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Ähnliche Fehlermuster sind auch bei Kindern beobachtbar und reflektieren fehlendes Verständnis für die zugrunde liegenden Rechenoperationen (z. B. Resnick 1982; van Lehn 1990).

Im Gegensatz zu diesen konsistenten und systematischen Fehlern besteht die zweite Fehlerart beim Ausführen von komplexen Lösungsalgorithmen in inkonsistenten Fehlern, die höchstwahrscheinlich durch defizitäre mentale Kontrolle des Rechenvorgangs (Monitoring) verursacht werden (Semenza et al. 1997).

Einfluss des Arbeitsgedächtnisses

Für das Lösen komplexer Rechnungen sind auch intakte Arbeitsgedächtnisleistungen wichtig (z. B. Logie et al. 1994; Tronsky 2005). Beim Arbeitsgedächtnis handelt es sich um ein Gedächtnissystem, das für die vorübergehende Speicherung und Bearbeitung von Gedächtnisinhalten zuständig ist (Baddeley 1986). Die Komponente des Arbeitsgedächtnisses, die hier vor allem zum Tragen kommt, ist die sogenannte zentrale Exekutive. Gemäß dem populären Arbeitsgedächtnismodell von Baddeley (1986; 2000) ist die zentrale Exekutive das supervisorische Kontrollsystem: Es koordiniert die Aktivitäten der beiden Speichersysteme (von denen eines verbal-phonologisches Material [phonologische Schleife] und das andere visuell-räumliches Material [visuell-räumlicher Notizblock] verarbeitet). Die Anforderungen an das Arbeitsgedächtnis sind dann besonders hoch, wenn man Zehnerüberträge bearbeiten muss und diese nicht schriftlich festhält, sondern während der Bearbeitung der nächsten Zahlenkolonne im Arbeitsspeicher hält. Überträge werden während des Ausführens der weiteren Rechenschritte in der phonologischen Schleife subvokal rezitiert. Ist die Kapazität der phonologischen Schleife reduziert, kann es leicht passieren, dass Überträge verlorengehen bzw. „vergessen werden“ und das Endergebnis – trotz fehlerfreier Anwendung der Rechenprozedur – falsch ist (z. B. Noël et al. 2001).

mangelndes Faktenwissen

Eine häufige Fehlerquelle beim Lösen komplexer Rechnungen ist, unabhängig vom prozeduralen Wissen, mangelndes bzw. fehlerhaftes Faktenwissen. So erfordert das Lösen einer mehrstelligen Rechnung, wie beispielsweise „43 x 25“, auch intaktes Faktenwissen: Zuerst muss der Multiplikand mit 2 (also 3 x 2 sowie 4 x 2) und anschließend mit 5 (3 x 5 sowie 4 x 5) multipliziert werden. Ist bereits das Faktenwissen fehlerhaft, dann ist auch das Gesamtresultat falsch.

Die Differenzierung dieser Fehlerarten kann nur durch eine qualitative Fehleranalyse erfolgen. Das heißt, es ist wichtig, nicht nur das Endergebnis der Rechnung zu kontrollieren, sondern anhand einer detaillierten Analyse der einzelnen Verarbeitungsschritte die Fehlerquellen aufzuspüren. Dies ist vor allem im Hinblick auf die Interventionsplanung wichtig, die nur dann ökonomisch und effizient ist, wenn vor Interventionsbeginn die Störungsursachen identifiziert worden sind (s. Kaufmann / Nuerk 2008).

Konzeptuelles arithmetisches Wissen


Konzeptuelles arithmetisches Wissen meint das Verständnis für arithmetische Operationen sowie für die diesen Operationen zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten und Lösungsalgorithmen (Sokol et al. 1991). Dieses Wissen ist für die flexible und adaptive Anwendung numerisch-rechnerischen Wissens äußerst relevant. Das konzeptuelle Wissen wird jedoch bis dato in den Erwachsenenmodellen der Zahlenverarbeitung und des Rechnens weitgehend vernachlässigt.


Ein anschauliches Beispiel für spezifisch beeinträchtigtes konzeptuelles Wissen bietet Patient JG (Delazer / Benke 1997): Er konnte zwar einige (aber bei weitem nicht alle) arithmetische Fakten direkt aus dem Gedächtnis abrufen, zeigte jedoch keinerlei konzeptuelles Wissen. Er konnte weder arithmetische Operationen definieren noch arithmetische Verständnisaufgaben lösen, bei denen die Lösung einer zweiten Aufgabe von einer ersten Aufgabe abgeleitet werden sollte. Das Wissen, dass „12 x 4 = 48“ ist, hilft beispielsweise bei der Lösung von „4 x 12“ oder bei der Lösung von „12 + 12 + 12 + 12“. Das heißt, diese Rechnungen müssen nicht mehr prozedural unter Zuhilfenahme von Backup-Strategien gelöst werden: Geübte Rechner erkennen auf einen Blick, dass die verschiedenen Lösungsalgorithmen ein und dieselbe Rechenaufgabe repräsentieren.


Die Patientenbeschreibung von BE (Hittmair-Delazer et al. 1995) demonstriert eindrücklich, wie umgekehrt verlorenes Faktenwissen über die Anwendung teils sehr komplexer alternativer Lösungsstrategien kompensiert werden kann. BE konnte das Ergebnis von „4 x 9“ zwar nicht direkt aus dem Gedächtnis abrufen, aber kam über mehrere Zwischenschritte zum richtigen Ergebnis (der Rechenweg von BE wurde wie folgt beschrieben: (9 x 2) + (9 x 2) oder (9 x 10 : 2) – 9. Diese sehr komplexen Backup-Strategien machen deutlich, dass BE trotz des beeinträchtigten Faktenwissens über ein ausgezeichnetes Verständnis mathematischer Prinzipien wie Assoziation, Distribution und Kommutativität verfügte.

Dissoziationen zwischen prozeduralem und konzeptuellem Wissen wurden ebenfalls in der Literatur beschrieben (Girelli / Delazer 1996; Sokol et al. 1991). Mangelndes konzeptuelles Wissen äußert sich beispielsweise in unplausiblen Fehlern, also Fehlern, deren numerischer Wert von der richtigen Lösung weit entfernt ist. Wenn ein Proband etwa 3.570 als Lösung für die Aufgaben „35 x 12“ berechnet (und das Ergebnis nicht hinterfragt), dann reflektiert dieser Fehler zum einen das zumindest teilweise richtige Anwenden von Lösungsprozeduren (35 x 1 = 35, 35 x 2 = 70 → 3.570) und zum anderen mangelndes konzeptuelles Verständnis: Der Proband sollte mit Hilfe eines Schätzprozesses bzw. einer ungefähren Vorstellung der Zahlengröße erkennen, dass ein vierstelliges Ergebnis nicht richtig sein kann.

Bei Kindern in der Erwerbsphase gibt es bis dato keine systematischen Berichte über Dissoziationen zwischen prozeduralem und konzeptuellem Wissen. Resnick (1982) und van Lehn (1990) berichten zwar über systematische Fehler beim Anwenden von Lösungsprozeduren bei Kindern: diese prozeduralen Fehler sind in der Erwerbsphase jedoch auch meist mit mangelndem konzeptuellen Wissen assoziiert.

Zusammenfassung

Arithmetische Fakten sind Rechnungen mit einstelligen Operanden, die bei geübten Rechnern direkt aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen werden können und keine willentlichen Rechenprozesse mehr erfordern. Sogenannte arithmetische Regeln sind Multiplikationsfakten, bei denen ein Operand eine 0 oder eine 1 ist. Bei kompetenten Rechnern wird das Faktenwissen sogar dann automatisch aktiviert, wenn es für die Aufgabenbearbeitung irrelevant ist. Das Faktenwissen ist in Form von assoziativen Netzwerken gespeichert. Der sogenannte Problemgrößeneffekt reflektiert die Aufgabenschwierigkeit: Fakten mit größeren Operanden werden langsamer abgerufen als solche mit kleinen Operanden.

Prozedurales Wissen (also das Wissen um die richtige sequenzielle Anordnung von Lösungsalgorithmen) kann rein schematisch, ohne zugrunde liegendes Verständnis der dahinterstehenden Rechenoperation angewendet werden. In diesem Falle sind die Fehlermuster meist konsistent und systematisch. Ein anderes Fehlermuster, das durch inkonsistente Fehler charakterisiert ist, reflektiert eher mangelnde Monitoring-Mechanismen. Beim Lösen komplexer (mehrstelliger) Rechnungen sind auch intaktes Faktenwissen sowie gute Arbeitsgedächtnisleistungen relevant. Defizitäres Faktenwissen oder schlechte Arbeitsgedächtnisleistungen können die Leistung beim Lösen komplexer Rechnungen beeinträchtigen: Dies ist jedoch nicht gleichzusetzen mit einer Störung des prozeduralen arithmetischen Wissens!

Konzeptuelles arithmetisches Wissen bzw. arithmetisches Verständnis ist für die flexible und adaptive Anwendung numerisch-rechnerischer Leistungen unerlässlich. Das konzeptuelle Wissen wurde jedoch – wie auch das prozedurale Wissen – in den populären Rechenmodellen vernachlässigt. Sowohl das arithmetische Faktenwissen als auch das prozedurale arithmetische Wissen können ohne zugrunde liegendes Verständnis rein schematisch angewendet werden.

1.6 Neuronale Grundlagen der Zahlenverarbeitung und des Rechnens


Methoden der Hirnforschung

Die Erforschung des Zusammenhangs zwischen Gehirnfunktionen und -strukturen ist eine klassische Domäne der Neuropsychologie. Im Englischen existiert dafür der kernige Begriff der „Brain-Behaviour Relationship“. Wie bereits oben erwähnt, hat die Neuropsychologie vom Technikboom der letzten Jahrzehnte sehr profitiert. Das wohl eindrücklichste Beispiel hierfür sind die bereits weiter oben erwähnten bildgebenden Verfahren. Techniken wie die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) und die funktionelle Nahinfrarotspektroskopie (fNRIS) erlauben es uns, die am Lösen einer Aufgabe beteiligten Hirnregionen zu visualisieren. Im Falle der fMRT bedeutet dies, dass mit Hilfe von Magnetresonanz die Sauerstoffsättigung des Blutes gemessen werden kann, und zwar während die Probanden bestimmte Aufgaben lösen. Jene Hirnregionen, die beim Lösen der Aufgaben aktiviert werden, verbrauchen mehr Sauerstoff als inaktive Regionen. Mit Hilfe aufwändiger Datenverarbeitungs- und Analysetechniken kann man die Veränderung im Sauerstoffverbrauch visualisieren und erhält so kortikale Aktivierungsmuster mit guter räumlicher Auflösung (im Millimeterbereich).

 

Eine Einschränkung der fMRT-Methode ist, dass sie für Kleinkinder nicht gut geeignet ist, da die Probanden für die Dauer des Experiments (mindestens 20 Minuten) still liegen müssen und die MRT-Umgebung zudem sehr laut ist (die Lärmbelastung wird zumindest teilweise durch das Tragen von Kopfhörern gemildert). Die meisten fMRT-Untersuchungen im Entwicklungsbereich werden daher erst bei Kindern ab 6 bis 7 Jahren durchgeführt und erfordern spezielle Anwendungstechniken für die Datenerhebung (Vogel et al. 2016). Neben der Darstellung von Aktivitätsmustern im Gehirn spielt die Erhebung anatomischer Gehirnstrukturen mittels MRT eine zunehmend wichtige Rolle bei der Erforschung von Gehirnfunktionen. Hervorzuheben ist hier die Diffusions-Tensor-Bildgebung (abgekürzt DTI von englisch diffusion tensor imaging), welche durch die Diffusionsbewegung von Wassermolekülen den strukturellen Aufbau von Nervenfaserbündeln misst. Nervenfasern ermöglichen die Erregungsleitung zwischen Nervenzellen und ganzen Gehirnregionen. Individuelle Unterschiede im strukturellen Aufbau von Faserbündeln konnten bereits mit individuellen Unterschieden in diversen kognitiven Leistungen assoziiert werden, etwa im Bereich des Lesens (Klingberg et al. 2000) und des Rechnens (Überblick bei Matejko / Ansari 2015). Ein Vorteil dieser Methode ist, dass die Messung relativ rasch erfolgt und die Probanden keine aufwendigen Aufgaben im Scanner durchführen müssen.

Eine gute Alternative zur Visualisierung von Gehirnaktivierungen bei (Klein-)Kindern bietet die funktionelle Nahinfrarotspektroskopie. Das NIRS-System besteht primär aus einer Haube mit Sensoren (sogenannten Optoden) und Detektoren, die direkt an der Schädeloberfläche montiert werden. Die Sensoren messen über die Absorption von Nahinfrarotlicht Veränderungen im Sauerstoffmetabolismus und somit kortikale Aktivierungen. Da die Sensoren direkt an der Schädeldecke angebracht sind, müssen die Probanden bei der Untersuchung nicht still liegen und können sich relativ frei bewegen. Zudem ist die Apparatur portabel und erzeugt keine lauten Geräusche, was einen sehr flexiblen Einsatz in natürlichen Umgebungen ermöglicht (etwa im Klassenzimmer). Aufgrund dieser wichtigen Eigenschaften erfreut sich fNIRS besonders für die Untersuchung von Kindern und Kleinkindern zunehmender Beliebtheit. Der zentrale Nachteil dieser Methode liegt allerdings in der begrenzten räumlichen Signalauflösung. Im Vergleich zum fMRT können kortikale Aktivierungen nur sehr grob identifiziert werden und Aussagen über die präzise Lokalisation der Aktivierung sind nur begrenzt möglich (Lloyd-Fox et al. 2010).

Eine andere häufig verwendete Methode der Neurowissenschaften basiert auf dem Elektroenzephalogramm (EEG). Das EEG erfasst die elektrophysiologische Tätigkeit des Gehirns und wird wegen seiner sehr guten zeitlichen Auflösung der Hirnaktivierung geschätzt. Eine spezielle, für die Neurowissenschaften interessante Anwendung ist die Methode der ereigniskorrelierten Potenziale (EKP). Mit Hilfe der EKP-Methode werden die elektrophysiologischen Parameter direkt im Anschluss an eine Stimuluspräsentation gemessen. Die Probanden sollen beispielsweise Bilder ansehen oder bestimmte Aufgaben mental lösen. Die Forscher können dann anhand der EEG-Kurvenverläufe Rückschlüsse auf die zugrunde liegenden neuronalen Erregungsmuster ziehen. Ein Nachteil von EEG-basierten Methoden ist, dass primär Aktivierungen erfasst werden, die direkt unter den Elektroden (bzw. dem Schädelknochen) liegen. Das heißt, elektrophysiologische Methoden erlauben nur bedingt Aussagen über die kortikale Erregungsleitung in tieferen Hirnstrukturen.

Eine weitere Methode, die für die Zahlenforschung sehr interessante Resultate erbrachte (Cohen Kadosh et al. 2007), ist jene der transkraniellen Magnetstimulation (TMS). Hier werden mit Hilfe eines starken Magnetfeldes bestimmte (vorher mittels struktureller MRT individuell definierte) Hirnregionen stimuliert, was dazu führt, dass diese temporär „außer Gefecht“ gesetzt werden bzw. funktionell stillgelegt werden. Dies erlaubt es den Forschern, die Funktionsfähigkeit des restlichen Gehirns im Hinblick auf die interessierenden Fragestellungen zu erfassen.

Abb. 1.9: Neuronale Korrelate der Zahlenverarbeitung und des Rechnens (modifiziert nach Dehaene / Cohen 1995)

Wie bereits zu Beginn dieses Kapitels beschrieben, betonen schon die frühen klinisch-neurologischen Fallberichte einen Zusammenhang zwischen erworbenen Rechenstörungen und linken posterioren (hinteren) Hirnregionen (z. B. Henschen 1919; Lewandowsky / Stadelmann 1908). Unter Verwendung bildgebender Verfahren wie der fMRT konnte man diese relativ grobe Lokalisation von Rechenleistung zu posterioren Hirnregionen noch verfeinern. In der aktuellen numerischen Kognitionsliteratur herrscht Übereinstimmung dahingehend, dass gute Rechenleistungen von der Intaktheit des Parietallappens abhängen (Überblick bei Kaufmann / Nuerk 2007 und Vogel / Ansari 2012).

anatomisch-funktionelles Rechenmodell

Das wohl einflussreichste anatomisch-funktionelle Rechenmodell ist dasjenige von Dehaene und Cohen (1995), das auf dem ebenfalls von Dehaene erstmals im Jahre 1992 postulierten rein funktionellen Triple-Code-Modell beruht (s. Abb. 1.2). Basierend auf einer Vielzahl von Patientenstudien und den ersten Ergebnissen der bildgebenden Verfahren macht das anatomisch-funktionelle Rechenmodell folgende Vorhersagen hinsichtlich der Lokalisation der im Triple-Code spezifizierten Module (s. Abb. 1.9):

(a) Das neuronale Korrelat der analogen Größenrepräsentation ist der intraparietale Sulcus (IPS) (mit Sitz im Parietallappen);

(b) die verbal-phonologische Zahlenform bzw. die diesem Modul zugeordneten Funktionen wie Zählen und arithmetischer Faktenabruf werden durch Hirnregionen moduliert, die auch für Sprachfunktionen wichtig sind (nämlich die sogenannte perisylvische Furche), und zudem von subkortikalen Hirnregionen wie den Basalganglien;

(c) die visuell-arabische Zahlenform und die diesem Modul zuordbaren Funktionen wie schriftliches Rechnen werden unterstützt durch okzipitale Hirnregionen (das sind Regionen im Hinterhauptslappen; überlappende Hirnareale sind auch beim Lesen von Wörtern und Buchstaben relevant und demgemäß als „visuelles Wortformareal“ bekannt).

Weiterhin postuliert dieses Modell, dass komplexe Rechenleistungen zusätzlich von der Intaktheit frontaler Hirnregionen (Stirnhirn) abhängen, weil diese oft hohe Anforderungen an das dort lokalisierte Arbeitsgedächtnis stellen (Dehaene / Cohen 1995). Das Arbeitsgedächtnis ist besonders bei mehrstufigen Aufgabenlösungen relevant, die das kurzfristige Erinnern von Zwischenergebnissen (während man simultan andere Bearbeitungsschritte ausführt) oder das Überwachen einer Lösungsprozedur (Monitoring) erfordern (Baddeley 1986; 2000).


parietale Netzwerke

Im Hinblick auf die semantische (analoge) Größenrepräsentation nehmen Dehaene und Mitarbeiter (2003) eine weitere Differenzierung vor und postulieren die Existenz von „drei parietalen Netzwerken“, die in benachbarten und teils überlappenden Regionen des IPS lokalisiert sind (s. Abb. 1.10). Gemäß den Autoren ist das neuronale Korrelat der Mengenverarbeitung im engeren Sinn das horizontale Segment des IPS (HIPS); die räumliche Orientierung auf dem mentalen Zahlenstrahl wird durch den posterioren superioren Parietallappen (PSPL) moduliert; und verbal-phonologisches rechnerisches Wissen wie beispielsweise die Repräsentation von überlerntem und automatisiertem Faktenwissen ist im Gyrus angularis anzusiedeln (s. Abb. 1.10). Während letzteres Modul nur in der linken Hirnhälfte vorfindbar ist (da verbale Verarbeitungsmechanismen gewöhnlich linkshemisphärisch organisiert sind), sind die beiden ersteren von Dehaene und Kollegen (2003) postulierten parietalen Netzwerke in beiden Hirnhälften angelegt.


Abb. 1.10: Schematische Darstellung der von Dehaene et al. (2003) postulierten drei parietalen Netzwerke der Zahlenverarbeitung

Cohen Kadosh und Mitarbeiter (2007) berichten, dass gute Rechner nach Applikation von TMS (transkranieller Magnetstimulation, die dazu führt, dass die entsprechende Hirnregion vorübergehend dysfunktional bzw. stillgelegt ist) im IPS Defizite hinsichtlich der automatischen Aktivierung der Zahlengröße zeigten. Die Autoren verwendeten die weiter oben beschriebene physische Stroop-Aufgabe (s. Abschnitt 1.5.1) bei der die Probanden zwei Zahlen hinsichtlich ihrer Schriftgröße vergleichen sollen. Vor TMS-Applikation konnten die Probanden bei physisch und numerisch kongruenten Zahlenpaaren (z. B. 8 3) schneller die physisch größere Zahl auswählen als bei numerisch neutralen Zahlenpaaren (z. B. 8 8), d. h. sie aktivierten die aufgabenirrelevante numerische Größe der Zahlen automatisch. Unmittelbar nach TMS-Applikation konnten dieselben Personen diesen Zahlen-Größen-Interferenzeffekt allerdings nicht mehr generieren. Cohen Kadosh und Kollegen (2007) interpretieren diese Ergebnisse dahingehend, dass die Stilllegung des IPS dazu führt, dass die Probanden keinen Zugriff mehr auf die numerisch-semantische Größenrepräsentation haben oder andersherum, dass ein dysfunktionaler IPS Probleme in der Zahlenverarbeitung evozieren kann.

ATOM-Hypothese

Hervorzuheben ist, dass der Parietallappen nicht ausschließlich für die Zahlenverarbeitung und das Rechnen zuständig ist. Vielmehr handelt es sich hier um eine wichtige Hirnregion für viele nichtnumerische Funktionen wie räumliche Fähigkeiten, Aufmerksamkeit etc. (Hubbard et al. 2005; Simon et al. 2002). Im Jahre 2003 erschien eine sehr einflussreiche Arbeit von Vincent Walsh, in der der Autor die ATOM-Hypothese („A theory of magnitude“) formuliert. Diese Hypothese besagt, dass der Parietallappen nicht zahlenspezifisch ist, sondern dass Zahlenverarbeitung nur ein Aspekt einer umfassenderen Größenrepräsentation im Parietallappen ist, die zusätzlich zur numerischen Größe auch räumliche und zeitliche Größe inkludiert. Seit Walshs Publikation gibt es nun etliche empirische Befunde, die für die Gültigkeit der ATOM-Hypothese sprechen. Dazu gehört auch die in Abschnitt 1.5.1 „Semantische (Zahlen-)Größenrepräsentation und die Metapher des mentalen Zahlenstrahls“ dargestellte Arbeit von Cohen Kadosh und Mitarbeitern (2005): Sie zeigt, dass der Distanzeffekt nicht nur beim Zahlenvergleich, sondern auch beim Vergleich physischer (räumlicher) Größen sowie beim Vergleich von Helligkeiten (Luminosität ist ebenfalls eine physikalische Größe) zutage tritt (s. a. Abb. 1.6).

 

Ergebnisse bei Kindern

Die bisher vorliegenden Ergebnisse von bildgebenden Studien bei Kindern sind spärlich und kontrovers, was teilweise durch methodische Unterschiede im Untersuchungsdesign erklärbar ist (Kaufmann / Nuerk 2007). Während einige Arbeitsgruppen vergleichbare Aktivierungen bei Kindern und Erwachsenen beim Lösen von numerischen oder rechnerischen Aufgaben berichten (Cantlon et al. 2006; Kucian et al. 2005; Temple / Posner 1998), zeigen andere Studien, dass die Stärke der zahlenspezifischen Aktivierungen im Parietallappen mit dem Alter zunimmt (also bei Kindern weniger ausgeprägt ist als bei Erwachsenen; Ansari et al. 2005; Ansari / Dhital 2006; Holloway / Ansari 2010; Kaufmann et al. 2006; Vogel et al. 2015). Des Weiteren belegen etliche Befunde eine linkshemisphärische Spezialisierung im Entwicklungsverlauf, besonders für die Repräsentation von Zahlensymbolen wie arabischen Zahlen (Bugden et al. 2012; Emerson / Canton 2014; Vogel et al. 2015). So konnten etwa Vogel und Kollegen (2015) in einer fMRT Studie mit Kindern im Alter von 6–14 Jahren zeigen, dass die neuronale Aktivität des linken IPS beim Betrachten und Verarbeiten arabischer Zahlenmengen mit dem Alter zunimmt.

Zusammenfassung

Die neuronalen Grundlagen der Zahlenverarbeitung und des Rechnens sind komplex. Gute Rechenleistungen sind von der Intaktheit sehr unterschiedlicher Hirnregionen abhängig, die über das gesamte Gehirn verteilt sind. In anderen Worten: (a) Die Funktionen des Parietallappens sind nicht auf die Zahlenverarbeitung und das Rechnen beschränkt; und (b) Zahlenverarbeitung / Rechnen werden auch von Regionen außerhalb des Parietallappens moduliert. Aktuelle Fragestellungen der numerischen Kognitionsforschung betreffen unter anderem den potenziellen Zusammenhang zwischen numerischer und räumlicher Kognition sowie die Relevanz fingerbasierter Zähl- und Rechenmechanismen für das Erlernen arithmetischer Fertigkeiten. Diese Fragestellungen bzw. deren Konsequenzen sind nicht nur für die Grundlagenforschung von Interesse, sondern können auch für die Mathematikdidaktik und die Intervention von Dyskalkulie relevant sein.

Überprüfen Sie Ihr Wissen

1. Worauf begründen sich die aktuellen Annahmen und Modellvorstellungen der dem Rechnen zugrunde liegenden Denkprozesse?

2. Nennen Sie die Hauptkomponenten des McCloskey-Modells.

3. Nennen Sie die Hauptkomponenten des Triple-Code-Modells von Dehaene.

4. Was ist das Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen den Rechenmodellen von McCloskey und Kollegen (1985) und Dehaene (1992; Dehaene / Cohen 1995)?

5. Was versteht man unter doppelten Dissoziationen?

6. Worauf basiert die Erkenntnis, dass Transkodieren auch asemantisch, also ohne Zugriff auf die numerische Größenrepräsentation bzw. Numerosität, vonstatten gehen kann?

7. Zeigen Sie anhand eines Beispiels, wie man aus Fehlern (z. B. Transkodier- oder Faktenabruffehler) Rückschlüsse über die diesen Fehlern zugrunde liegenden kognitiven Prozesse ziehen kann.

8. Nennen und erläutern Sie Reaktionszeiteffekte, die die Hypothese des mentalen Zahlenstrahls stützen.

9. Woran kann man erkennen, dass jemand automatischen Zugriff auf die Zahlensemantik hat?

10. Erläutern Sie die Begriffe arithmetisches Fakten- und Prozedurenwissen.