Czytaj książkę: «Das Phänomen», strona 3

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5

Schon am frühen Morgen, kurz bevor die Zeiger sich auf dreiviertel sechs Uhr, ausstreckten, als würden sie den Tag mit einer komplizierten Yoga-Übung begrüßen, läutete Rosalies Handy. Schlaftrunken tastete sie danach und stieß das Wasserglas auf dem Nachttisch um, das zu ihrem Glück, leer war. Die tote Fliege, die am Boden des Glases gelegen hatte, lag nun auf dem weichen Holzboden neben den blauen Pantoffeln.

Als Rosalie das läutende Ungetüm gefunden hatte, war sie zumindest so weit wach, dass sie den Anruf entgegennehmen und nicht nur die leuchtenden Ziffern anstarren konnte.

„Frau Doktor, hier ist Frieda Elms. Meine Mutter atmet nicht mehr und sie ist ganz grau und kalt und…. Bitte kommen Sie schnell!“

Rosalie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und hoffte, damit auch den Schlaf mitzunehmen. „Frieda“, sagte sie in beruhigendem Ton. „Ihre Mutter hat vermutlich ihr Leiden hinter sich gebracht und ist nun an einem besseren Ort. Wir haben gestern darüber gesprochen, dass es nicht mehr lange dauern wird. Wir können

Dankbar sein, dass sie nicht mehr lange leiden musste. Sie hat ihr Leben gelebt und etwas ganz Wunderbares hinterlassen: Sie, ihre Tochter und zwei hinreißende Enkelkinder. Ich denke, sie ist in Frieden mit sich und der Welt gegangen.“

Eine Weile hörte es sich so an, als wäre nicht nur Friedas Mutter tot, sondern auch die Telefonleitung. Doch noch ehe Rosalie nachfragen konnte, ob da noch jemand sei, seufzte Frieda. „Sie haben recht, vielen Dank. Ich muss in Liebe loslassen.“

„Das ist gut. Bedanken Sie sich noch bei ihr und geben ihr ihren Seelenfrieden mit auf den Weg. Ich komme in einer Stunde vorbei um mich von ihr zu verabschieden und um die Formalitäten zu erledigen. Sie ruht jetzt in Frieden; lassen Sie sie gehen.“

Damit legte sie auf und warf einen Blick auf Taylor, der sie, auf seinen rechten Ellenbogen gestützt, liebevoll ansah.

„Womit habe ich nur eine so warmherzige Frau, die um sechs Uhr morgens diese mitfühlenden Worte findet, nur verdient?“

Rosalie lächelte. „Das hast du altes Ekel gar nicht, aber mich hat der Weihnachtsmann zu dir gebracht und deshalb bin ich verdammt, auf ewig bei dir zu bleiben!“

Taylor warf sich auf sie, doch sie wich geschickt aus und war auch schon aus dem Bett. „So gern ich jetzt mit dir raufen würde, aber ich kann nicht“, beteuerte sie. „Mach mir lieber einen starken Tee mit viel Milch und Liebe!“, flötete sie und ließ ihm als Dank einen Blick auf ihr nacktes Hinterteil gewähren.

Bei den Elms herrschte tiefe Trauer, die schon am renovierungsbedürftigen Gartenzaun deutlich zu fühlen war. Als wäre das ganze Haus in eine dicke, schwarze Wolke aus Trauer, Tränen und Abschied gehüllt, die ihren Inhalt in voller Intensität auf die Bewohner vergoss. Das Innere des Hauses empfand Rosalie als so düster und beklemmend, als würde sie der Verstorbenen einen Besuch in ihrem Grab abstatten. Man kann auch übertreiben, dachte sie und überlegte, ob die alte Dame vierundneunzig oder sechsundneunzig Jahre alt geworden war. Doch noch ehe sie zu einem Ergebnis kam, hing Frieda an ihr und weinte ihre verbitterten Tränen auf die Schulter. „Hätte sie nicht noch ein weiteres Weihnachtsfest mit uns feiern können?“, fragte sie verzweifelt und schluchzte laut auf.

„Es ist immer viel zu früh, wenn die Eltern von uns gehen; egal, wie alt sie geworden sind. Es tut mir sehr leid, Frieda, sie war ein richtig guter Mensch. Wir alle werden sie sehr vermissen. Sie hinterlässt aber nicht nur eine Lücke, sondern auch ihr Licht, das sie zu Lebzeiten verbreitet hat. Erfreuen wir uns daran und denken wir oft in Liebe an sie.“

Mit diesen Worten löste sie sich von der Trauernden und bahnte sich ihren Weg durch die restlichen Familienmitglieder. Jedem von ihnen schenkte sie ihre stille Anteilnahme.

Die alte Dame lag friedlich auf dem Rücken und war eindeutig tot. Dennoch überprüfte sie die Pupillenreaktion und schrieb ein EKG, das natürlich nur eine stabile Nulllinie zeigte. Die Totenstarre hatte auch schon eingesetzt und die Totenflecken waren eindeutig am Rücken und Gesäß sichtbar. Jetzt war sie nur noch ein Fall für den Bestatter, ihre Arbeit war nach dem Ausfüllen des Totenscheins erledigt. Sie dachte an die wartenden Patienten, die sich in ihrer Praxis vermutlich schon türmten und verabschiedete sich relativ rasch von den Trauernden, die immer mehr zu werden schienen. Sie hatte das Gefühl, als würde das Haus aus allen Nähten platzen, würde sie noch eine halbe Stunde länger bleiben. Offensichtlich hatte Frieda die ganze Gemeinde von dem tragischen Vorfall informiert oder informieren lassen und sie gleichzeitig eingeladen, von ihrer Mutter Abschied zu nehmen. Ganz gleichgültig, ob sie die Frau näher gekannt hatten oder nicht. Nach alter Sitte beließen sie die Verstorbene drei ganze Tage in ihrem Bett, damit jeder die Möglichkeit fand, sich von ihr zu verabschieden. Selbst für jene, die von sehr weit wegkommen wollten, bot diese Frist genügend Zeit. Rosalie bezweifelte allerdings, dass sie noch Freunde hatte, denn in ihrem Alter waren die meisten Freunde vermutlich bereits verstorben. Aber das war nun mal der Lauf der Welt. Einer kommt und einer geht. Am Anfang ist Freude, am Ende ist Trauer. Wir sollten uns langsam daran gewöhnt haben, dachte sie und ergatterte gerade noch den letzten Parkplatz vor ihrer Ordination.

Am Nachmittag brachte sie noch rasch zwei Hausbesuche im Dorf hinter sich und fiel dann erschöpft von der Arbeitswoche auf die Couch. Taylor kam zwei Stunden später von der Universität nach Hause und hatte frischen Fisch mitgebracht, den sie gleich würzten und in die Pfanne legten. Rosalie hatte zwar Appetit auf etwas Deftigeres, aber sie begnügte sich mit dem Kartoffelsalat aus dem großen Plastikbecher, den sie vor einigen Tagen aus dem Supermarkt mitgebracht hatte. Am Jahrmarkt würde sie sich ein heißes, fettiges Langos mit viel frischem Knoblauch gönnen und ihren Hunger auf Deftiges stillen. Darauf freute sie sich und ließ sich den Fisch trotzdem schmecken.

6

Und wieder war es kurz vor sechs Uhr morgens als das Handy der Ärztin läutete. Noch dazu an einem dunklen Samstag, an dem sie nur zu gerne ausgeschlafen hätte. Doch ihr Pflichtbewusstsein ließ sie nach dem Krachmacher auf ihrem Nachttisch greifen. „Baxter“, meldete sich knapp, denn sie war noch mehr im Land der Träume als in der Realität.

„Frau Doktor!“, kreischte eine beinahe hysterisch klingende Stimme ins Telefon. „Sie müssen sofort kommen! Meine Mutter…. Sie verlangt ihr Frühstück! O mein Gott, Sie haben sie für tot erklärt, dabei hat sie mächtig Hunger und sieht fitter als mit achtzig aus. Was haben Sie nur mit ihr gemacht? Kommen Sie schnell, ich muss Ihnen danken! Sie haben mir meine geliebte Mum zurückgebracht!“

Rosalie erkannte Frieda Elms Stimme und schüttelte energisch den Kopf, um klare Gedanken fassen zu können.

Taylor war wach und sah seine Frau fragend an. „Was ist denn mit der hysterischen Elms los? Ihre Mutter lebt?“

Rosalie zuckte mit den Achseln. „Blödsinn! Ich habe sie gestern untersucht, sie war eindeutig tot. Eine Nulllinie am EKG, die Pupillenreflexe waren weg und die Totenflecken sowie die Totenstarre waren eindeutig sichtbar. Sie lag mit offenem Mund in ihrem Bett als wartete sie darauf, dass man ihr eine Münze auf die ausgetrocknete Zunge legt, um den Fährmann auf dem Fluss Styx zu bezahlen.“

Taylor schüttelte den Kopf. „Vielleicht sollten wir der alten Dame rasch gemeinsam einen Besuch abstatten. Und auf dem Rückweg plündern wir die Bäckerei. Ich habe Lust auf Süßes, und wenn die Zimtschnecke nicht ausreicht, muss ich dich danach auch noch vernaschen“, witzelte er und schwang die Beine aus dem Bett.

Normalerweise nahm sie ihn nicht zu ihren Patienten mit, aber diese Situation war eine Ausnahme. Diese Frau war mit Sicherheit tot gewesen, als sie sie untersucht hatte, daran gab es keinerlei Zweifel. Was nun geschehen war, konnte sie sich nicht erklären. Deshalb war sie auch froh, dass von Taylor dieser Vorschlag gekommen war. Er gab ihr Halt und Selbstvertrauen, das sie jetzt ganz dringend brauchte. Denn obwohl sie sich sicher war, dass die alte Dame tatsächlich tot war, so krochen dennoch Zweifel an ihrer Kompetenz in ihr hoch, gegen die sie sich nicht wehren konnte.

Rosalie lenkte ihren Wagen langsam durch die Straßen, denn sie hatte es nicht allzu eilig, die lebende Frau, die sie für tot erklärt hatte, zu sehen. Allerdings konnte sie es noch immer nicht glauben und brauchte die Bestätigung, indem sie sie ansah und mit ihre redete.

Sie betrat auch ganz vorsichtig das etwas muffig riechende Zimmer und fand die alte Dame tatsächlich fröhlich kauend und mit rosa Bäckchen in ihrem Bett vor. Rosalie verschlug es die Sprache und sie musste sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer setzen. Er ächzte und neigte sich ein wenig zur Seite, sodass sie Angst hatte, er würde unter ihrem Gewicht zusammenbrechen. „Wie geht es Ihnen?“, fragte sie beinahe tonlos, doch die Frau verstand sie sehr gut. Aus munteren Augen sah sie ihren Besuch an und lächelte. „Danke! Ich fühle mich wie neu geboren, aber Sie! Sie sehen ziemlich mitgenommen aus. Vielleicht sollten Sie ein paar Tage ausspannen.“ Dann biss sie herzhaft von ihrem Schinken-Käse-Bagel mit reichlich Mayonnaise ab, kaute ihn kräftig, schluckte, trank Tee nach und rülpste herzhaft, ohne sich dafür zu entschuldigen oder schämen.

Rosalie stand mit zittrigen Knien auf, rang sich ein Lächeln ab und ließ sich von Taylor zum Wagen führen; auf das Messen ihres Pulses verzichtete sie irritiert. Er bugsierte sie gleich auf den Beifahrersitz, denn er wusste, dass sie im Moment nicht fahrtüchtig war.

In dem Haus hatte eine widerlich fröhliche Stimmung geherrscht, die angesichts der Wiederauferstehung der Mutter, Großmutter und Urgroßmutter nicht nachvollziehbar war. Wie konnte das sein? War sie scheintot gewesen? Oder waren da dunkle Mächte am Werk gewesen? Jedenfalls vertraute er dem Urteil seiner Frau. Die alte Dame war mit Sicherheit tot gewesen.

Tief in Gedanken versunken fuhr er an der Dorfbäckerei vorbei, denn er verspürte nun keinen Hunger mehr. Der Appetit auf Zimtschnecken war ihm gerade gehörig vergangen. Und auch auf seine Frau, was noch viel seltener vorkam. Gedankenversunken fuhr er nun ebenso langsam wie Rosalie auf dem Weg zu den Elms und musste den Rest seiner geringen Konzentration auf die Straße lenken, was ihm allerdings nur sehr schwer gelang. Ein sehr flaues Gefühl hatte sich wie ein Eispickel in seinem Inneren festgesetzt und ließ sich nicht mehr herausziehen. Im Wagen herrschte eine Art von Schockzustand; keiner von beiden sprach auch nur ein einziges Wort und die Luft war dick wie Gelee.

Zu Hause löste sich ihre Starre und sie diskutierten mehr als eine Stunde über das plötzliche Wiederkehren der Lebensgeister in der alten Dame. Doch es gab keine wissenschaftliche Erklärung dafür und an Wunder glaubten sie beide nicht.

„Auch wenn das jetzt verrückt klingt, aber ich habe langsam den Eindruck, als würden sich hier im Dorf seltsame Dinge abspielen, denen man auf den Grund gehen sollte. Denk doch nur an Don Henlins verfaultes Kohlfeld und an Benny, der sich umbringen wollte, aber es doch nicht wollte. Und dann die Tote, die nach vierundzwanzig Stunden wieder bei bester Gesundheit im Bett sitzt und rülpst, als wäre sie ein Holzfäller nach der Mittagspause. Das ist doch alles nicht mehr normal!“

Rosalie nippte an ihrem inzwischen lauwarm gewordenen Schwarztee und nickte stumm. „Wenn man es in Summe betrachtet, hast du absolut Recht. Es könnte aber auch reiner Zufall sein. Und wer glaubt schon an dunkle Mächte? Es muss eine rationale Erklärung für diese drei Vorfälle geben. Ein Mensch wird nicht mehr lebendig, nachdem sich Totenflecken auf seinem Rücken gesammelt und die Totenstarre eingesetzt hatte. Sie war tot! Sie war ganz eindeutig tot! Ich bin doch nicht verrückt.“

Taylor konnte ihre Verzweiflung regelrecht spüren und sprang auf, um sie in die Arme zu nehmen. Beinahe im gleichen Augenblick begann sie heftig zu schluchzen und zu weinen.

In diesem Moment wurde Taylors Neugierde endgültig geweckt. Er verspürte dieses altbekannte Verlangen in sich, wenn er bei Ausgrabungen auf weitreichende Erklärungen, die die Artefakte ihm stumm mitteilten, wartete. In seinem Inneren flammte ein Feuer auf, das sich in kürzester Zeit zu einer Feuersbrunst entwickeln und in einen Flächenbrand übergehen würde. Nun hatte ihn die Leidenschaft, bislang Unerklärliches und Unentdecktes zu erforschen, zu benennen und die Rätsel zu lösen mit eisernen Klauen gepackt. Von diesem Punkt weg gab es kein Zurück mehr, die Würfel waren gefallen.

Er ließ sie los, setzte sich wieder ihr gegenüber an den Tisch und faltete die Hände vor der Nase. „Fassen wir zusammen: Benny wird von irgendetwas getrieben, seinen Wagen gegen einen LKW zu steuern um sich selbst zu töten. Don Henlins Kohlfeld verfault von einem Tag auf den anderen und eine tote Frau wird nach genau vierundzwanzig Stunden wieder lebendig. Drei verschiedene Begebenheiten, die nichts miteinander zu tun haben außer, dass sie für unseren Verstand unerklärlich sind. Also muss es einen gemeinsamen Nenner geben, den wir suchen müssen.“

Rosalie sah ihn fragend an. „Müssen? Wir? Wieso wir? Eigentlich betrifft uns das ganze doch gar nicht, wir sind doch nur Randfiguren, die zufällig in die drei Geschehen involviert wurden. Wieso siehst du es als unsere Aufgabe an, das Mysterium dahinter zu erkunden?“ Taylor sah sie streng an. „Da geht etwas bombastisch Unerklärliches, ja direkt schon Mystisches vor sich und du willst dir die Gelegenheit entgehen lassen, es am Schwanz zu packen und in die Hölle zurück zu befördern? Ist das wirklich dein Ernst?“

Rosalie versuchte mit all ihrer Kraft, ein Lachen zu unterdrücken, doch schon nach nur wenigen Sekunden prustete sie laut und verlor sich in einem Lachkrampf. Ihr Mann war einfach genial! Er schaffte es immer wieder, sie in kürzester Zeit aus einem emotionalen Tief zu holen.

„Lass uns doch heute am Abend mal den Jahrmarkt genießen; ich mag nicht mehr über lebende Tote und verfaulte Kohlköpfe nachdenken. Ich will mich wieder einmal so richtig amüsieren. Und bei den Preisen, die sie angeblich verlangen, können wir völlig ungehemmt die Sau rauslassen.“

7

Am folgenden Abend war das ganze Dorf auf den Beinen. Sie alle wollten das mehr als großzügige Angebot des Jahrmarktes nutzen um sich hemmungslos zu amüsieren, ohne dabei an die Kosten denken zu müssen. Kaum ein Haus zeigte sich beleuchtet; nur die Schwachen und Kranken blieben zu Hause und malten sich vielleicht aus, wie sich eine Fahrt auf dem großen Kettenkarussell oder durch die Geisterbahn anfühlen mochte. Erinnerungen aus Jugendtagen stiegen in ihnen auf und ließen so manchen von ihnen wehmütig seufzen. Wohin ist nur die Zeit gekommen, fragte sich so mancher und schwelgte weiter in alten Erinnerungen während sich seine Einlage in der Hose langsam füllte und die dritten Zähne vor Erregung leise klapperten.

So mancher hatte das Glück und konnte den einen oder anderen Blick aus dem Fenster werfen und war von all den blinkenden Lichtern auf den Buden und Ständen fasziniert. Schon von weitem konnte man die bunten Lichter sehen, die die abendliche Dunkelheit in lebendiges Treiben verwandelte. Sie konnten mitunter das Knallen der Gewehre an den Schießbuden hören, an denen junge Männer ihre Mädchen beeindrucken wollten. Doch nur selten bekam eine von ihnen den großen Preis, der verlockend im Rampenlicht der Bude hing um kräftig zahlende Kundschaft anzulocken. Die Taktik der Schausteller änderte sich offenbar nie.

Rosalie und Taylor durchschritten eng umschlugen den hell beleuchteten Torbogen am Eingang und fühlten sich sofort von der Magie des Jahrmarkts in Besitz genommen. Alte Erinnerungen aus der Kindheit und Jugend perlten wie die feinen Bläschen in einem Glas Champagner in ihnen auf und durchfluteten sie mit wohligen Empfindungen an ihre Kindheit und Jugend, nicht aber mit konkreten Erinnerungen an einen solchen Jahrmarktbesuch. Es war ein heimeliges Gefühl, das nach Sorglosigkeit und Heiterkeit schmeckte.

Rosalie hakte sich gut gelaunt bei Taylor unter und zerrte ihn zum Autodrom, den Anziehungspunkt für die jugendlichen Besucher. Gerade als sie ankamen, ertönte das typische Signal und die ersten Funken stoben eisblau aus den Antennen. Dann setzten sich die Autos in Bewegung und es wurde gelacht, gekreischt, gegeneinander gefahren, Lenkräder wurden hektisch gedreht und Gaspedale bis zum Anschlag durchgetreten. Die beinahe ohrenbetäubende Musik trug dazu bei, den Alltag zu vergessen und sich nur dem Amusement hinzugeben. Dass jede Fahrt pro Person wirklich nur dreißig Cent kostete, verleitete dazu, sich einem noch längeren und intensiveren Vergnügen hinzugeben. Geld spielte bei diesem Preis keine Rolle; für keinen einzigen von den zahlreichen Besuchern.

Doch Rosalie wollte sich vorerst alle Buden und Attraktionen des Jahrmarkts ansehen, ehe sie sich in eine Gondel, auf ein Karussellpferd oder in einen Wagen setzte. Doch Taylor zog sie einfach mit sich zur Geisterbahn, löste beinahe im Vorbeigehen zwei Tickets und bugsierte sie in den letzten Waggon des Zugs, der gerade durch ein mit scharfen Zähnen bewehrtes Maul in die Finsternis dahinter verschwand.

„Die Geisterbahn ist doch voll öde!“, meckerte sie, doch gleich danach schrie sie aus Leibeskräften. Ein kalter Windhauch war über ihr Gesicht gehuscht und etwas hatte sie an der Schulter gepackt. Panisch drehte sie sich um, doch da war nichts. Als sie wieder nach vorn blickte, starrte sie in die feuerroten Augen einer riesigen Spinne, die geradewegs auf ihr Gesicht zugeschossen kam. Rosalie kreischte erneut auf und duckte sich weit unter den Rand des Waggons.

Kurz danach wagte sie es, wieder hervor zu lugen und wurde dabei durch einen kräftigen Stoß von der Seite an die metallene Wand des Wagens geschleudert. Durch die sofort darauffolgende scharfe Linkskurve wurde sie auf die rechte Seite geschleudert und fand gerade noch an Taylors Arm Halt. Das Beil, das nur knapp ihr Gesicht verfehlte und warme Tropfen, die im ersten Moment an Blut erinnerten, auf ihrer Haut hinterließ, ließ sie erneut aufschreien.

Nach etlichen qualvollen Minuten der Angst und des Schreckens rollte der Waggon wieder ins Freie und der Spuk hörte auf. Rosalie saß mit klopfendem Herzen keuchend neben, oder beinahe schon auf Taylor drauf und war froh, der Geisterbahn lebend entkommen zu sein.

„Ja, du hast Recht. Die Geisterbahn ist voll öde. Damit fahren wir nicht mehr!“, rief Taylor amüsiert aus und kletterte aus dem Wagen. Rosalie blieb noch ein Weilchen sitzen, denn sie hatte Angst, dass die Beine ihren Dienst versagten.

„Ich war nur nicht darauf vorbereitet, das ist alles. Du hast mich mit der Fahrt völlig überrascht. Hätten wir vorab darüber gesprochen, wäre die Fahrt ganz anders verlaufen.“

Taylor küsste sie aufs Haar und reichte ihr die Hand, um sie aus dem Waggon zu ziehen. Ihre Argumente ließ er mit einem Lächeln unkommentiert.

Zur Entspannung fuhren sie mit dem großen Pferdekarussell, auf dem sich jedes zweite Pferd nach oben und unten bewegte. Die anderen Pferde konnte man durch das rhythmische Bewegen der Hüften dazu bringen, sich nach vor und zurück zu bewegen. Es sollte einen Ritt auf einem lebenden Pferd simulieren, doch es war zum Großteil bloß ein sehr anregender Blickfang für die Männer, wenn sich Frauen auf diese Pferde setzten. Kein Wunder, dass diese Attraktion von Männern gesäumt war, die sofort auf den ersten Blick an einen lebenden Zaun erinnerten.

Durch die rockige Musik lockte nun auch wieder das altbewährte Autodrom mit seinem Versprechen, absichtlich in andere Fahrzeuge rasen zu dürfen und die beiden ließen sich von diesem Angebot einfangen. Sieben Mal kauften sie neue Jetons um lachend andere Fahrzeuge und Dorfbewohner zu attackieren. Sie hatten Spaß ohne Ende und Rosalie war nach der letzten Fahrt schon beinahe ausgelaugt. So viel Amusement auf einmal hatte sie schon lange nicht mehr.

Nun war sie aber hungrig geworden und sie suchten den Stand, der Langos zum Verkauf anbot. Der schmierige, fettige Stand passte so richtig zu den etwas schmuddeligen anderen Buden und strahlte auf seine ganz besondere Weise auch etwas Vertrautes aus.

Mit den heißen, fettglänzenden Teigrädern in der Hand suchten sie nach einer Bank, auf der sie in Ruhe ihr Abendmahl verzehren konnte. „Angst vor Vampiren brauchen wir keine zu haben“, bemerkte Taylor und fächelte seinem offenen Mund kühle Luft zu. „Hier ist so viel Knoblauch drauf, dass wir uns in Transsilvanien völlig frei bewegen könnten.“

„Na dann auf nach Transsilvanien!“, rief Rosalie aus und schmiegte sich an die Schulter ihres Mannes.

„Ist dir eigentlich aufgefallen, wie blass all die Schausteller hier sind? Richtig fahl und irgendwie sogar ein wenig gräulich. Sie sehen alles andere als gesund aus.“

Taylor hielt nach ein paar Schaustellern in der Nähe Ausschau, denn er achtete nicht so genau auf die Menschen und analysierte sie nicht auf Krankheiten, die sie sichtbar vor sich hertrugen.

„Ja, jetzt, wo du es sagst, ist es schon ein wenig auffällig. Aber sie arbeiten beinahe ausschließlich nachts, da kommt es nur selten zu einem Sonnenbrand. Lass jetzt mal deinen Job in der Tasche und amüsiere dich. Die Leute werden schon wissen, was sie tun und was ihnen gut tut. Du kannst nicht die ganze Welt retten. Wenn du mich rettest, reicht das schon“, flüsterte er ins Ohr und knabberte sanft an ihrem Ohrläppchen, bis sie kicherte.

Nachdem sie sich das Knoblauch-Fett-Gemisch schmatzend von den Fingern und Lippen geleckt und mit der Serviette nachgesäubert hatten, schlenderten sie zum Piratenschiff und kauften sich Jetons für vier Fahrten. Auf dem großen, hell beleuchteten Kettenkarussell kreischte Rosalie etwas später vor Angst und Vergnügen laut auf. Sie nutzten auch noch all die anderen Attraktionen, die der Rummel zu bieten hatte, mit Ausnahme der Achterbahn. Sie sah ziemlich desolat und vor allem total veraltet aus. In diese Bahn setzten sie nicht das geringste Vertrauen; weder in die Wagen noch in die Geleise und schon gar nicht in das morsch aussehende Holzgerüst, das die Schienen trug. Bei ihr waren sie lediglich Zaungäste, und schon vom Zusehen allein wurde ihnen ziemlich übel. Noch dazu standen hier die Leute Schlange; vermutlich, weil diese Fahrt ebenfalls nur dreißig Cent kostete. Bei diesen Preisen blieb kaum ein Platz leer – und zwar in allen Attraktionen.

Taylor dachte kurz daran, dass das beinahe verlassene Dorf nun ein geeigneter Ort für Einbrecher war. Fast jedes Haus stand leer, es gab keine neugierigen Nachbarn, die hinter dem Vorhang auf die Straße spähten, keine beleuchteten Räume, in denen Diebe sofort aufgefallen wären wie ein Ufo am Himmel und niemand hatte seine Wertsachen extra auf die Bank getragen, wie man es vor einem längeren Urlaubsaufenthalt üblicherweise machte. Und die Leute waren mit ihren Gedanken ganz wo anders als bei ihren Häusern und Wertsachen. Somit hätten Diebe aller Art ein sehr leichtes Spiel.

Doch Taylor wollte sich damit nicht belasten und sich die Laune verderben lassen. Er hatte so viel Spaß und konnte den Alltag mit seinen Sorgen und Befürchtungen endlich in die letzte Ecke schieben. Und so sollte es auch bis weit in die Nacht hinein bleiben.

„Was hältst du davon, mir einen neuen Kaffeebecher zu schießen?“, fragte Rosalie und unterbrach dabei seine Gedanken. „Nicht, dass ich den alten nicht mehr haben möchte, aber ich denke, es wäre Zeit für einen neuen. Schaffst du das noch einmal?“

Taylor sah sie zweifelnd an. „Ich muss gestehen, dass es damals ein absoluter Glückstreffer war; von Können war keine Rede, auch wenn ich nachher so getan hatte, als ob. Ich hatte nur angegeben um dich zu beeindrucken und um dich küssen zu können, aber ich werde es versuchen und mein Bestes geben. Schauen wir mal, ob es an der Schießbude überhaupt noch Kaffeebecher gibt. Mit einer solchen Prämie lockt man heutzutage niemanden mehr hinter dem Ofen hervor.“

Rosalie nickte und sie schlenderten zur Schießbude, an der sich, wie in alten Zeiten, die jungen Männer wie Gockelhähne präsentierten um ihren Mädchen, die sie ausführten, zu imponieren.

Taylor lehnte sich zu Rosalies Ohr und flüsterte ihr etwas zu. Sie sah ihn an, lächelte breit, rümpfte die Nase und nickte eifrig mit dem Kopf.

„O Gott! Ich habe mich tatsächlich wie diese Burschen benommen? Ehrlich? Das ist ja echt peinlich, auch wenn es jetzt schon mehr als zehn Jahre her ist!“, rief er bestürzt aus und legte beschämt die Hand über seine Augen. Als der Bursche vor ihnen seinen Schuss abgegeben und wieder das Ziel verfehlt hatte, warf er dem Schausteller wutentbrannt die leere Waffe zu und verließ fluchend den Stand. Er hatte sich gerade vor seiner Freundin und dem ganzen Dorf bis auf die Knochen blamiert. Taylor vermutete, dass er im Bierzelt seine Scham ertränken würde.

„Drei Schuss, bitte“, sagte er zu dem bleichen Mann in der Bude. „Die sollten reichen.“

Der Mann sah zuerst ihn, dann Rosalie an und lächelte, wobei seine Zahnlücken zwischen den dunkelgelb-schwarzen Zähnen zum Vorschein kamen. Er legte ihr seine kühle Hand auf den nackten Unterarm. „Ich hätte hier einen ganz bezaubernden Vogel in einem sehr speziellen Käfig. Der Bursche heißt Cornelius.“ Und wieder schenkte er den beiden sein beinahe zahnloses Lächeln. Doch Rosalie lächelte nicht mehr und es erstarb auch schlagartig die Freude am Rummel, die sie während des gesamten Abends empfunden hatte. An ihre Stelle legte sich ein Mühlstein mit dem Gewicht eines Panzers in die Magengegend und ihr wurde schlagartig übel. Ihre fröhlichen Gesichtszüge fielen abrupt in sich zusammen und in ihren Augen war blanke Angst zu erkennen.

Taylor sah, dass jegliche Farbe aus dem Gesicht seiner Frau gewichen war und legte rasch seinen Arm um sie, um sie zur nächsten Sitzbank zu weisen. Mit ihren weichen Knien kam sie nur mühsam und sehr langsam vorwärts.

„Hey, du! Bring uns doch bitte rasch einen Becher Wasser!“, rief er einem Jungen zu und kramte einen zerknitterten Geldschein aus den Tiefen seiner Jackentasche. Der Junge sah, dass es der Lady schlecht ging, schnappte sich den Schein und rannte wie vom Blitz getroffen auf das riesige, weiße Bierzelt zu.

„Was ist denn los?“, fragte Taylor besorgt und streichelte ihr Haar. „Willst du dich ein wenig hinlegen?“

Rosalie schüttelte ermattet den Kopf. „Dieser Vogel….“, stammelte sie und keuchte.

Taylor drehte sich zur Schießbude um, an der schon die nächsten jungen Männer ihr Glück versuchten. Dann sah er seine Frau ratlos an. „Was ist mit dem Vogel? Er sieht doch ganz niedlich aus. Und der Käfig ist ziemlich extravagant, sicher ein Unikat. Aber sicher nichts allzu Besonderes.“ Besorgt versuchte er in ihrem Gesicht zu lesen, denn sie ließ sich mit der Antwort Zeit.

„Ich hatte mal einen solchen Vogel, genau die gleiche Farbe und er hieß Cornelius. Mein Großvater hatte einen speziellen Käfig für ihn gebaut; genau, wie diesen. Aber das ist ewig her. Ich bekam Cornelius zu meinem elften Geburtstag. Das ist jetzt fast vierundzwanzig Jahre her. Der Käfig lag nach dem Tod des Vogels ein paar Jahre im Schuppen und wurde irgendwann entsorgt. Es gibt beides nicht mehr und doch tauchen sie hier wieder auf. Was geht hier bloß vor sich? Das kann kein Zufall sein.“

Taylor verschlug es die Sprache und er setzte etliche Male zum Sprechen an. Doch er öffnete lediglich seine Lippen, sog Luft in seine Lungen und blies sie durch die Nase wieder aus. Er konnte keine Erklärung dafür finden; zumindest keine plausible.

In diesem Moment kam der Junge mit dem Becher und reichte ihn Taylor mitsamt dem Geldschein. „Es ist Leitungswasser, das hat nichts gekostet“, sagte er und beäugte die blasse Frau mitleidig. „

„Danke! Du darfst das Geld behalten. Weil du so schnell und ehrlich warst. Du hättest damit auch verschwinden können. Du bist ein guter Junge!“

Dann wandte er sich wieder seiner Frau zu und der Junge sah lächelnd auf den Geldschein. Vermutlich überlegte er gerade, in welcher Bude er ihn ausgeben sollte. „Bist du dir sicher?“, fragte Taylor seine Frau und entschuldigte sich für diese Worte sofort. „Tut mir leid, natürlich bist du dir sicher. Du wirst doch noch den Käfig sowie dein Haustier erkennen. Aber bitte verlang jetzt keine Erklärung von mir, denn da muss ich passen. Ich glaube, mir wird auch gleich schlecht. Lass uns lieber nach Hause gehen, ich finde es hier ziemlich unheimlich, beinahe schon gruselig. Kannst du gehen? Schaffst du es bis zum Auto auf dem Parkplatz? Wenn nicht, fahre ich hierher, das ist kein Problem.“

Doch Rosalie nickte und rappelte sich langsam hoch, wagte es aber nicht, noch einen letzten Blick auf den Vogelkäfig und Cornelius zu werfen.

Während der Fahrt beobachtete Taylor seine Frau ganz genau, ließ ihr aber Raum um nachzudenken. Zu Hause dann schenkte er zwei doppelte Whisky ein und sie setzten sich auf die Veranda. Von der großen Wiese hörten sie das Wummern der Bässe sowie noch das eine oder andere Kreischen der Mädchen. Über dem Horizont lag ein bunter Lichtschein, der von den Attraktionen des Jahrmarkts ausging. Doch jetzt sah er nicht mehr einladend aus, sondern wirkte sogar ein wenig störend.

Nach einigen Minuten des Schweigens blickte Rosalie von ihrem Glas auf. „Ich muss meine Meinung revidieren und dir Recht geben. Hier gehen wirklich mysteriöse Dinge vor sich, die schon förmlich nach Aufklärung schreien. Aber was können wir tun? Ich bin mir sicher, dass mir der blaue Wellensittich nicht von ungefähr angeboten wurde. Das war gezielt auf mich gerichtet und wer weiß, ob es anderen Leuten nicht ebenso ergangen ist. Aber woher wusste der Mann in der Bude davon? Und woher konnte er den gleichen Käfig haben?“

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