Worte verletzen ... und Schweigen tötet

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„Einen Versuch ist es allemal wert. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“, ermahnte sich Nele selbst und sprach es laut aus, um nicht gleich wieder das Handtuch zu werfen. Außerdem würde in Kürze Martha, eine gute Freundin, eintreffen, um die Jungen zu hüten, während Nele unterwegs war auf ihrer selbst gewählten Mission, einen neuen Partner zu finden. Es gab jetzt kein Zurück mehr, wenn Nele in Zukunft nicht mehr allein sein wollte. Natürlich musste sie sich innerlich auf Rückschläge gefasst machen, aber das war immer noch besser, als weiterhin zu Hause zu sitzen und Däumchen zu drehen.

Da klingelte es auch schon an der Tür. Samuel und Jonas stürmten umgehend auf Martha los, als sie eintrat, und begrüßten sie überschwänglich. Als die Freude der Jungen sich etwas gelegt hatte, hielt die Freundin Nele noch kurz auf und bat sie um ein Gespräch unter vier Augen.

„Bist du dir sicher, dass es richtig ist, deinen Jugendschwärmereien hinterherzujagen? Die werden doch alle selbst bereits Frau und Kinder haben“, gab Martha zu bedenken.

„Ja, das kann natürlich sein. Ich muss mir gut überlegen, was ich sage, um keinen Unfrieden in eine bestehende Familie zu bringen, denn das will ich auf keinen Fall. Aber ich möchte es versuchen, es gab ja damals immer einen Grund, warum mir diese Männer gefielen, bevor ich Jan kennenlernte. Es ist mir klar, dass es eigentlich aussichtslos ist, aber irgendetwas sagt mir, der Vernunft zum Trotz, dass ich es versuchen sollte“, erklärte Nele mit Nachdruck, um endlich gehen zu können, ehe sie der Mut komplett verließ, denn sie war sich selbst nicht sicher, wie schlau ihr Vorhaben tatsächlich war.

„Dein Wort in Gottes Ohr“, verdrehte Martha die Augen, sie machte sich ernsthaft Sorgen, was auch irgendwie süß war.

Nele kannte außerdem Marthas Ansicht, die besagte, man wäre ohne Mann besser dran im Leben. Aber was wusste ihre Freundin in der Hinsicht schon? Sie hatte noch nie den Richtigen an ihrer Seite. Sie wusste nicht, wie sich wahrhafte und aufrichtige Liebe anfühlte. Genauso hatte sie es mit Jan erlebt und diese enge Vertrautheit zu einem Menschen vermisste Nele schmerzlich. Sie wusste zwar selbst nur zu gut, dass es eine Utopie war, zweimal im Leben so intensiv zu lieben, denn Jan war für sie nicht ersetzbar. Aber vielleicht war das auch nicht nötig, wenn man einen vertrauenswürdigen und liebevollen Mann als Partner hatte, vielleicht reichte es dann aus, sich zu respektieren, um gut und gewinnbringend gemeinsam durchs Leben zu gehen.

Nele saß im Auto und klopfte ungeduldig mit den Fingern aufs Lenkrad, während sie fuhr. Der Abschied von ihren Söhnen und Martha lag erst eine Stunde zurück. Der Regen prasselte lautstark auf das Blech des Wagens. Sie stellte die Scheibenwischer auf die höchste Stufe ein. Trotzdem kam sie nur im Schneckentempo voran, weil es wie aus Kübeln goss und das Wasser auf der Straße stehen blieb.

Sie hatte in letzter Zeit sorgfältig im Internet recherchiert, um die richtigen Adressen herauszufinden von den Männern, die einst ihre Jugendlieben waren. Alle hatten sie ein Merkmal gemeinsam, nämlich das, dass Nele für sie einst geschwärmt hatte. Sie glaubte, dass sie möglicherweise noch heute etwas für einen dieser potenziellen Kandidaten empfinden könnte, zumindest hoffte sie das inständig. Ihr Vorhaben war es, einfach unangemeldet vor der Tür zu stehen, um sich einen vorläufigen Eindruck des Lebensstils und der Lebensumstände der jeweiligen Person machen zu können. So würde sie, wie sie sich einredete, am schnellsten herausfinden, ob derjenige für sie geeignet sein könnte. Sie war sich bewusst, wie vorsichtig sie sein musste, um eine eventuell vorhandene Familie nicht in eine unnötige Streitsituation zu versetzen. Sie wollte auf keinen Fall eine Beziehung zerstören, er musste auf jeden Fall Single sein. Und das galt es, als Erster herauszufinden, um einen schnellen, höflichen Abgang hinlegen zu können, wenn dem nicht so war. Das galt natürlich auch für den Fall, dass sie den Eindruck hatte, dass etwas mit dem Typen nicht stimmte, womit sie im wahrscheinlichsten Fall rechnen musste. Schließlich wurden Macken aus der Jugendzeit bekanntlich nicht besser, dessen war sie sich bewusst.

Der erste Mann, den sie nun im Begriff war, zu besuchen, war ihre größte Jugendliebe, an ihn hatte sie sofort denken müssen, als sie ihren fast wahnwitzigen Plan ausgeheckt hatte, wieder einen Mann fürs Leben zu finden. Sie waren damals ein ganzes Jahr ein Paar gewesen, er war auch der einzige Junge, mit dem sie vor ihrem Ehemann das Bett geteilt hatte, was am Anfang Probleme in ihrer jungen Ehe bereitet hatte, weil Jan eifersüchtig reagierte auf ihren verflossenen Ex-Freund. Sein Name war Philipp und er wohnte praktischerweise immer noch in dem Haus seiner Eltern, denn dort war Nele früher öfter zu Besuch und durfte auch bei ihm übernachten.

Mit gemischten Gefühlen fuhr sie nun die Einfahrt hoch und fragte sich, ob es überhaupt möglich war, ihn wieder zu lieben, wenn man überhaupt von Liebe reden konnte, schließlich war sie damals sehr jung und, im Nachhinein betrachtet, eigentlich nur schwärmerisch verliebt. Schnell wischte sie den abhaltenden Gedanken weg und stieg entschlossen aus dem Auto. Sie rannte die paar Meter bis zur Haustür, um nicht klatschnass zu werden, der Regen hatte in der Zwischenzeit kaum nachgelassen. Erleichtert stellte sie fest, dass Philipp eine eigene Türglocke besaß, was dafürsprach, dass er nicht mehr in seinem alten Kinderzimmer hauste. Ein Muttersöhnchen konnte sie echt nicht gebrauchen. Zitternd drückte sie auf die Klingel und wartete nervös trippelnd und händereibend, dass jemand öffnete. Erneut ergriff Nele die Panik, das war doch eindeutig die dümmste Idee ihres Lebens. Sie sollte, so schnell es ging, wieder verschwinden, ehe es zu spät war. Abrupt drehte sie auf der Türschwelle um, um sich aus dem Staub zu machen. Aber genau in diesem Moment öffnete jemand die Haustür und begrüßte sie unwirsch. Es war Philipp – und er war nicht erfreut sie zu sehen.

Nele rutschte das Herz in die Hose. „Hallo, Philipp, ich bin es, Nele“, stotterte Nele trotzdem zur Begrüßung.

Auf einmal hellten sich die Gesichtszüge ihres Gegenübers auf und Philipp lächelte. „Entschuldigung, ich habe dich nicht erkannt. Ich dachte, du wärst einer dieser lästigen Vertreter, die von Haus zu Haus gehen und die man schwer wieder unterbricht, wenn sie ihr Verkaufsgespräch einmal gestartet haben“, sagte er freundlich.

Nele musterte ihn unbewusst. Er trug einen eleganten dunkelblauen Anzug und ein modernes weißes Hemd, er wirkte sehr gepflegt und war attraktiver, als sie ihn in Erinnerung hatte. Irgendwie beschlich Nele das Gefühl, dass er nicht allein sein konnte, so ein Mann war doch niemals im Leben Single. So einer hatte sicher die Auswahl unter den verschiedensten Frauen und war dadurch bestimmt seit Jahren glücklich verheiratet. Weiter kam sie mit ihren Gedanken nicht, denn Philipp bat sie, hereinzukommen, sie zögerte einen kurzen Moment, wollte dann aber nicht unhöflich sein und folgte ihm.

Er führte Nele in seine geschmackvolle Dachgeschosswohnung, die er sich vor vielen Jahren ausgebaut hatte, wie er ihr ungefragt erzählte. Alles war sehr modern eingerichtet – mit einem schräg erscheinenden Schwerpunkt auf kunstvolle, bizarre Skulpturen. Nele suchte fieberhaft nach einem eindeutigen Hinweis für eine bestehende Beziehung, aber nichts deutete darauf hin, kein Gegenstand war zu erkennen, der einer Frau gehören könnte. „Bist du Single?“, platzte Nele heraus.

„Ja, ich wohne hier allein“, antwortete Philipp und bat seinem Gast höflich einen Sitzplatz auf der Couch an.

Während er in der Küche verschwand, um den Kaffee zuzubereiten, den er angeboten hatte, sah sich Nele die Fotos im Raum an. Es waren fast ausschließlich Porträts von Philipp. Nele beschlich leise das ungute Gefühl, dass er sehr selbstverliebt sein könnte. Soweit sie sich erinnerte, war das damals schon ein Problem zwischen ihnen gewesen, weil er zur Selbstdarstellung neigte. Wahrscheinlich sollte sie einfach wieder gehen, vielleicht konnte sie sich noch rausschleichen. Da kam er aber schon mit dampfendem Kaffee und reichte Nele eine Tasse, die sie trotz ihrer Nervosität dankbar annahm.

„Was machst du hier?“, erkundigte sich Philipp.

Nele atmete tief durch, sie wollte ehrlich sein: „Mein Ehemann ist vor zwei Jahren gestorben. Es war eine harte Zeit mit meinen beiden Kindern. Ich hatte das Bedürfnis, eine Reise durch meine eigene Vergangenheit zu machen.“

„Du hast Kinder? Bewundernswert, das wäre nichts für mich“, beteiligte sich Philipp am Gespräch.

Nele hakte diesen Besuch bereits innerlich als erledigt ab, wenn er keine Kinder mochte, war er eindeutig der Falsche. Ihre Jungen waren das Wichtigste in ihrem Leben und brauchten dringend einen Stiefvater, der für sie da war.

„Was machst du so?“, fragte Nele trotzdem noch höflich.

„Ach, ich arbeite als Manager im Entertainmentbereich“, kam betont angeberisch zurück.

„Und privat?“, legte Nele neugierig noch eines drauf.

„Ich lebe das Leben, wie es kommt. Das gilt bei mir auch für Frauen, wenn du deshalb da bist“, zwinkerte Philipp ihr zu.

Nele fühlte sich nun endgültig unbehaglich, aber jetzt wollte sie den Rest auch noch erfahren, wenn sie schon einmal hier war, denn sie würde gewiss nicht wiederkommen. Skeptisch fragte sie: „Wie meinst du das?“

„Na ja, du bist eine hübsche Frau. Ich hätte Lust auf Sex mit dir. Wenn du möchtest, könnten wir uns ja gemeinsam vergnügen. Ich glaube, ich habe sogar noch etwas Kokain da, das würde die kurzweilige Unterhaltung noch um einiges intensiver machen“, flüsterte Philipp in einem eingeübten verführerischen Ton, wie ihn Weiberhelden wie er perfekt beherrschten.

 

Das war Nele eindeutig zu viel. Was war aus dem netten Jungen geworden, mit dem sie damals zusammen gewesen war? Irgendwie musste sie die Kurve kratzen, denn dieses eindeutige Angebot zu einmaligem Sex war eindeutig nicht ihr Ding. Und Drogen gingen gar nicht. Sie musste einen Weg finden, um höflich einen Abgang zu machen.

„Philipp, ich wollte eigentlich nur wissen, wie es dir geht. Ich habe kein Interesse an Sex mit dir“, sagte sie schließlich betont höflich, aber eindeutig.

„Macht nichts, ich finde sicher noch eine andere Frau heute, die mit mir das Bett teilt“, sagte er erklärend, als wäre es das Normalste der Welt, und zuckte mit den Achseln.

Nele blieb der Mund offenstehen. Hatte er das wirklich in ihrer Gegenwart gesagt? Sie konnte es nicht fassen. Das war der Punkt, an dem sie endgültig verschwinden musste. Sie bedankte sich noch halbherzig für die Gastfreundschaft, ehe sie eilig die Wohnung verließ und mit ihrem Auto schnell davonfuhr. Innerlich ärgerte sie sich, vielleicht wäre es besser gewesen, nicht zu erfahren, was aus Philipp geworden war – ein selbstverliebter, vergnügungssüchtiger Casanova. So einer würde Nele niemals ins Haus kommen. Angewidert versuchte sie verkrampft, auf andere Gedanken zu kommen. Aber das war gar nicht so leicht, denn auf einmal kam ihr in den Sinn, warum Philipp in ihrer Jugendzeit mit ihr Schluss gemacht hatte – wegen einer anderen. Langsam wunderte es Nele nicht mehr ganz so heftig, warum er sich in diese Richtung entwickelt hatte. Aber egal, einen Mann auf ihrer Liste konnte sie schon abhaken, das war eindeutig ein Reinfall gewesen.

Nele parkte bei einem Pizza-Imbiss, um an einem der Stehtische ein Stück Schinkenpizza mit Champions zu essen. Das Ganze spülte sie mit einer Cola hinunter. Kauend hegte sie wieder Zweifel, ob dies überhaupt der richtige Weg war, um einen Mann fürs Leben zu finden. Sollte sie vielleicht doch aufgeben? Nein, nur weil die erste Begegnung ein massiver Rückschlag war, durfte sie jetzt nicht das Handtuch werfen. Sonst würde sie sich ewig vorwerfen, es nicht probiert zu haben. Sie wusste von Anfang an, dass wenig Chance auf Erfolg stand, aber sie musste es weiter versuchen, um es eindeutig zu wissen. Entschlossen stieg sie wieder ins Auto und setzte ihren Weg fort.

Der zweite Mann auf der Liste war Paul, eine unerwiderte Liebe oder – besser gesagt – Schwärmerei von Nele aus sehr jungen Jahren. Er war vor langer Zeit fast drei Jahre mit ihrer älteren Cousine Magdalena liiert gewesen. Im stillen Kämmerlein hatte Nele ihn heimlich bewundert, ohne es ihm gegenüber jemals laut auszusprechen. Wahrscheinlich war diese Unerreichbarkeit damals sogar bewusst gewählt, denn sie war noch viel zu jung für echte Erfahrungen, ein kleines Mädchen, das keine Ahnung von der großen, weiten Welt hatte. Diese Gefühlsduselei war angesiedelt in der Zeit zwischen Kindheit und Jugendzeit. Eigentlich war Paul mehr wie ein großer Bruder für Nele, der mit ihr, natürlich gemeinsam mit ihrer Cousine, spielte. Es brach ihr damals das Herz, als die Beziehung zwischen den beiden zerbrach, denn ab diesem Zeitpunkt war Paul nicht mehr da und sie konnte ihn nicht mehr im Geheimen anhimmeln. Jetzt, da Nele erwachsen war, musste sie selbst grinsen über diesen kindlichen Herzschmerz einer Heranwachsenden, wie sie es damals gewesen war.

Nele bog zum schmucken Dorfplatz der überschaubaren Marktgemeinde ein, in der sie sich gerade befand. Hier waren bunte, mehrstöckige Wohnhäuser, die italienischem Baustil ähnlich waren. In einem davon sollte Paul heute wohnen. Sie parkte am Straßenrand und stieg zaghaft aus. Nele atmete tief durch, strich ihr Kleid glatt und begab sich zu der Türklingel, auf der sie Pauls Namen fand, und drückte sie diesmal etwas entschlossener. Im ersten Moment erkannte Nele Paul gar nicht, als er ihr mit Vollbart und sichtlich ungepflegt die Tür öffnete. „Paul?“, fragte sie unsicher.

„Nele, bist du es wirklich?“, grinste er wie ein Honigkuchenpferd.

„Ja, ich wollte dich besuchen“, sagte sie sichtlich verlegen. Sie wusste gar nicht, wie sie ihm ihre Anwesenheit erklären sollte. „Darf ich hereinkommen?“, ergänzte sie noch.

„Ja, natürlich. Es ist halt nicht aufgeräumt, Besuch hatte ich nicht erwartet. Magst du etwas zu trinken?“

„Gerne, ein Glas Wasser bitte!“ Nele folgte ihm in die Küche. Nicht aufgeräumt war deutlich untertrieben, das Geschirr von mehreren Tagen stapelte sich neben der Spüle. Der Esstisch bot gerade noch genügend Freiraum, dass sich eine Person setzen konnte, deshalb räumte Paul hastig ein paar Dinge weg, um weiteren Platz zu schaffen.

Das Gespräch, das nun folgte, war durchaus nett, aber Nele fand dabei heraus, dass Paul nicht auf eigenen Beinen stand. Seine Eltern waren die Gönner seines Lebensstils. Seine einzige Beschäftigung war ein Internetcomputerspiel, tagein und tagaus. Paul ging praktisch nie vor die Tür, was sein mitleiderregendes Aussehen erklärte, aber das sagte Nele ihm natürlich nicht laut ins Gesicht. Essen erhielt er von den verschiedenen Lieferservices. Mutter und Vater schickten ihm einmal in der Woche eine Haushälterin, die das Notwendigste zusammenräumte, putze, Wäsche wusch und Besorgungen machte. Ansonsten hatten seine Eltern ihn komplett links liegen gelassen, sie waren enttäuscht von ihrem Sohn. Aber sie waren zu schwach, um ihm den Geldhahn und die Unterstützung zuzudrehen, schließlich war er ihr einziges Kind. Und Kind war auch die passende Bezeichnung, denn erwachsen war Paul eindeutig nicht geworden. Aber er dachte gar nicht daran, etwas zu ändern, gab selbst zu, dass er trotzig seinen Eltern gegenüber handelte. Paul tat Nele irgendwie leid, sie mochte ihn. Aber sie verstand nicht, wie man so leben konnte – einsam in einer Scheinwelt, abgeschnitten von der gesamten Außenwelt.

„Du siehst nicht sehr gepflegt aus“, wagte sie sich doch noch vor, auch wenn es unhöflich war.

„Ich weiß, es macht für mich keinen Sinn, zum Friseur zu gehen. Für wen denn? Es bekommt mich kaum jemand zu Gesicht“, antwortete er sichtlich geknickt.

„Komm, du steigst jetzt unter die Dusche und wenn du fertig bist, schneide ich dir die Haare und rasiere dir diesen unmöglichen, langen Bart ab. Was sagst du dazu?“, fragte ihn Nele hilfsbereit.

„Das ist sehr freundlich von dir, ich bin es gar nicht mehr gewöhnt, dass es jemanden kümmert, was mit mir los ist“, sagte Paul dankbar.

Gesagt, getan.

Bei ihren Gesprächen über gemeinsame Erinnerungen aus vergangenen Tagen verwandelte Nele Paul wieder in einen herzeigbaren Menschen. Es dauerte eine Weile, bis die vielen überschüssigen Haare am Kopf und im Gesicht gefallen waren. Als sie damit fertig war, war sie selbst überrascht, wie attraktiv er war. Paul bemerkte ihre Unsicherheit, nutze den Moment aus und umarmte Nele herzlich. Ihr blieb der Atem weg, als seine Lippen sich an die ihren näherten. Nele kämpfte mit sich selbst, sie sehnte sich nach einer innigen Berührung, zu lange war es her, dass sie Nähe spüren durfte. Aber da kamen ihr ihre beiden Söhne in den Sinn. Nein, sie durfte das nicht zulassen. Paul war nett, aber er hatte sein Leben nicht im Griff. Mit ihm wäre es, als müsste sie ein weiteres Kind versorgen und dazu reichte weder ihre Ausdauer noch ihre Energie. So drehte sie den Kopf zur Seite und ließ zu, dass er ihre Wange freundschaftlich küsste.

„Tut mir leid, ich kann das nicht. Ich finde dich sehr sympathisch, aber mehr kann ich mir nicht vorstellen zwischen uns“, entschuldigte sich Nele.

„Ja, du hast recht. Vielleicht sollte ich wirklich irgendwann mein Leben auf die Reihe bringen, sonst wird sich auch weiterhin keine Frau für mich interessieren“, seufzte er enttäuscht.

Irgendwie bezweifelte Nele, dass Paul selbst seinen eigenen Worten Glauben schenkte. Auch wenn sie es ihm von Herzen wünschte, war das wahrscheinlich ein leerer Vorsatz, seine Gewohnheiten waren zu festgefahren. Sie bedankte sich aufrichtig für das gute Gespräch und verabschiedete sich. Es war schade, dass so einem netten Mann der Antrieb fehlte, aus seinem Leben etwas zu machen. Das Mitgefühl für Paul begleitete sie, als sie ging.

Nele starrte liegend an die Decke. Langsam hatte sie das Gefühl, sich in ihrer Vergangenheit nur in Versager verliebt zu haben, obwohl zwei Personen natürlich nicht stellvertretend für die Männerwelt stehen konnten. Ihr war nach diesen Enttäuschungen umso deutlicher bewusst, wie sehr sie mit ihrem Ehemann Jan verbunden war – in allen Bereichen ihres Lebens. Sie vermisste ihn schmerzlich, als sie an diesem Abend im Bett lag. Sie hatte sich in einer kleinen Pension ein Zimmer genommen, um ihre ungewöhnliche Tour am nächsten Tag fortsetzen zu können. Es war leichter, jetzt nicht in den Alltag zurückzukehren, sonst würde Nele ihr Vorhaben mit Sicherheit abbrechen. Über diesen Gedanken schlief sie ein und träumte erneut von Unglaublichem.

Nele stand wieder in der erstaunten Menschenmenge, die sich betend und ehrfürchtig niedergekniet hatte. Kurz zuvor hatten sie noch tobend den Tod der vermeintlichen Hexe Peristera gefordert. Von dem Engel, der sie vor wenigen Augenblicken gerettet hatte, oder Peristera selbst war nichts mehr zu erkennen am Himmel. Nur ein unnatürliches, schwach leuchtendes Licht war am Firmament geblieben, entschwand dann langsam, aber sicher in der Höhe, ehe es stockfinster war. Nele erinnerte sich an diese Szene, denn sie war in ihren Träumen schon hier gewesen.

„Die Inschrift“, schoss es Nele unerklärlich durch den Kopf. Sie schaute sich zögernd um und zog langsam schleichend den Rückzug an. Doch keiner achtete auf Nele, denn die Leute konnten immer noch nicht glauben, was sie Fantastisches gesehen hatten. Keiner traute sich, etwas zu sagen, sonst hätten sie die niederschmetternde Vermutung anstellen müssen, dass sie beinahe eine Heilige verbrannt hätten, wenn sich sogar der Himmel für sie öffnete und einen strahlenden Boten Gottes schickte, um diese außergewöhnliche Frau zu retten.

Wenn sich Nele recht an den Geschichtsunterricht über das Mittelalter erinnerte, würde jeden der hier Anwesenden über kurz oder lang die Angst überfallen für das, was er in dieser Nacht getan hatte, ewig in der Hölle zu schmoren. Aber darüber wollte Nele nun nicht weiter nachdenken, sie musste in die Kirche zurück, um die Inschrift zu lesen, die Peristera am Altar angebracht hatte. Sie schlich sich davon, kaum war sie außer Sichtweise, eilte sie zurück in das kalte Gemäuer. Schnell erreichte sie mit hastigen Schritten den Altar und wollte sich gerade bücken, um die Buchstaben zu entziffern, die Peristera hier eingraviert hatte, ehe die Männer sie gewaltsam nach draußen gezerrt hatten, um sie am Scheiterhaufen zu verbrennen.

Ein Hundebellen weckte Nele unsanft mitten in der Nacht. Im ersten Moment wusste sie gar nicht, wo sie war, ihre Gedanken hingen immer noch bei der Inschrift, die Peristera im Traum in den Altar geritzt hatte. Es wurmte Nele, nicht zu wissen, was diese scheinbar besondere Frau der Nachwelt hinterlassen wollte. War es doch von Bedeutung, weil der Traum wiedergekehrt war? Wahrscheinlicher war, dass das alles nur ein Hirngespinst und nicht sonderlich bemerkenswert war. So wischte Nele den Gedanken weg, aber es blieb Unsicherheit in ihrem Herzen zurück, eine leise Ahnung, dass das Ganze etwas mit ihr selbst zu tun haben könnte.

Nele blickte sich bewusst im Zimmer um, jetzt kam ihr wieder in den Sinn, wo sie war, in dem schäbigen Motel, um ihre Suche nach einem geeigneten Mann möglichst schnell fortführen zu können. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es erst vier Uhr morgens war. Erschöpft versuchte sie, wieder einzuschlafen, aber sie war zu aufgewühlt dafür. Langsam verstrichen die Minuten, während sie auf den Morgen und die ersten Sonnenstrahlen wartete.

Mann Nummer drei auf Neles Liste hieß Manuel. Nach einem kargen Frühstück, bestehend aus Milchkaffee und einer Buttersemmel, machte sie sich abermals unsicher auf den Weg. Sie kannte Manuel aus ihrer damals ehrenamtlichen Arbeit, als sie noch selbst eine Jugendliche war. Nele war in der Pfarre aktiv und betreute gemeinsam mit Manuel Jungscharkinder. Sie waren die Gruppenleiter einer schwer zu bändigenden, aber herzlichen Rasselbande. Manuel war in Nele verliebt und versuchte mehrfach, sie zu erobern. Aber sie ließ ihn immer wieder abblitzen, was ihr jedes Mal ziemlich leidtat, denn sie mochte den Jungen sehr. Doch damals betrachtete sie ihn ausschließlich als guten Freund, schließlich arbeiteten sie Seite an Seite mit den Kindern. Außerdem waren Philipp und Nele zu dieser Zeit ein Paar, die Sympathie zu Manuel musste dadurch hinten angestellt bleiben. Wäre Philipp nicht gewesen, hätte Manuel wahrscheinlich eine Chance bei Nele gehabt. Aber vielleicht war es noch nicht zu spät. Es war an der Zeit, es herauszufinden.

 

Nele irrte mit dem Auto die Straße auf und ab, irgendwo hier musste doch das Geschäft sein, welches Manuel heute gehörte, aber sie fand es einfach nicht, das ärgerte Nele maßlos. Zum dritten Mal fuhr sie nun hier entlang, aber dieses Mal achtete sie genau auf die Hausnummern. Endlich, da war es, das Haus mit der Nummer 19. Nele wurde stutzig. Ja, hier war ein Geschäft, aber es war von außen fast komplett schwarz, ein weißer Totenkopf zierte mittig das dunkle Schaufenster. Darunter stand Tattoodesign.

Nele zuckte mit den Achseln, parkte den Wagen am Straßenrand, stieg aus und steuerte zielstrebig auf den Laden zu. Vorsichtig öffnete sie die Tür und trat ein. Erneut unsicher schaute sie sich um. An den Wänden hingen Tausende Fotos von kunstvollen Tätowierungen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Nele wunderte sich bei manchen, was Menschen dauerhaft auf ihrer Haut tragen wollten, vor allem, wenn es sich um unbeschreibliche Grausamkeiten handelte. Da gefielen ihr die harmlosen Tier- und Naturtätowierungen schon besser.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte höflich ein Mann, der scheinbar sein eigener bester Kunde war. Nele machte unbewusst einen Schritt zurück, denn die unzähligen Tattoos und Piercings, die dem Mann als bizarrer Körperschmuck dienten, schreckten sie innerlich ab. Wie konnte man sich nur selbst so verunstalten? Nele ermahnte sich innerlich, nicht so oberflächlich zu sein, und rief sich wieder ins Gedächtnis, warum sie eigentlich hier war.

„Ich suche nach dem Besitzer dieses Geschäftes. Sein Name ist Manuel“, wagte sich Nele wieder einmal mutig vor.

Der tätowierte Mann grinste, als er sprach: „Ich bin es, kennst du mich nicht mehr, Nele?“

Nele riss ungläubig die Augen auf. Vor ihr stand tatsächlich Manuel, sie hatte ihn wegen all der Farbe und dem Metall an seinem Körper nicht gleich erkannt. Geschockt brachte sie kein einziges Wort heraus. Doch Manuel merkte man die Wiedersehensfreude deutlich an, er trat zu Nele und umarmte sie stürmisch. Nele stand da wie eine erstarrte Salzsäule und rührte sich nicht vom Fleck. Verzweifelt versuchte sie, hinter die farbige Maskerade der Person vor ihr zu blicken und den Manuel zu sehen, den sie einst gekannt hatte. Sie wollte sich keineswegs von der inneren Schönheit ablenken lassen, aber von Manuels natürlicher Ausstrahlung war nichts übrig. Deshalb gelang es Nele auch nicht, sie schämte sich, schließlich hasste sie oberflächliches Gehabe und nun schaffte sie es selbst nicht, sich vom Erscheinungsbild eines Menschen nicht beeinflussen zu lassen.

Als sie sich etwas gefasst hatte, ließ sie sich von Manuel das Geschäft zeigen. Er war stolz auf das, was er tat. Er schwärmte von den vielen Menschen, die seine Kunden waren und immer wieder zu ihm, ihrem Tätowierer des Vertrauens, kamen. Eines musste Nele ihm aber eindeutig lassen, er ging sichtlich auf in seiner Arbeit und war ein Mann der leidenschaftlichen Taten. Der Laden brachte ihm ein solides Einkommen, das mehr als genug Geld für sein bescheidenes Leben war. Mehr als eine kleine Wohnung, Essen und etwas Kleidung brauchte er nicht zum Leben. Es war ihm Glück und Freude genug, wenn seine Kunden mit seiner kreativen Arbeit zufrieden waren.

Irgendwie blitzte im Gespräch doch etwas durch von dem früheren Manuel. Nele erkannte langsam wieder die guten Eigenschaften an ihm, die sie damals an ihm geschätzt hatte. Aber mehr als Freundschaft konnte sie sich nicht vorstellen mit diesem Mann, das war anscheinend auch nicht anders geworden seit ihrer Jugendzeit. Gut, dass er keine Ahnung hatte, dass dieser Spontanbesuch ein Auskundschaften ihrerseits war, denn er freute sich so, seine alte Freundin wiederzusehen.

„Nele, ich bin so froh, dass du da bist. Ich liebe dich immer noch. Wegen meiner besonderen Gefühle für dich konnte ich nie eine andere Frau in meinem Leben halten“, gestand Manuel aus heiterem Himmel. Mit diesen Worten machte er alle erleichterten Gedanken, die Nele sich zuvor zusammengereimt hatte, kaputt. Ihr Körper schaltete schlagartig auf Fluchtinstinkt um. Panisch sah sie sich selbst und ihre Söhne vor sich, alle drei vom Kopf bis zur Zehenspitze tätowiert.

„Aber wir hatten doch nie Kontakt zueinander“, erwiderte Nele.

„Ich weiß, ich hatte Angst, dass du mich wieder zurückweist, so wie du es damals so oft getan hattest“, sagte er ehrlich traurig.

„Manuel, das hat sich nicht geändert. Ich bin hier, weil wir einst so gute Freunde waren, aber mehr kann ich mir nicht vorstellen.“

Jetzt rannen dem hart wirkenden Kerl die Tränen über die Wangen. Wäre sie bloß nicht gekommen, sie hatte ja keine Ahnung, welche Hoffnungen sie damals in Manuels Herzen unbewusst gelegt hatte.

„Das wollte ich nicht, ich wollte dir nur eine Freude machen mit meinem Besuch“, gestand Nele.

„Du konntest das ja nicht wissen. Nele, bitte komm nicht wieder. Mein Herz hält das nicht mehr aus. Ich habe mich damit arrangiert, unglücklich in dich verliebt zu sein. Aber dich zu sehen und nicht haben zu können, würde mich wahnsinnig machen, bitte versteh das.“ Kaum hatte er die Worte gesprochen, drehte er sich weinend um.

Nele murmelte eine weitere Entschuldigung und verließ wie ein geprügelter Hund den Laden. Die Liste war eindeutig eine schwachsinnige Idee, so viel stand jetzt fest, sie wollte niemandem wehtun damit, aber genau das hatte sie nun geschafft. Erneut zertrat sie die Hoffnung, die sie selbst in ihr Herz gesät hatte. Sie zweifelte schon wieder, ob sie sich am richtigen Weg befand. Enttäuscht kehrte sie nach Hause zurück. Heute hatte sie eindeutig mehr erfahren, als sie wissen wollte.

Es war mittlerweile zwei Monate her, seitdem Nele den drei Männern von ihrer Liste einen Besuch abgestattet hatte. Es standen zwar weitere zwei Namen darauf, aber trotzdem lag das Stück Papier in einer Küchenlade wie ein unliebsam gewordener Gedanke, den man einfach wegsperrt, um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen.

Nele hatte gerade ganz andere Sorgen, ihre finanziellen Schwierigkeiten waren ihr über den Kopf gewachsen. Ihr Gehalt als Musiklehrerin reichte hinten und vorne nicht mehr aus, da sie wegen ihrer Söhne bis jetzt nur Teilzeit arbeitete. Aber ab sofort mehr in ihrem Job zu arbeiten, war unmöglich, denn mehr Stunden waren einfach nicht verfügbar. So sehr sie sich auch bemühte an einer anderen Musikschule zusätzlich unterrichten zu können, keiner stellte sie unter dem Schuljahr ein.

Nele war wieder wütend auf Gott, sie hatte ihn um Hilfe gebeten, aber nun reichte ihr das Wasser bis zur Kehle und sie stand immer noch ganz allein da. Was dachte er sich bloß dabei? Konnten nicht endlich bessere Zeiten für sie anbrechen? War das zu viel verlangt nach allem, was sie durchgemacht hatte?

Aus purer Verzweiflung sah sich Nele nun nach einem anderen Job um, der sich mit der Betreuung ihrer Kinder irgendwie vereinbaren ließ, aber das war gar nicht so leicht. Der entscheidende Tipp kam dann von ihrer Freundin Martha. Ausgerechnet in der Pfarre suchte man eine Haushälterin, da die Vorgängerin in Pension gegangen war. Nele beschloss, es einfach zu versuchen. Was hatte sie noch zu verlieren?

Mit mulmigem Gefühl betrat sie das Pfarrhaus, zu lange war sie nicht hier gewesen. Zaghaft klopfte sie an der Tür des Büros an.