dieses Gefühl auf ihren Lippen, das sie seit Jahren nicht gespürt hatte, entfachte die Sehnsucht in ihrem Herzen nach Zuneigung und zärtlicher Nähe. So ließ sie ihn gewähren, verzieh ihm innerlich seinen eigenartigen Wutausbruch. Doch das ungute Gefühl, das sich in ihr ausgebreitet hatte, fand trotzdem weitere Nahrung und war keinesfalls aufgehalten.

Pater Nikolaos überraschte Samuel und Jonas mit einem Ausflug zu einem Fußballspiel. Die Jungen freuten sich riesig und ihre Mutter war glücklich, dass sie es im Vorfeld dem Priester erlaubt hatte, ihre Jungs mitzunehmen. Er kümmerte sich rührend um die beiden. Sie schlossen ihn sofort in ihr Kinderherz, da sie endlich ein männliches Vorbild hatten, welches ihnen seit dem Tod ihres Vaters so sehr gefehlt hatte. Nele freute dieser Anblick, wie sehr hatten ihre Söhne es verdient, dass es ihnen gut erging nach alledem, was sie in der Vergangenheit hatten durchmachen müssen, als sie ihren Vater verloren.

Nele fuhr inzwischen zu Julian, um mit ihm zu sprechen. Die Zweifel, dass sie die Finger von ihm lassen sollte, verstummten nicht in ihr. So löcherte sie ihn mit Fragen, die er charmant und zuvorkommend beantwortete. Er küsste sie erneut und die Hoffnung auf ein Happy End keimte in Nele wieder auf. Er versprach sogar, sie nie wieder zu bedrängen. Fröhlich machte sie sich auf den Nachhauseweg und wischte die übrig gebliebenen Zweifel weg. Vielleicht konnte es wirklich sein, dass sie einfach einmal Glück hatte.

In Neles Garten wurde gegrillt, als sie zu Hause ankam, ihre Söhne und Nikolaos schrien lautstark und euphorisch: „Überraschung!“

Und der Priester fügte noch hinzu: „Die gemeinsame Zeit beim Fußballspiel war so kurz, jetzt dachten wir, dass ein gemeinsamer Grillabend nett wäre. Ich hoffe, du freust dich.“

„Und wie!“, strahlte Nele übers ganze Gesicht.

Gemeinsam mit ihren Jungen deckte sie den Tisch und stellte ein paar dekorative Kerzen dazu, die herrlich dufteten, als man sie entzündete. Das gesellige Essen war kurzweilig und lustig. Sie hielten sich die Bäuche vor Lachen. Die vier hatten fast den Anschein einer glücklichen Familie. Wenn man nicht wusste, dass Nikolaos Priester war, würde man ihn als Außenstehender in diesem besonderen Moment für den Familienvater halten.

„Gibst du mir den Salat?“, bat der Priester. Als Nele ihm die Schüssel reichte, berührten sich zufällig ihre Finger. Es war elektrisierend und steigerte sich zu einem warmen, wohligen Empfinden auf Neles Haut. Sie schämte sich in Gedanken für ihre unpassenden Gefühle. Schließlich hatte er ein Gelübde abgelegt. Trotzdem sollten dieser idyllische Abend und Nikolaos selbst ihr in den nächsten Tagen nicht mehr aus dem Kopf gehen.

Der Traum von Peristera kehrte zurück. Wieder stand Nele in der mittelalterlichen Kirche und beobachtete die Frau, als sie die Inschrift am Altar anbrachte. Die Männer zerrten Peristera wenig später gewaltsam hinaus, die Schreie der johlenden Menschenmenge drangen abermals in das heilige Gemäuer und hallten von den Wänden hernieder. Nele zog es nach draußen, um die Errettung vom Scheiterhaufen durch den Engel zu sehen. Aber kurz hielt sie inne und entschied sich doch anders. Sie ging zum Altar und sah zum ersten Mal klar die fremdartigen Zeichen vor sich, die Peristera in den Stein geritzt hatte. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund verstand Nele, was dort stand, obwohl sie sicher war, diese Sprache nicht gelernt zu haben. Nele, die Liste bringt dir kein Glück. Nikolaos ist deine Bestimmung, stand dort geschrieben. Vor Schreck taumelte sie zurück und fiel – das war unmöglich.

Schreiend wachte sie auf, ihr Herz raste. Keuchend versuchte Nele, zur Besinnung zu kommen. Was sollte das? So etwas konnte und durfte nicht sein, was sich ihr Unterbewusstsein da über alle Maßen Verrücktes ausmalte. So tat sie den Traum als Hirngespinst ab, etwas anderes war einfach nicht vorstellbar. Anscheinend war sie doch noch verwirrter, als sie angenommen hatte. Schließlich hatten sich viele Glücksmomente in ihrem Leben eingestellt.