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Zehner-Einer-Inversion

Eine weitere Besonderheit des deutschen Zahlwortsystems ist, dass die Zahlen von 21 bis 99 durch eine Inkongruenz zwischen Stellenwertsystem (ersichtlich aus der geschriebenen arabischen Zahl) und der verbalen Ziffernabfolge (beim Zahlwort) charakterisiert sind. Diese Unregelmäßigkeit erfordert, dass während des Lesens / Schreibens arabischer Zahlen ein Inversionsprozess stattfindet (die arabische Zahl „23“ entspricht dem gesprochenen Zahlwort „dreiundzwanzig“). Das heißt, deutschsprachige Kinder müssen zusätzlich zum komplexen Stellenwertsystem auch die dem deutschen Zahlwortsystem innewohnende Inversionsregel erlernen, was – zumindest in den ersten beiden Grundschuljahren – manchen Kindern schwerfällt (s. Abschnitt 2.5).

Stellenwertsystem

Die Verarbeitung mehrstelliger arabischer Zahlen erfordert ein Verständnis des Stellenwertsystems (für einen Überblick s. Nuerk / Willmes 2005). Beim Lesen / Schreiben mehrstelliger Zahlen beziehen die (die Gesamtzahl konstituierenden) einzelnen Ziffern ihren numerischen Wert aus ihrer Stellung in der Zahlenfolge. Am Beispiel der Ziffer 929 – und von links gelesen – heißt das, dass die Ziffer 9 einmal einen numerischen Wert von 900 und das andere Mal einen Wert von 9 darstellt.

syntaktische Struktur

Ein weiteres Charakteristikum des arabischen Zahlensystems ist seine syntaktische Struktur. Mehrstellige arabische Zahlen erhalten ihren numerischen Wert durch die Verknüpfung zweier oder mehrerer Ziffern, wobei dem Stellenwert der Ziffer innerhalb der Zahlenfolge eine wesentliche Bedeutung zukommt (29 vs. 92). Die syntaktische Struktur mehrstelliger arabischer Zahlen ist entweder additiv oder multiplikativ. Der Zahl 405 wohnen beispielsweise beide Kompositionsregeln inne, nämlich eine additive im Hinblick auf die Einerstelle (400 + 5) und eine multiplikative im Hinblick auf die Hunderterstelle (4 x 100). Während der Erwerbsphase wird gewöhnlich die multiplikative vor der additiven Kompositionsregel gemeistert (Power / dal Martello 1997; Seron / Fayol 1994).

Transkodieren


Eine wesentliche Komponente innerhalb der basisnumerischen Verarbeitung ist das Lesen und Schreiben von Zahlen, welches das Umwandeln von einem Zahlen- bzw. Notationsformat in ein anderes erfordert. Dieser Umwandlungsprozess wird als Transkodieren bezeichnet. Die Übersetzung einer arabischen Zahl in ein Zahlwort beim Lesen einer Zahl wird als visuell-verbales Transkodieren bezeichnet, die umgekehrte Übersetzung eines Zahlwortes in eine arabische Zahl beim Zahlenschreiben heißt demgemäß verbal-visuelles Transkodieren. Die Zahlen von 1 bis 9 (sowie die Zahl 0) sind die konstituierenden Elemente des Zahlensystems und begründen zugleich die Zahlwortabfolge.

Transkodierfehler

Typische Fehler beim Transkodieren betreffen entweder die syntaktische Struktur (z. B. 405 wird geschrieben als 4005) oder lexikalische Elemente (z. B. 405 wird geschrieben als 407; Deloche / Seron 1982a, b). Transkodierfehler bei erworbenen Rechenstörungen sind häufig von beiden Fehlerarten charakterisiert, wobei lexikalische Fehler vor allem dann zu beobachten sind, wenn die Rechenstörung mit einer Lese- oder Sprachstörung assoziiert ist (Cipolotti / Butterworth 1995).


Granà und Kollegen (2003) weisen darauf hin, dass die Differenzierung in lexikalisch und syntaktisch auch für die Bearbeitung der „0“ gilt. Der von den Autoren beschriebene Patient LD tendierte dazu, sogenannte „syntaktische“ Nullen auszulassen (z. B. wurde die Zahl 408 als 48 transkodiert). Dagegen unterliefen ihm bei der Produktion von „lexikalischen“ Nullen (also Nullen in einer vollen Zehnerzahl, wie z. B. bei der Zahl 40, aber auch bei der Zahl 40236) keine Fehler. Granà und Mitarbeiter interpretieren dieses spezifische Leistungsprofil als Hinweis, dass lexikalische Nullen leichter zu verarbeiten sind als syntaktische. Grund dafür sei, dass lexikalische Nullen unmittelbar mit einem numerischen Konzept (nämlich einer semantischen Größe, die auf dem Basis-10-System beruht) assoziiert werden können, was für syntaktische Nullen nicht der Fall sei.

semantisch vs. asemantisch

Eine derzeit noch sehr kontrovers diskutierte Frage ist, ob das Transkodieren von einem Zahlenformat in ein anderes immer auch erfordert, dass die entsprechende Zahl in ihrer Mächtigkeit erfasst wird. Man spricht hier auch von semantischem Transkodieren, also Transkodieren unter Zugriff auf die Bedeutung der Zahl. Asemantische Modelle gehen demgegenüber davon aus, dass Zahlenformen auch ohne jedes Verständnis für die numerische Bedeutung der Zahl transkodiert werden können (Barouillet et al. 2004; Deloche / Seron 1987; Power / dal Martello 1997). Bei gesunden Erwachsenen wird die Zahlensemantik üblicherweise automatisch aktiviert, in welchem Format auch immer Zahlen präsentiert werden. Patientenstudien weisen allerdings darauf hin, dass dies nicht zwingend der Fall ist.

Ein-Routen- vs. multiple Transkodiermodelle

Das Modell von McCloskey und Mitarbeitern (1985) postuliert, dass jeder Transkodierprozess über eine abstrakte internale (semantische) Repräsentation vonstatten geht. Es ist im Hinblick auf das Postulat von ausschließlichen – und obligatorischen – semantischen Transkodierrouten ein sogenanntes Ein-Routen-Modell. Demgegenüber postulieren sogenannte Multi-Routen-Modelle des Transkodierens sowohl semantische als auch asemantische Verarbeitungswege (Cipolotti 1995; Cipolotti / Butterworth 1995; Cohen et al. 1994; Dehaene / Cohen 1995).

So zeigte die detaillierte Untersuchung eines Patienten mit erworbener Lesestörung (Alexie) eine Dissoziation zwischen erhaltenem Lesen von Zahlen mit hohem Bekanntheitsgrad (z. B. geschichtlich bedeutsame Jahreszahlen wie 09 11 für den Terroranschlag in den USA; oder Zahlen, welche mit Markenlabels in Verbindung gebracht werden, wie z. B. 4711 für Kölnischwasser) und defizitärem Lesen von Zahlen ohne semantischer Konnotation (Cohen et al. 1994). Die Autoren interpretieren diese Dissoziation dahingehend, dass Zahlen mit hohem Bekanntheitsgrad über lexikalische Transkodierrouten verarbeitet werden, während bedeutungslose Zahlen über nichtlexikalische Routen verarbeitet werden.

Der von Cipolotti (1995) beschriebene Patient SF (mit beginnender Demenz vom Alzheimer Typ) konnte mehrstellige Zahlen nur dann lesen, wenn sie in Form eines Zahlwortes (also über die orthografische Route), nicht jedoch, wenn sie in Form einer arabischen Zahl präsentiert waren. Demgegenüber hatte ein anderer von Cipolotti beschriebener Patient Schwierigkeiten bei Transkodieraufgaben, die verbalen und schriftlichen Output erforderten. Er konnte jedoch ein- und mehrstellige Zahlen beim schriftlichen Rechnen sowie zweistellige Zahlen beim Kopfrechnen richtig zuordnen (Patient SAM: Cipolotti / Butterworth 1995). Beide von Cipolotti beschriebenen Patienten demonstrierten teilweise intaktes Zahlenverständnis: Das heißt, dass die Transkodierleistungen unabhängig vom Zahlenverständnis beeinträchtigt sein können (SF: Lesen arabischer Zahlen; SAM: Schreiben von Zahlwörtern und arabischen Zahlen).

Multi-Routen-Modell

Basierend auf diesen Einzelfallstudien entwickelten Butterworth und Cipolotti das in Abbildung 1.3 dargestellte multiple Transkodiermodell. Das Modell postuliert die Existenz von vier voneinander differenzierbaren asemantischen Transkodierrouten, die zusätzlich zu einem semantischen Transkodierweg in Aktion treten können. Zwei asemantische Transkodierrouten ermöglichen das Lesen und Schreiben arabischer Zahlen (gestrichelte Linien in Abb. 1.3). Die restlichen zwei asemantischen Transkodierrouten treten gemäß Cipolotti und Butterworth (1995) beim Wiederholen von gehörten Zahlwörtern und beim Lesen geschriebener Zahlwörter in Aktion (durchgezogene Linien in Abb. 1.3) und sind höchstwahrscheinlich nicht für Zahlen spezifisch, sondern allgemeinen Sprachverarbeitungsmechanismen zuzuschreiben.


Abb. 1.3: Das Multi-Routen-Modell des Transkodierens von Cipolotti und Butterworth (1995)

 

Das Multi-Routen-Modell des Transkodierens (Cipolotti / Butterworth 1995) unterscheidet sich also vom McCloskey-Modell (McCloskey et al. 1985; McCloskey 1992) in folgenden zwei Punkten: (a) Weder das Nachsprechen noch das Abschreiben von Zahlwörtern erfordern den Zugriff auf abstrakte semantische Repräsentationen (in diesem Falle also die dem entsprechenden Zahlwort inhärente Numerosität); und (b) sowohl für das Lesen als auch für das Schreiben arabischer Zahlen gibt es zusätzlich zu der semantischen Route direkte asemantische Transkodierrouten.

Zusammenfassung

Das Zahlensystem ist regelhaft aufgebaut und durch eine Basis-10-Struktur charakterisiert (dekadisches Positionssystem). Bei mehrstelligen Zahlen werden die Ziffern (0–9) durch additive und multiplikative Kompositionsregeln in Form eines Stellenwertsystems miteinander verknüpft. In der deutschen Sprache ist das verbale Zahlwortsystem im Bereich der zweistelligen Zahlen (21–99) durch das Inversionsprinzip gekennzeichnet.

Transkodieren – also die Umwandlung von einem Zahlencode in einen anderen – ist ein komplexer kognitiver Prozess. Die Befunde aktueller Patientenstudien im Hinblick auf deren Transkodierleistungen sind am besten durch multiple Routenmodelle erklärbar, die die Koexistenz von semantischen und asemantischen Transkodierrouten postulieren. Semantisches Transkodieren beinhaltet den Zugriff auf die analoge Größenrepräsentation bzw. den numerischen Wert der zu verarbeitenden Zahlen, während asemantische Routen direkt von einem zum anderen Zahlenformat (also ohne Aktivierung der Semantik) verlaufen.

Semantische (Zahlen-)Größenrepräsentation und die Metapher des mentalen Zahlenstrahls

mentaler Zahlenstrahl

Das Konstrukt des mentalen Zahlenstrahls ist eine sehr populäre Metapher in der numerischen Kognitionsliteratur und besagt, dass in der mentalen Vorstellung die Zahlen analog (nämlich linear) und räumlich von links nach rechts angeordnet sind (Dehaene 1992; s. a. Dehaene 1999). Die analoge Repräsentation ermöglicht den Zahlenvergleich, wobei numerisch weiter entfernte Zahlen (z. B. 2 vs. 6) leichter zu unterscheiden sind als numerisch benachbarte Zahlen (z. B. 2 vs. 3). Die Vorstellung der räumlichen Anordnung von Zahlen auf einer Linie basiert auf zwei wiederholt replizierten Befunden zur Verarbeitung von Zahlen, nämlich dem Distanzeffekt einerseits und dem SNARC-Effekt („spatial numerical association of response codes“ bzw. auf gut deutsch: räumlich-numerische Assoziation des Antwortcodes) andererseits.

Distanzeffekt

Der Distanzeffekt kann berechnet werden, wenn ein Proband möglichst schnell entscheiden soll, welche von zwei gleichzeitig präsentierten Zahlen die größere ist. Dabei zeigt sich, dass die Reaktionszeit systematisch sinkt, je größer die numerische Distanz zwischen den beiden Zahlen ist. Es besteht also ein negativer Zusammenhang zwischen Reaktionszeit und numerischer Distanz der zu vergleichenden Zahlen (s. Abb. 1.4a). Anders formuliert: Probanden klassifizieren numerisch benachbarte Zahlen (2 vs. 3) langsamer als numerisch weiter voneinander entfernte (2 vs. 8; Moyer / Landauer 1967). Wie aus Abbildung 1.4b ersichtlich, gilt dies auch für zweistellige Zahlen. Ein von Henik und Tzelgov (1982) postulierter und in der Folgezeit weithin etablierter plausibler Erklärungsansatz für den Distanzeffekt ist, dass relativ zu weiter entfernten Zahlen die internen semantischen Größenrepräsentationen von benachbarten Zahlen auf dem Zahlenstrahl eher überlappen und somit beim Abruf miteinander in Konkurrenz treten (interferieren).


Abb. 1.4a: Distanzeffekt bei einstelligen Zahlen (aufgrund der gewöhnlich hohen Bearbeitungsgenauigkeit wird der Distanzeffekt beim einstelligen Zahlenvergleich primär in der Bearbeitungsgeschwindigkeit ersichtlich)


b: Distanzeffekt bei zweistelligen Zahlen (modifiziert nach Dehaene et al. 1990)

logarithmische Charakteristik

Dehaene und Kollegen gehen davon aus, dass die Zahlen am Zahlenstrahl logarithmisch komprimiert sind. Logarithmisch bedeutet, dass trotz gleichbleibenden numerischen Abstands mit zunehmender Zahlengröße der subjektive Abstand zwischen zwei Zahlen abnimmt (Dehaene et al. 1990). So erscheint beispielsweise der Abstand zwischen den Zahlen 3 und 8 subjektiv größer als jener zwischen 53 und 58, obwohl die tatsächliche numerische Differenz bei beiden Zahlenpaaren gleich ist (s. Abb. 1.5a).

Dies entspricht dem sogenannten Weber’schen Gesetz für unsere Wahrnehmung, welches besagt, dass sich die subjektive Stärke von Sinneseindrücken logarithmisch zur objektiven Intensität des physikalischen Reizes verhält. Interessanterweise verarbeiten wir numerische Größe also ebenso wie physikalische Größen (z. B. Helligkeit, Lautstärke; s. Abb. 1.6). Durch die logarithmische Charakteristik des Zahlenstrahls ist es auch erklärbar, dass kleine relativ zu großen Numerositäten / Zahlen mit größerer Exaktheit bearbeitet werden können.


Abb. 1.5 a, b: Schematische Darstellung des mentalen Zahlenstrahls. Der obere Teil der Abbildung (Abb. 1.5 a) entspricht der holistischen Modellvorstellung der Zahlenverarbeitung (Dehaene et al. 1990). Eine alternative Modellvorstellung besagt, dass die Einer und Zehner bei zweistelligen Zahlen separat verarbeitet werden (Abb. 1.5 b, Nuerk et al. 2001; wir danken Hans-Christoph Nuerk für diese Abbildung)


Abb. 1.6: Distanzeffekt bei numerischen und nichtnumerischen Größen (Cohen Kadosh et al. 2005)


Der Zahlenstrahl bei Neglektpatienten

Die Hypothese der räumlichen Orientierung der Zahlen am Zahlenstrahl wird auch durch aktuelle Untersuchungen von Neglektpatienten unterstützt. Neglekt ist eine neurologische, meist temporäre, Störung, die nach (rechtshirnigen) parietalen Schädigungen auftritt und mit einer Vernachlässigung der linken Raum- und / oder Körperhälfte einhergeht (bei intakter Sehleistung). Das äußert sich beispielsweise beim Lesen und Schreiben sowie bei Alltagsaktivitäten wie dem Essen und der Körperpflege.

Ein klassisches in der Neglektdiagnostik verwendetes Verfahren sind Linienbisektionsaufgaben: Hier sollen die Patienten jeweils die Mitte von horizontal präsentierten Linien markieren. Ein systematischer Fehler von Neglektpatienten ist die Verschiebung dieser Mitte nach rechts, da sie die linke Raumhälfte – also auch die linke Seite der zu halbierenden Linie – nicht wahrnehmen. In einer viel beachteten Arbeit berichten Zorzi und Mitarbeiter (2002), dass Neglektpatienten auch bei einer verbalen Zahlenbisektionsaufgabe („Welche Zahl liegt genau zwischen 2 und 6?“) systematische Fehler unterlaufen, die analog zu den Fehlern bei der Linienbisektionsaufgabe sind: Neglektpatienten ignorieren die linke Seite des mentalen Zahlenstrahls und behaupten beispielsweise, dass 5 die numerische Mitte von 2 und 6 sei. Diese Arbeiten unterstützen eindrücklich die Hypothese, dass der mentale Zahlenstrahl räumlich (von links nach rechts) orientiert ist.

SNARC-Effekt

Ein Reaktionszeiteffekt, der die Hypothese der räumlichen Orientierung des Zahlenstrahls stützt, ist der SNARC (spatial numerical association of response codes)-Effekt. Die dem SNARC-Effekt zugrunde liegende klassische experimentelle Aufgabe ist eine Paritäts-Entscheidung: Die Probanden sehen jeweils eine (meist einstellige) arabische Zahl und sollen entscheiden, ob diese gerade oder ungerade ist. Das heißt, die numerische Größe ist bei dieser Aufgabe irrelevant. Wichtig ist, dass in der ersten Hälfte des Experiments die rechte Hand der Reaktionstaste „gerade“ zugeordnet ist und die linke Hand der Reaktionstaste „ungerade“, dass in der zweiten Hälfte des Experiments die Zuordnung aber vertauscht wird. Ein typisches und in der Zwischenzeit vielfach repliziertes Antwortmuster ist, dass numerisch kleine Zahlen schneller mit der linken Hand und numerisch große Zahlen schneller mit der rechten Hand beantwortet werden (Dehaene et al. 1993; Gevers et al. 2005; Nuerk et al. 2005). Die Erklärung für diesen Befund ist, dass kleine Zahlen auf unserem mentalen Zahlenstrahl eher links angeordnet sind, so dass die räumlich nähere Hand hier schneller reagieren kann als bei großen Zahlen, die sich räumlich auf dem Zahlenstrahl näher an der rechten Hand befinden.

Reaktionszeitdifferenz

Grafisch wird dieser Effekt dargestellt durch eine Subtraktionsmethode, wobei die Reaktionszeiten der linken Hand von jenen der rechten Hand subtrahiert werden. Wie aus Abbildung 1.7 ersichtlich, ist diese Reaktionszeitdifferenz für kleine Zahlen positiv und für numerisch große Zahlen negativ, und zwar unabhängig vom Zahlenformat. Der SNARC-Effekt ist also evozierbar bei der Präsentation von arabischen Zahlen, gehörten und geschriebenen Zahlwörtern und sogar bei Punktmustern (Nuerk et al. 2005).


In einer aktuellen Meta-Analyse von 46 Studien zum SNARC-Effekt (die insgesamt 106 Experimente und 2.206 Probanden zwischen 9 und 66 Jahren inkludierte) konnten Wood und Kollegen (2008) zeigen, dass die Stärke des SNARC-Effekts mit dem Alter linear zunimmt. Effekte von Geschlecht und Händigkeit waren weniger stark ausgeprägt, aber tendenziell vorhanden: Männer und Rechtshänder zeigten stärkere SNARC-Effekte relativ zu Frauen und Linkshändern. Wood und Kollegen betonen jedoch, dass die Ergebnisse zwischen den Studien recht variabel waren und dass nicht alle Probanden einen SNARC-Effekt zeigten. Der SNARC-Effekt ist also kein besonders robuster Effekt. Trotzdem haben seine Entdeckung und die Vielzahl der Studien, die sich in der Folgezeit mit dem SNARC-Effekt beschäftigten, einen wesentlichen Beitrag zu einem besseren Verständnis der mentalen Zahlenrepräsentationen und deren Interaktion mit der räumlichen Kognition geleistet.


Abb. 1.7: Der SNARC-Effekt (modifiziert nach Nuerk et al. 2005)

Kompatibilitätseffekt

Dehaene und Mitarbeiter (1990) postulieren, dass mehrstellige Zahlen als numerische Einheit, also holistisch verarbeitet werden. Gegen diese Annahme sprechen allerdings aktuelle empirische Befunde, die belegen, dass die einzelnen Ziffern in einer mehrstelligen Zahl separat verarbeitet werden. Nuerk und Mitautoren (2001) konnten zeigen, dass gesunde Probanden beim Größenvergleich zweistelliger Zahlen schneller waren, wenn sowohl die Einer- als auch Zehnerstellen zum gleichen Entscheidungsprozess führten. Beim Zahlenpaar 58 versus 32 ist dies der Fall, da sowohl die Einer (8 vs. 5) als auch die Zehner (5 vs. 3) jedes Mal bei derselben Zahl numerisch größer sind und die Größenvergleiche der Zehner und der Einer somit in die gleiche Richtung gehen, also miteinander kompatibel sind. Hatten die Probanden jedoch zu entscheiden, welche Zahl beim Zahlenpaar 85 versus 37 größer ist, so waren die Bearbeitungszeiten wesentlich langsamer und die Fehlerraten höher, da bei diesem Zahlenpaar die Größenentscheidung der Einer und Zehner in unterschiedliche Richtungen gehen (Zehner: 8 > 3; Einer: 5 < 7) und somit inkompatibel sind. Nuerk und Kollegen (2001) prägen für diesen Reaktionszeiteffekt den Begriff „Kompatibilitätseffekt“ und interpretieren die Ergebnisse als Beleg für die separate Verarbeitung mehrstelliger arabischer Zahlen (s. Abb. 1.5b). Wenn zweistellige Zahlen tatsächlich holistisch verarbeitet werden (wie von Dehaene et al. 1990 postuliert), dann sollten die Reaktionszeiten unabhängig von der Kongruenz der Einer- und Zehnerstellen sein. Dies ist jedoch nicht der Fall.

 

Der Kompatibilitätseffekt konnte sowohl für deutsch- als auch für englischsprachige Stichproben gezeigt werden, d. h. er ist unabhängig von der Irregularität der zweistelligen Zahlwörter im Deutschen. Zudem tritt er sowohl bei arabischen Zahlen als auch bei Zahlwörtern auf und ist also unabhängig vom Zahlenformat (Nuerk / Willmes 2005).

Basisnumerische Verarbeitung ist automatisch und oft nicht intentional

Zahlen-Größen-Interferenz

numerischer Stroop

Generell fällt es geübten Rechnern schwer, den mit der entsprechenden arabischen Zahl assoziierten numerischen Wert zu unterdrücken. Zahlreiche experimentelle Untersuchungen zeigen, dass der numerische Wert einer Zahl auch dann automatisch aktiviert wird, wenn er für die Lösung einer Aufgabe irrelevant oder sogar hinderlich ist. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Probanden die Schriftgröße zweier (einstelliger) Zahlen beurteilen sollen und die Aufgabe darin besteht, die physisch größere Zahl mittels Tastendruck auszuwählen. Die Entscheidung ist schwieriger (reflektiert in längeren Reaktionszeiten und höherer Fehleranzahl), wenn die zwei präsentierten Ziffern hinsichtlich ihrer numerischen und physischen Größe inkongruent sind (6 3). Die Entscheidungsfindung ist demgegenüber leichter (ersichtlich aus schnelleren Bearbeitungszeiten und geringeren Fehlerraten), wenn die zu vergleichenden Zahlenpaare hinsichtlich ihrer numerischen und physischen Größe kongruent sind (6 3) oder wenn die beiden Zahlen hinsichtlich ihres numerischen Wertes neutral sind (3 3). Diese Aufgabe ist auch als Zahlen-Größen-Interferenzaufgabe bzw. numerische Stroop-Aufgabe bekannt.

Größenkongruenzeffekt

Der entsprechende Reaktionszeiteffekt (schnellere Bearbeitungszeit bei kongruenten oder neutralen relativ zu inkongruenten Zahlenpaaren) wird dementsprechend Größenkongruenzeffekt genannt.

Zusammenfassung

Die Metapher des mentalen Zahlenstrahls besagt, dass die mentalen Repräsentationen von Zahlen und Mengen analog und räumlich (von links nach rechts) orientiert sind. Befunde zu Distanzeffekt und SNARC-Effekt unterstützen die Annahme der räumlichen Orientierung der Zahlen am mentalen Zahlenstrahl. Der Kompatibilitätseffekt zeigt, dass der Zugriff auf die semantische Größenrepräsentation bzw. Numerosität bei zweistelligen Zahlen nicht holistisch erfolgt, sondern separat für die Einer und Zehner. Die Aktivierung der Numerosität kann auch automatisch erfolgen: Beim physischen Zahlenvergleich kann die aufgabenirrelevante numerische Größe zu Interferenzeffekten führen.

1.5.2 Rechenfertigkeiten

Arithmetisches Faktenwissen

assoziative Netzwerke

Wie bereits erwähnt, versteht man unter arithmetischen Fakten einfache Rechnungen mit einstelligen Operanden (z. B. 4 + 2; 4 – 2; 4 x 2). Arithmetisches Faktenwissen wird direkt aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen. Es herrscht weitgehend Übereinstimmung, dass die arithmetischen Fakten in Form von assoziativen Netzwerken organisiert sind (Ashcraft 1995). Dabei wird ein arithmetisches Problem (3 x 5) durch wiederholte Präsentation bzw. wiederholtes Üben mit der entsprechenden Antwort (15) assoziativ verknüpft. Über die Erwerbsprozesse und Schwierigkeiten beim Enkodieren oder Abruf arithmetischer Fakten wird in den Kapiteln 2 und 3 ausführlicher berichtet. An dieser Stelle soll die Organisation des Faktenwissens bei Erwachsenen erläutert werden. Besonders hervorzuheben ist, dass auch Erwachsene ohne Rechenstörung eine Vielzahl von Strategien beim Lösen einfacher arithmetischer Multiplikations- und Additionsfakten anwenden und bei weitem nicht alle als arithmetische Fakten gespeichert haben (z. B. LeFevre et al. 1996).

Multiplikationsfakten

Die klassische Form des numerischen Faktenwissens ist das kleine Einmaleins. McCloskey (1992) postuliert hier drei verschiedene Arten von Multiplikationsfakten.

(1) Regelbasierte Fakten, das sind Aufgaben, die eine 0 oder eine 1 beinhalten. Bei dieser Aufgabenart muss man nur eine Aufgabe verstanden haben, um alle Aufgaben dieser Art zu lösen. Wenn ich weiß, dass „3 x 0 = 0“ ist, dann kann ich diese Regel (nämlich n x 0 = 0 bzw. n x 1 = n) auf alle anderen Aufgaben anwenden, die eine 0 bzw. eine 1 beinhalten.

(2) Sogenannte „ties“, das sind alle Multiplikationen, bei denen die beiden Operanden identisch sind (z. B. 3 x 3; 9 x 9). Empirische Befunde zeigen, dass diese Fakten besonders gut abgespeichert und besonders schnell abrufbar sind (s. McCloskey 1992; LeFevre et al. 1996).

(3) Bei allen übrigen Multiplikationsfakten muss jede einzelne Rechnung assoziativ erlernt und abgerufen werden.

Tafelsuchmodell

Das sogenannte Tafelsuchmodell ist eine grafische Darstellung dieser assoziativen Netzwerkmodelle, anhand derer die mentale Organisation der arithmetischen Fakten sowie bestimmte Reaktionszeitphänomene und Fehlertypen beim Faktenabruf veranschaulicht werden können (Ashcraft 1995; s. Abb. 1.8).


Geübten Rechnern fällt es schwer, aufgabenirrelevantes Faktenwissen zu unterdrücken. Thibodeau und Mitarbeiter (1996) baten Probanden, zwei hintereinander präsentierte Zahlenpaare miteinander zu vergleichen und zu entscheiden, ob die Zahlenpaare identisch sind. Die Resultate zeigten, dass Probanden langsamer waren und mehr Fehler begingen, wenn auf das erste Zahlenpaar (z. B. 3 4) ein zweites Zahlenpaar (z. B. 1 2) folgt, das ein Produkt der beiden vorher gezeigten Zahlen ist (3 x 4; 12). Auch wenn die falsche Antwort das Produkt einer benachbarten Multiplikation ist (sogenannte Operandenfehler, s. folgenden Absatz), waren Interferenzeffekte – reflektiert in längeren Reaktionszeiten und höheren Fehlerraten – beobachtbar (3 x 4; 15; Galfano et al. 2003). Dagegen wird schneller und genauer geantwortet bei Ablenkern, die nicht aus der Multiplikationsreihe der beiden Stimuluszahlen kommen (3 x 5; 17). Dieser Reaktionszeiteffekt, der die automatische Aktivierung von gespeichertem Multiplikationswissen reflektiert, konnte auch bei Kindern (Kaufmann et al. 2004) sowie bei älteren Probanden und Patienten mit minimaler kognitiver Dysfunktion beobachtet werden (Zamarian et al. 2007).


Abb. 1.8: Tafelsuchmodell. Schematische Darstellung eines Operandenfehlers (gestrichelte Linie) im assoziativen Netzwerk der Multiplikationsfakten. Die korrekte Lösung ist durch durchgehende Linien gekennzeichnet

Operandenfehler

Eine sehr häufige Fehlerart beim Abruf von Multiplikationsfakten sind sogenannte Operandenfehler. Hier handelt es sich um Fehler, bei denen die falsche Lösung am Tafelsuchmodell direkt neben der richtigen Lösung liegt (also zur Multiplikationsreihe eines benachbarten Operanden gehört; z. B. 3 x 6 = 15). Operandenfehler kommen nicht nur bei Patienten mit erworbenen Rechenstörungen vor, sondern machen auch einen Großteil der Fehler bei gesunden Erwachsenen aus: gemäß Campbell (1987) bis zu zwei Drittel bzw. vier Fünftel aller Fehler. Operandenfehler sind auch bei Kindern in der Erwerbsphase häufig zu beobachten (Siegler 1988) und treten sowohl bei Produktions- als auch bei Verifikationsaufgaben auf.

Produktions- und Verifikationsaufgaben

Produktionsaufgaben sind solche, bei denen der Proband das Problem sieht / hört und die Antwort selbst generieren muss. Bei einer Verifikationsaufgabe sieht der Proband die vollständige Aufgabe (Problem mit Lösung, z. B. 3 x 7 = 24) und soll entscheiden, ob die Lösung richtig oder falsch ist. Wenn in einer solchen Verifikationsaufgabe Operandenfehler wie „3 x 6 = 15“ dargeboten werden, so werden sie generell langsamer zurückgewiesen und eher fälschlich als korrekt bewertet als sogenannte „non-table“-Fehler (das sind solche, deren Lösung nicht das Ergebnis einer Multiplikationsreihe ist: 3 x 6 = 17).

Problemgrößeneffekt

Die Auftretenswahrscheinlichkeit von Operandenfehlern wird durch den Problemgrößeneffekt (Zbrodoff / Logan 2005) moduliert. Dieser besagt, dass Aufgaben mit größeren Operanden (z. B. 7 x 8) fehleranfälliger sind und auch langsamer bearbeitet werden als Aufgaben mit kleinen Operanden (z. B. 3 x 4). Eine Sonderstellung in Bezug auf die Problemgröße nimmt die 5er-Reihe der Multiplikationen ein (z. B. 6 x 5) sowie sogenannte „ties“, das sind Multiplikationsfakten mit zwei identischen Operanden (z. B. 6 x 6). Diese Fakten sind offenbar besonders gut gespeichert und können daher besser und schneller abgerufen werden als andere (LeFevre et al. 1996). Wie bereits weiter oben erwähnt, kann das arithmetische Faktenwissen je nach Operationsart unterschiedlich beeinträchtigt sein. Dies gilt sowohl für entwicklungsbedingte Dyskalkulie (z. B. Kaufmann 2002) als auch für erworbene Rechenstörungen.

Prozedurales arithmetisches Wissen


Unter prozeduralem Wissen versteht man das Wissen um das Ausführen von Lösungsalgorithmen bzw. das Wissen um die richtige Abfolge von Lösungsschritten bei mehrstufigen und komplexen Rechnungen. Prozedurales Wissen ist wichtig beim schriftlichen Rechnen, wie beispielsweise beim Lösen von „327 + 25“. Als Erstes muss erkannt werden, dass es sich um eine Addition handelt. Dann muss man die Zahlen (räumlich) richtig untereinander schreiben, so dass die Einer unter den Einern, die Zehner unter den Zehnern usw. zu stehen kommen. Mit dem nächsten Schritt beginnt nun der eigentliche Rechenvorgang: Im Falle der Addition muss der Rechner wissen, dass er bei den Einern beginnen muss (was bei einer Multiplikation oder Division die falsche Strategie wäre). Im obigen Beispiel beinhaltet der erste Rechenschritt eine Zehnerüberschreitung (7 + 5): Das heißt man muss die Einerstelle anschreiben (die 2 von der Zwischensumme 12) und den Zehnerübertrag mitnehmen und beim Addieren der Zehnerstellen berücksichtigen (2 + 2 + 1; 5 muss angeschrieben werden, diesmal ist kein Übertrag zu berücksichtigen). Beim letzten Schritt müssen die Hunderterstellen zusammengezählt werden: da im obigen Beispiel nur die erste Zahl eine Hunderterstelle hat, bedeutet dies, dass hier eine 0 bzw. nichts dazugezählt wird. Wie aus diesem relativ einfachen Beispiel ersichtlich wird, ist eine komplexe Reihe von Lösungsschritten in der chronologisch richtigen Reihenfolge durchzuführen.

prozedurale Defizite

Prinzipiell kann man zwei Arten von prozeduralen Defiziten unterscheiden. Der erste Fehlertyp ist charakterisiert durch konsistente und systematische (also immer gleichbleibende) Fehler. Dieser Fehlertyp ist ein Hinweis für das Vorliegen von defizitärem schematischen Wissen. Girelli und Delazer (1996) berichten beispielsweise von einem Patienten (MT), der beim Subtrahieren mehrstelliger Zahlen ein sehr konsistentes Fehlermuster zeigte: Er zog immer die kleinere von der größeren Zahl ab, und zwar unabhängig davon, ob die größere Zahl in der oberen oder unteren Zeile stand (bzw. zum Subtrahenden oder Minuenden gehörte).