Dyskalkulie

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1 Zahlenverarbeitung und Rechnen bei Erwachsenen

1.1 Einleitung

Gute Rechenfertigkeiten sind in unserer Gesellschaft mindestens ebenso wichtig wie gute Lesefertigkeiten. Diese Aussage gilt nicht nur für die Schulzeit, sondern auch für das Berufsleben. Wer gravierende Schwierigkeiten beim Rechnen hat, ist sowohl im Alltag (beim Einkaufen, Einparken: Schätzen, ob die Parklücke groß genug für das Auto ist, etc.) als auch in der Berufswahl erheblich eingeschränkt. Personen, die Schwierigkeiten beim Kopfrechnen haben oder solche, denen beim Lesen und Schreiben arabischer Zahlen leicht Fehler passieren, werden den Anforderungen von Berufen, die den Umgang mit (Wechsel-)Geld erfordern, nicht entsprechen können (z. B. Kassierer, Verkäufer, Bankangestellte). Auch die meisten naturwissenschaftlichen Professionen sind mathematiklastig (z. B. Physik, [Bio-]Chemie) und werden von Menschen mit Rechenschwierigkeiten meist vermieden.

Rechnen ist eine neurokognitiv hochkomplexe Leistung. Bereits intuitiv ist uns klar, dass wir die einfache Rechnung „2 + 6“ anders lösen als die komplexe Rechnung „23233 x 72“. Bei Textaufgaben besteht das Problem oft nicht in der eigentlichen Ausführung der geforderten Rechenleistung, sondern in der Entwicklung des korrekten Lösungsweges. Rechnen setzt voraus, dass wir mit Zahlen kompetent umgehen können. Eine wesentliche Erkenntnis der neurokognitiven Forschung ist, dass schon die einfache Verarbeitung von Zahlen in eine ganze Reihe von Teilkomponenten zerfällt, die im Einzelfall sehr spezifisch gestört sein können.


Der Begriff numerische Kognition umfasst all jene Denkprozesse, die mit dem Verstehen und Verarbeiten von Zahlen (gesprochene Zahlwörter, geschriebene arabische Zahlen) sowie mit dem Ausführen von Rechenoperationen (mental im Sinne von Kopfrechnungen oder beim schriftlichen Rechnen) zu tun haben. Die numerische Kognition unterscheidet sich von anderen Domänen der Kognition in vielerlei Hinsicht. Noël (2000) hebt hier vor allem drei Aspekte der Zahlenverarbeitung hervor:

(a) Zahlen stellen einen besonderen Aspekt der Realität dar (es geht um Größe bzw. Mächtigkeit);

(b) Zahlen sind Objekte spezifischer Denkprozesse, wie z. B. Rechnen, Größenvergleich, Paritätsbeurteilung; und

(c) Zahlen können in verschiedenen Formaten repräsentiert werden, nämlich als arabische Zahlen (Ziffernfolgen, wie z. B. 37), geschriebene Zahlwörter (Buchstabenfolgen, wie z. B. siebenunddreißig), gesprochene Zahlwörter (phonologische Sequenzen, wie z. B. „sieben und dreißig“), römische Zahlen (z. B. XXXVII) etc.


Teilkomponenten des Rechnens

Während sich die Forschung erst in jüngerer Zeit mit der typischen und atypischen Entwicklung der Zahlenverarbeitung und Rechenleistungen beschäftigt, gibt es eine lange und reiche Tradition der wissenschaftlichen Untersuchung der Teilkomponenten des Rechnens bei Erwachsenen. Ausgangspunkt dieser Forschungstradition war die detaillierte neuropsychologische Beschreibung von erworbenen Rechenstörungen, also Ausfällen der Rechenleistungen als Folge einer Hirnschädigung, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ermöglichten insbesondere die detailreichen Methoden der Kognitionspsychologie zunehmend die Untersuchung der numerischen Kognition bei kompetenten Erwachsenen. Auf dieser Forschungsrichtung basieren die wesentlichen neurokognitiven Modelle der Zahlenverarbeitung und des Rechnens, mit denen wir heute arbeiten.

Einen weiteren wesentlichen Entwicklungsschub erfuhr die Untersuchung der Rechenleistungen durch die modernen Techniken der Neurowissenschaften, die durch diverse bildgebende Verfahren die Erforschung der Gehirnaktivität bei kompetenten Rechnern ermöglichen. Wesentliche Erkenntnisse dieser reichen Forschungstradition sind die Identifikation einer ganzen Reihe von Teilkomponenten der Zahlenverarbeitung und der arithmetischen Leistungen bei Erwachsenen, die zum Teil erstaunlich unabhängig voneinander funktionieren und auch sehr spezifisch gestört sein können. Diese Erkenntnisse stellen eine wichtige Grundlage für die Erstellung von Modellen der typischen und atypischen Entwicklung der Rechenleistungen dar, daher sollen sie in diesem Kapitel detailliert erläutert werden.

1.2 Erste Fallberichte von Patienten mit erworbenen Rechenstörungen

entwicklungsbedingt vs. erworben

Probleme mit der Zahlenverarbeitung und / oder dem Rechnen treten nicht nur bei Kindern in Form von entwicklungsbedingten Rechenstörungen (bzw. Dyskalkulie) auf. Auch Erwachsene mit vormals guten arithmetischen Fertigkeiten können im Zuge einer neurologischen Erkrankung (also einer erworbenen Hirnschädigung infolge eines Hirntumors, Schlaganfalls oder Schädel-Hirn-Traumas) spezifische Defizite beim Rechnen „erwerben“ (für eine Übersicht siehe z. B. Cipolotti und van Harskamp 2001; Dehaene 1999). Im Gegensatz zu den entwicklungsbedingten Rechenstörungen spricht man in diesem Zusammenhang von sogenannten erworbenen Rechenstörungen.

Akalkulie

Die ersten detaillierten und systematischen Fallberichte von Patienten mit erworbenen Rechenstörungen wurden 1919 von Henschen veröffentlicht, der auch den Begriff „Akalkulie“ einführte. Henschen konnte zeigen, dass Akalkulie sehr unterschiedliche Erscheinungsformen haben kann. Sie kann sowohl isoliert auftreten (also als einziges Symptom nach einer Hirnschädigung) als auch mit anderen Störungen wie Aphasie (erworbene Sprachstörung), Alexie (erworbene Lesestörung) oder Agraphie (erworbene Schreibstörung) einhergehen. Besonders hervorzuheben ist, dass die Arbeit von Henschen auch der erste Bericht einer spezifischen Beeinträchtigung des Erkennens und Lesens arabischer Zahlen ist, die unabhängig vom Ausführen von Rechenoperationen auftreten kann.

primär vs. sekundär

Bereits vor Henschens einflussreicher Publikation wurde in der neurologischen Fachliteratur darauf hingewiesen, dass strukturelle Hirnschädigungen Rechenstörungen bedingen können (z. B. Lewandowsky / Stadelmann 1908; Peritz 1918; Sittig 1917). Diese frühen Berichte waren jedoch meist auf die Beschreibung von Patienten mit Sprachstörungen (Aphasie) beschränkt, die zusätzlich auch Probleme beim Lesen und / oder Schreiben arabischer Zahlen oder beim Rechnen zeigten. Diese Form der erworbenen Rechenstörung, die mit anderen funktionellen Störungen wie Aphasie assoziiert ist, wurde von Berger (1926) als „sekundäre“ Akalkulie bezeichnet und folgegemäß von der „primären“ Akalkulie differenziert, die sich isoliert – also unabhängig von anderen kognitiven Defiziten – manifestiert. Berger war es auch, der erstmals berichtete, dass die Rechenfehler von Patienten mit erworbenen Hirnschädigungen nicht alle Rechenoperationen gleichermaßen betreffen müssen, sondern dass spezifische Rechenoperationen selektiv gestört sein können: So kann beispielsweise Multiplikationswissen besser erhalten sein als Subtraktionswissen. Vor allem Schädigungen der linken hinteren (posterioren) Hirnabschnitte, die häufig in Sprachstörungen resultieren, wurden auch als Ursache für Rechenstörungen erkannt.


Gerstmann-Syndrom

Gerstmann (1927; 1940) beschrieb erstmals einen Patienten, der nach einer Läsion in der Nähe des Gyrus angularis (lokalisiert im Scheitel- oder Parietallappen, der Teil hinterer Hirnabschnitte ist) eine Rechenstörung zeigte: Sie trat in Assoziation mit Fingeragnosie (defizitäres Erkennen der Finger), Agraphie (Schreibstörung) sowie Rechts-links-Desorientierung auf. Die Kombination dieser vier Symptome (Akalkulie, Fingeragnosie, Agraphie und Rechts-links-Störung) wurde nach deren Erstbeschreiber als Gerstmann-Syndrom benannt.

Eine moderne Einzelfallanalyse der Rechenleistungen eines Patienten mit Gerstmann-Syndrom findet sich z. B. bei Delazer und Benke (1997; s. Abschnitt 1.3).

konstruktive Akalkulie

In der unmittelbaren Folgezeit auf Gerstmanns Publikationen wurde allgemein die Ansicht vertreten, dass Rechenstörungen lediglich ein sekundäres Symptom von grundlegenderen visuell-räumlichen Defiziten seien (z. B. Krapf 1937; Singer / Low 1933). So prägte Krapf (1937) den Begriff der „konstruktiven Akalkulie“ für jene Art der Rechenstörung, bei der Patienten Schwierigkeiten beim Schreiben von Zahlenkolonnen bzw. deren räumlicher Anordnung aufwiesen.

Häufig wird angezweifelt, ob es sich beim Gerstmann-Syndrom um ein einheitliches Störungsbild handelt, weil viele Patienten nur eines, zwei oder drei der vier charakteristischen Symptome zeigen (Benton 1977). Nichtsdestotrotz ist das Interesse der aktuellen Forschung zur numerischen Kognition am Gerstmann-Syndrom wieder neu erwacht, vor allem im Hinblick auf einen potenziellen Zusammenhang zwischen räumlicher und numerischer Kognition (Schlagwort „Zahlenraum“). Erst kürzlich wurde ein Sonderheft einer renommierten neurowissenschaftlichen Fachzeitschrift diesem Thema gewidmet (Sonderheft von Cortex [2008]: „Number, Space, and Action“, herausgegeben von Martin Fischer und Guilherme Wood).

 

modalitätsspezifische Beeinträchtigungen

Von Interesse ist, dass auch das Wissen um die Bedeutung der Operationszeichen gestört sein kann: So beschrieben Ferro und Botelho bereits 1980 zwei neurologische Patienten (AL und MA), deren Rechenfehler bei einfachen Multiplikationen auf Operationsfehler zurückzuführen waren (z. B. 3 x 5 = 8 bzw. 9 x 3 = 6). Bei einem der beiden Patienten (MA) traten diese Fehler interessanterweise nur in der schriftlichen Modalität auf (also beim Bearbeiten arabischer Zahlen), nicht jedoch beim verbalen Lösen derselben Aufgaben (also beim Bearbeiten gehörter / gesprochener Rechenaufgaben). Diese Diskrepanz zeigt, dass rechnerische Fertigkeiten modalitätsspezifisch beeinträchtigt sein können: So kann die Verarbeitung arabischer Zahlen gestört, die Verarbeitung von Zahlwörtern aber erhalten sein.

1.3 Akalkulie aus der Sicht der klinischen Neuropsychologie und der kognitiven (Neuro-)Psychologie

Der Hauptverdienst der ersten neurologischen Fallberichte ist sicher darin zu sehen, dass Rechenstörungen erstmals als Folgeerscheinung von Hirnläsionen beschrieben wurden (z. B. Lewandowsky / Stadelmann 1908). Der Großteil der damaligen neuro(psycho)logischen Fachwelt war allerdings lange Zeit der Meinung, dass Akalkulie als ein Begleitsymptom von anderen Störungen anzusehen sei. So publizierten Hecaen und Mitarbeiter mehrere Arbeiten, in denen sie einen Klassifikationsversuch von Akalkulie in folgende drei Subtypen vornahmen: (a) Akalkulie infolge von Lese- und / oder Schreibstörungen (von Zahlen); (b) Akalkulie infolge von räumlichen Defiziten beim schriftlichen Rechnen; und (c) die sogenannte Anarithmetie, welche Defizite beim Ausführen arithmetischer Operationen reflektiert (Hecaen / Angelerques 1961; s. a. Luria 1973).

Dissoziation

Bereits in den frühen Falldarstellungen zeigt sich, dass Rechenstörungen von anderen kognitiven Störungen dissoziieren können, d. h. sie treten manchmal trotz intakter kognitiver Leistungen auf. Auch zwischen Teilkomponenten der numerischen und arithmetischen Fertigkeiten zeigen sich bei einzelnen Patienten Dissoziationen, die uns wesentliche Aufschlüsse über unser kognitives System geben.


Dissoziation und doppelte Dissoziation

Wenn eine Leistung A intakt ist, aber eine Leistung B defizitär, dann spricht man von einer Dissoziation. Eine doppelte Dissoziation liegt dann vor, wenn bei einem Patienten eine Leistung A erhalten, eine Leistung B jedoch defizitär ist und bei einem anderen Patienten das umgekehrte Leistungsprofil vorliegt (Leistung B ist intakt, aber Leistung A ist defizitär). Das Vorhandensein von doppelten Dissoziationen wird in der kognitiven Psychologie als Evidenz für die modulare Architektur kognitiver Systeme betrachtet (Shallice 1988). Man nimmt also an, dass die Leistungen A und B voneinander unabhängig sind, sowohl hinsichtlich ihrer funktionellen Aufgaben als auch hinsichtlich ihrer strukturellen (neuronalen) Korrelate.


Dissoziation zwischen Rechenfertigkeiten und intellektuellem Leistungsniveau: Eine Schlüsselarbeit für die aktuelle numerische Kognitionsliteratur war die von Grafman und Mitarbeitern (1982) publizierte Gruppenstudie neurologischer Patienten. Die Autoren untersuchten – erstmals mit einem standardisierten Rechentest – 76 Patienten mit Hirnläsionen (41 mit links- und 35 mit rechtsseitigen Strukturschäden) sowie 26 Kontrollpersonen. Die Befunde von Grafman und Kollegen sind hinsichtlich zweier Aspekte besonders erwähnenswert:

(a) Das Vorliegen bzw. der Schweregrad der Rechenstörung war unabhängig vom allgemeinen intellektuellen Leistungsniveau (s. a. Lewandowsky / Stadelmann 1908; Warrington 1982); und

(b) Patienten mit linksseitiger Hirnstrukturschädigung hatten relativ zu jenen mit rechtshemisphärischen Läsionen und Kontrollpersonen die gravierendsten Rechenprobleme (s. a. Jackson / Warrington 1986).

Savant Syndrom

Im Hinblick auf die intellektuelle Leistungsfähigkeit liegt eine doppelte Dissoziation vor, da auch die andere Seite der Dissoziation beschrieben wurde: nämlich Personen mit sogenanntem „Savant Syndrom“, die über sehr gute Rechenleistungen trotz niedrigem Intelligenzniveau verfügen (z. B. Kelly et al. 1997).

Dissoziation zwischen Rechenfertigkeiten und Sprachleistung: Großen Einfluss auf die moderne Zahlen- und Rechenforschung hatten auch die Arbeiten von Elizabeth Warrington. Warrington konnte bereits 1982 anhand detaillierter Einzelfallanalysen zeigen, dass verschiedene Komponenten des Rechnens modular organisiert sind.

Im Jahre 1995 beschrieben Warrington und Mitarbeiter einen Patienten, der trotz globaler Aphasie gute Leistungen hinsichtlich der Zahlenverarbeitung und des Rechnens zeigte (Rossor et al. 1995). Dieses Fallbeispiel demonstriert eindrücklich, dass gute Rechenleistungen nicht unbedingt intakte sprachliche Fähigkeiten voraussetzen (s. a. Hodges et al. 1992; Lewandowsky / Stadelmann 1908).

Dissoziation zwischen numerischem und nichtnumerischem Gedächtnis: Cappelletti und Mitarbeiter (2001) publizierten einen detaillierten Fallbericht eines Patienten (IH) mit semantischer Demenz: Das ist eine progrediente hirnorganische Erkrankung, die im Anfangsstadium meist durch beeinträchtigte Gedächtnisleistungen und Sprachstörungen charakterisiert ist. Dieser Patient zeigte erstaunlich gut erhaltene numerisch-rechnerische Fertigkeiten, jedoch gravierende Defizite bei nichtnumerischen Gedächtnisinhalten. IH verfügte über sehr gutes Additions- und Subtraktionswissen beim Rechnen mit ein- und zweistelligen Zahlen (seine Bearbeitungsgenauigkeit von Multiplikations- und Divisionsrechnungen war etwas niedriger, jedoch weit über dem Rateniveau) und zeigte exzellente Leistungen beim Platzieren von Zahlen auf einem Zahlenstrahl. Offenbar führen Gedächtnisdefizite nicht zwangsläufig zu Beeinträchtigungen der Rechenleistungen.

Dissoziation zwischen Zahlenverständnis und Zahlenproduktion sowie zwischen dem Lesen von arabischen Zahlen und Zahlwörtern: Benson und Denckla (1969) stellten zwei Patienten mit Gerstmann-Syndrom vor, die auch eine Aphasie hatten. Beide Patienten konnten einstellige Additionsaufgaben wie „4 + 5“ nicht korrekt verbal beantworten. Dennoch konnte ein Patient die richtige Lösung niederschreiben und der andere die richtige Antwort unter mehreren möglichen auswählen. Diese Arbeit war ein Eckpfeiler für die moderne Kognitionspsychologie, weil sie erstmals anhand von Dissoziationen aufzeigte, dass Zahlenverständnis- und Zahlenproduktionssysteme funktionell voneinander unabhängig sein können.

Cipolotti und Kollegen (1995; Cipolotti 1995) zeigten, dass Patienten sehr spezifische Schwierigkeiten beim Lesen arabischer Zahlen haben können. Die von Cipolotti beschriebenen Patienten hatten Schwierigkeiten beim Lesen arabischer Zahlen, nicht jedoch beim Lesen von Zahlwörtern. Die umgekehrte Dissoziation wurde ebenfalls beschrieben, so dass von einer doppelten Dissoziation zwischen den Lesemechanismen für arabische Zahlen und jenen für Zahlwörter gesprochen werden kann (s. Abschnitt 1.5.1 „Struktur des Zahlensystems“).

Dissoziation zwischen verschiedenen Rechenoperationen: Benson und Weir (1972) beschrieben – erstmals nach Berger (1926) – einen Patienten, dessen Rechenschwierigkeiten auf bestimmte Operationsarten beschränkt waren: Während Additionen und Subtraktionen intakt waren, bereiteten ihm Multiplikationen und Divisionen auffällige Schwierigkeiten. Es gibt inzwischen zahlreiche Fallberichte von Patienten mit operationsspezifischen Defiziten beim Lösen einfacher Rechnungen. Selektive Probleme beim Lösen einfacher Additionen zeigte beispielsweise Patient FS (van Harskamp / Cipolotti 2001), während Patient SS eine selektive Beeinträchtigung beim Lösen simpler Subtraktionsaufgaben zeigte.

Da auch ein Fallbericht von einem Patienten (BB) mit erhaltenem Subtraktionswissen bei defizitärem Additions- und Multiplikationswissen existiert (Pesenti et al. 1994), liegt in Bezug auf das Subtrahieren eine doppelte Dissoziation vor: Es kann sowohl selektiv erhalten als auch selektiv gestört sein. Letzteres gilt auch für das Multiplikationswissen (selektiv erhalten: Patient JG [Delazer / Benke 1997], selektiv beeinträchtigt: Patient VP [van Harskamp / Cipolotti 2001]). Diese doppelten Dissoziationen stützen die Annahme, dass das arithmetische Wissen je nach Operationsart modular organisiert ist. In anderen Worten: Die Verarbeitungsprozesse und -mechanismen für jede Operationsart scheinen unabhängig voneinander zu funktionieren.

Dissoziation zwischen arithmetischem Faktenwissen und prozeduralem Wissen: Eine grobe Differenzierung von Rechenfertigkeiten ist jene in das arithmetische Faktenwissen und das Wissen um arithmetische Prozeduren (s. a. Abschnitt 1.5.2).


Als Faktenwissen bezeichnet man einfache Rechnungen, deren Ergebnis man direkt aus dem Gedächtnis abrufen kann, ohne es „ausrechnen“ zu müssen (z. B. Einmaleins). Prozedurales Wissen umfasst alle Rechenprozeduren, die wir benutzen, um zu einem Ergebnis zu kommen. So muss man z. B. beim Lösen mehrstelliger schriftlicher Additionen wissen, wie man die Zahlen untereinander schreibt, ob man bei den Einern oder Zehnern / Hundertern mit dem Additionsprozess beginnt, wie man Überträge behandelt, wie man mit Nullen umzugehen hat etc. Die Unterscheidung zwischen Faktenwissen und prozeduralem Wissen wurde anhand von Einzelfallstudien wiederholt empirisch validiert (z. B. Delazer / Benke 1997; Hittmair-Delazer et al. 1994; 1995; McCloskey et al. 1985; Warrington 1982).

Eine der frühesten detaillierten Beschreibungen einer Dissoziation zwischen arithmetischem Fakten- und Prozedurenwissen war eine Einzelfallstudie von einem hirngeschädigten Patienten (DRC), der Probleme beim direkten Faktenabruf hatte, dieselben einstelligen Rechnungen jedoch mit Hilfe sogenannter Backup-Strategien (in diesem Falle zeitaufwändige Zählprozeduren) lösen konnte (Warrington 1982).

 

Einzelfallstudien zur Unterscheidung zwischen Faktenwissen und prozeduralem Wissen

Mehr als ein Jahrzehnt später wurde Warringtons Bericht einer Dissoziation zwischen arithmetischem Faktenwissen und prozeduralem Wissen von Margarete Delazer und Kollegen repliziert und sogar um die umgekehrte Dissoziation erweitert (Hittmair-Delazer et al. 1994; Delazer / Benke 1997). Patient BE war ein 45-jähriger Buchhalter, der nach einem Hirninfarkt linker subkortikaler Hirnstrukturen (Basalganglien) zusätzlich zu einer rechtsseitigen Lähmung und einer Sprachstörung auch spezifische Probleme beim Abruf von Multiplikationsfakten zeigte (einfache Additionen und Subtraktionen bereiteten ihm vergleichsweise weniger Schwierigkeiten; Hittmair-Delazer et al. 1994). Erstaunlich war, dass dieser – von Berufs wegen in Arithmetik sehr geübte – Mann seine Faktenabrufdefizite durch teils sehr komplexe prozedurale Lösungsstrategien spontan kompensierte. So konnte er zwar die Lösung von „5 x 8“ nicht direkt aus dem Langzeitgedächtnis abrufen, konnte das korrekte Resultat (40) jedoch über Umwege lösen (z. B. [8 x 10] : 2 bzw. [5 x 10] – [2 x 5]).

Ein konträres Leistungsprofil zeigte JG, eine 56-jährige Patientin, die nach einem hirnchirurgischen Eingriff zur Entfernung eines Tumors in linken parietalen Hirnarealen ein Gerstmann-Syndrom entwickelte (Delazer / Benke 1997). JG zeigte relativ gut erhaltenes Multiplikationsfaktenwissen, aber defizitäres Additions- und Subtraktionswissen. Im Gegensatz zu BE konnte JG ihr Abrufdefizit nicht durch prozedurales arithmetisches Wissen kompensieren.

Zusammenfassung

Empirische Evidenz an Erwachsenen stützt die Annahme einer modularen Architektur von Rechenleistungen. Dissoziationen zwischen Rechenleistungen und nichtnumerischen Fähigkeiten einerseits sowie Dissoziationen zwischen verschiedenen Komponenten der Zahlenverarbeitung und des Rechnens andererseits zeigen, dass (a) Zahlenverarbeitung und Rechnen unabhängig von der allgemeinen intellektuellen Leistungsfähigkeit und von nichtnumerischen Fähigkeiten wie Sprache und Gedächtnis sind; und (b) dass verschiedene Teilbereiche des Rechnens nach erworbenen Hirnschädigungen selektiv beeinträchtigt sein können (z. B. operationsspezifische Defizite).

1.4 Neurokognitive Modelle der numerischen Kognition bei Erwachsenen

Einer Vielzahl von systematischen und sehr differenzierten Einzelfall- und Gruppenstudien von gesunden Probanden und von neurologischen Patienten mit Hirnverletzungen ist es zu verdanken, dass unser aktuelles Verständnis der kognitiven Prozesse und Mechanismen, die einer intakten Zahlenverarbeitung und guten Rechenfertigkeiten zugrunde liegen, bereits recht umfassend ist. Dass es trotz des akkumulierten Wissens immer noch beträchtliche Wissenslücken und Kontroversen gibt, spiegelt sich in den im Folgenden dargestellten Rechenmodellen wider.

Modell von McCloskey und Kollegen: Das erste auf neuropsychologischen Theorien und Patientenbefunden basierende Rechenmodell, das der Differenzierung unterschiedlicher Teilkomponenten der Zahlenverarbeitung und der arithmetischen Leistungen Rechnung trägt, stammt von McCloskey und Mitarbeitern (1985; s. Abb. 1.1).

Input- und Output-system

Das Modell unterscheidet zwischen einem Inputsystem (Zahlenverständnis) und einem Outputsystem (Zahlenproduktion). Innerhalb beider Systeme findet sich jeweils eine Komponente für Verständnis / Produktion von Zahlwörtern und eine weitere Komponente für Verständnis / Produktion arabischer Zahlen. Jede dieser Repräsentationsformen von Zahlen steht mit der zentralen abstrakten semantischen Repräsentationskomponente in Verbindung. McCloskey und Kollegen (1985; McCloskey 1992) nehmen an, dass jede Zahl – in welcher Form auch immer sie präsentiert wird – eine internale abstrakte Größenrepräsentation generiert, welche ihrerseits wiederum das Outputsystem (also die Produktion) von Zahlen und Zahlwörtern aktiviert. Folglich evoziert jede Zahlenverarbeitung (Lesen / Schreiben gesprochener / geschriebener Zahlen) automatisch auch das Wissen um die numerische Größe dieser Zahl.


Abb. 1.1: Das Rechenmodell von McCloskey et al. (1985)

Rechensystem

Zusätzlich zu diesen Komponenten der Zahlenverarbeitung enthält das Modell von McCloskey ein Rechensystem, das sich wiederum in eine Reihe von Teilkomponenten zerlegen lässt. Zum einen müssen für kompetentes Rechnen die speziellen Symbole (also etwa die Rechenoperationszeichen +, –, x und :) bekannt sein. Eine weitere wichtige Unterscheidung innerhalb der Rechenfertigkeiten ist die zwischen arithmetischen Prozeduren und arithmetischem Faktenwissen. Unter prozeduralem Wissen versteht man das Wissen um Lösungsalgorithmen. Unter arithmetischem Faktenwissen versteht man einfache Rechnungen mit einstelligen Operanden, die von geübten Rechnern meist direkt aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen werden können.

3 Zahlenmodule / -codes

Triple-Code-Modell: Das Triple-Code-Modell von Dehaene (1992; Dehaene / Cohen 1995) enthält – ebenso wie das Modell von Mc-Closkey und Autoren – unterschiedliche Komponenten für unterschiedliche Repräsentationsformen von Zahlen und Mengen, die hier als unterschiedliche „Codes“ bezeichnet werden (s. Abb. 1.2). Die visuell-arabische Zahlenform ist für die Verarbeitung von arabischen Zahlen zuständig, die verbal-(phonologische) Zahlenform verarbeitet dagegen gesprochene und geschriebene Zahlwörter. Die dritte Komponente der analogen Größenrepräsentation ist bei all jenen Zahlenverarbeitungs- und Rechenprozessen involviert, die auf die Numerosität von Mengen oder Zahlen zugreifen. Anders ausgedrückt repräsentiert diese Komponente die eigentliche Zahlensemantik, also das Wissen um die numerische Größe bzw. Mächtigkeit einer Menge oder Zahl. Beim kompetenten Erwachsenen interagieren diese drei Codes, wann immer Zahlenverarbeitung stattfindet. Jede dieser Komponenten kann aber laut Dehaene auch spezifisch beeinträchtigt sein, so dass bei Beeinträchtigung der analogen Größenrepräsentation Zahlenlesen (Übersetzung einer arabischen Zahl in ein Zahlwort) oder Zahlenschreiben (Übersetzung eines Zahlworts in eine arabische Zahl) noch möglich sein sollte, ohne dass die Bedeutung der Zahlen bzw. deren Numerosität erfasst werden könnte.


Abb. 1.2: Das Triple-Code-Modell von Dehaene (1992)

Unterschiede zum McCloskey-Modell

Mit der Annahme der funktionellen Unabhängigkeit der drei Zahlenformate unterscheidet sich Dehaenes Triple-Code-Modell vom Rechenmodell von McCloskey und Autoren, das besagt, dass jede Zahlenverarbeitung zu einer automatischen Aktivierung der internalen semantischen Größenrepräsentation führt. Ein weiterer Unterschied zwischen den zwei Modellen ist deren Implikation für die Organisation bzw. die Verarbeitung von Rechenoperationen. So gibt es im Gegensatz zum Mc-Closkey-Modell beim Triple-Code-Modell keine separate Komponente für Rechenleistungen. Vielmehr werden Leistungen der Zahlenverarbeitung und des Rechnens der Komponente zugeordnet, auf deren Repräsentationsform sie basieren. So erfordert schriftliches Rechnen mit mehrstelligen Zahlen den kompetenten Umgang mit arabischen Zahlen und ist somit der visuell-arabischen Zahlenform zugeordnet. Zählen sowie arithmetisches Faktenwissen (Addition und Multiplikation) sieht Dehaene als vorwiegend verbale Leistungen und ordnet sie daher der verbal-phonologischen Zahlenform zu. Die analoge Größenrepräsentation ist die Grundlage von approximativen Rechenprozessen wie Schätzen, Größenvergleich oder dem Subitizing (ein spezieller Zählmechanismus im kleinen Zahlenraum, s. Abschnitt 2.3.1)

Im nächsten Abschnitt werden die wichtigsten Erkenntnisse zur numerischen Kognition dargestellt, auf denen diese beiden Modelle basieren.

1.5 Zentrale Komponenten der arithmetischen Verarbeitung

Im Gegensatz zu den frühen neurologischen und klinisch-neuropsychologischen Arbeiten, die meist unsystematische und eher anekdotische Fallbeispiele berichten, beruhen die Erkenntnisse der modernen Kognitionspsychologie auf sehr detaillierten und systematischen Untersuchungen von Denkprozessen und kognitiven Fähigkeiten (Shallice 1988).


An einem einfachen Beispiel sei dies illustriert: Wenn man ein 6-jähriges Kind und einen Erwachsenen bittet, die Aufgabe „4 + 2“ zu lösen, so werden beide Personen diese Rechenaufgabe richtig lösen. Erst die exakte Erhebung der Bearbeitungszeit zeigt, dass das 6-jährige Kind viel länger braucht, um das Ergebnis zu produzieren als der Erwachsene. Daraus lässt sich schließen, dass das Kind beim Lösen dieser einfachen Rechenaufgabe komplexe, mehrstufige Lösungsprozesse in Anspruch nehmen muss (z. B. Rechnen mit Hilfe der Finger). Die meisten Erwachsenen müssen für das Lösen derselben Rechenaufgabe nicht auf rechnerische Denkprozesse zurückgreifen, sondern können die Aufgabenlösung (6) spontan nennen.

multikomponentielle Verarbeitung

Eine zentrale Erkenntnis dieser Forschungsrichtung ist, dass die arithmetische Verarbeitung multikomponentiell ist, sich also aus zahlreichen Teilkomponenten zusammensetzt. Zu unterscheiden sind die Komponenten der Zahlenverarbeitung im engeren Sinn (Lesen / Schreiben arabischer Zahlen, Vergleichen arabischer Zahlen etc.) einerseits und der Rechenfertigkeiten (Kopfrechnen, schriftliches Rechnen etc.) andererseits. Diese beiden Komponenten lassen sich in jeweils weitere Subkomponenten zerlegen, die im Folgenden im Detail dargestellt werden.

1.5.1 Basisnumerische Verarbeitung


Der Begriff basisnumerische Verarbeitung bezeichnet basale und für den Erwerb arithmetischer Kompetenzen grundlegende numerische Fertigkeiten.

Auf den ersten Blick scheint Zahlenverarbeitung sehr simpel zu sein. Schließlich führen kompetente Erwachsene entsprechende Prozesse x-mal am Tag automatisiert aus, ohne sich darüber weitere Gedanken zu machen. Die im Folgenden dargestellten detaillierten kognitionspsychologischen Analysen machen allerdings deutlich, dass es sich um einen komplexen Prozess handelt, der das effiziente Zusammenspiel einer Mehrzahl von Teilkomponenten erfordert.

Struktur des Zahlensystems

dekadisches Positionssystem

Eine Besonderheit des Zahlensystems ist, dass es auf einem Basis-10-System beruht. Der Aufbau dieses sogenannten dekadischen Positionssystems ist durch eine eindrückliche Regelhaftigkeit charakterisiert. Hervorzuheben ist jedoch, dass das verbale (gesprochene) und das arabische (geschriebene) Zahlensystem in ihrer Grundstruktur nicht identisch sind. Im arabischen Zahlencode ist die Komposition mehrstelliger Zahlen ab der Zahl 11 regelmäßig. In anderen Worten: Bei jeder Folgezahl erhöht sich die Einerstelle um eins (n + 1) und sobald wieder ein voller Zehner erreicht ist, beginnt dieser Prozess (n + 1) von neuem (z. B. 11, 12, 13 etc.; 21, 22, 23 etc. bis 91, 92, 93 etc.). Demgegenüber stellen beim Zahlwortsystem die Zahlwörter von 11 bis 19 eine besondere Wortklasse dar, weil sie nicht dieser regelhaften Komposition entsprechen (z. B. heißt es im Deutschen „elf“ und nicht „eins-zehn“ bzw. „ein-und-zehn“).