Mafiatochter - Aufgewachsen unter Gangstern

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Ich war neun Jahre alt, als ich meinen Vater zu verdächtigen begann, ein Gangster zu sein. Es war Sonntag, und Papa hatte uns alle ins Auto gepackt, um einen Nachmittag lang auf Hausbesichtigungstour zu gehen. Er liebte es, durch verschiedene Viertel zu fahren, uns Häuser zu zeigen, die ihm gefielen, und über seine Renovierungsideen zu reden. An jenem Sonntag fuhren wir in Todt Hill herum, einer wohlhabenden Gemeinde am südlichen Ende von Staten Island, in der Ärzte, Rechtsanwälte und »Geschäftsleute« ihre Häuser hatten.

Mama saß mit Papa und meinem kleinen Bruder Gerard auf der Vorderbank, mich hatte man hinten angeschnallt. Mein Vater hatte gerade die Renovierungsarbeiten an einem Dreizimmer-Haus fertig gestellt, das er für uns gekauft hatte. Es lag in Bulls Head, einer vornehmlich von Arbeitern bewohnten Gegend auf der anderen Seite der Verrazano-Narrows Brücke und nicht weit von der Wohnung, in der wir in Bensonhurst, Brooklyn, zur Miete gewohnt hatten.

Mein Vater war besessen vom Bauen und Umbauen. Jede Bleibe, in der wir je lebten, nahm er auseinander und gestaltete sie neu. Wir hatten kaum das Eigentum an unserem neuen Haus erworben, da machte er sich schon an eine Runderneuerung, riss Wände ein und verbesserte die künftige Wohnqualität, etwa durch hübsche Fliesen aus Europa.

Mein Bruder und ich besuchten die örtliche staatliche Schule, die PS 60. Meine Mutter begleitete mich jeden Tag dorthin. Ich hatte einige gute Freunde dort, aber Papas Freund Louie Milito meinte immer, er solle mich an der privaten Grundschule »auf dem Hügel« unterbringen. Seine eigene Tochter Dina besuchte sie, ebenso wie Dori LaForte. Doris Großvater war ein wichtiges Mitglied der Familie Gambino. Auf dem »Hügel« säumten hübsch herausgeputzte Häuschen die steilen Straßen. Die Gegend lag etwa zehn Minuten von unserem Dreizimmerhaus am Leggett Place entfernt. Wer etwas auf sich hielt, wohnte auf dem »Hügel«.

Ein Haus in dieser feineren Gegend gehörte Paul Castellano, einem Gangsterboss der Familie Gambino. Auf einer unserer sonntäglichen Expeditionen zeigte Papa es uns. Es war ein gewaltiges Monster von einem Haus, das in dem Viertel seinesgleichen suchte. Es war viel prächtiger und aufwändiger verziert. Mit seinem schmiedeeisernen Tor, unglaublich akkurat geschnittenen Rasenflächen und einem gigantischen Springbrunnen inmitten der breiten, kreisrunden Einfahrt voller teurer Autos ähnelte es mehr einer italienischen Villa oder einem Museum.

Es musste ein Vermögen gekostet haben. Das Anwesen, das einen ganzen Block einzunehmen schien, wurde durch ein ausgeklügeltes Sicherheitssystem mit Überwachungskameras abgeschirmt.

»Wow«, sagte ich. »Was macht denn Paul beruflich, dass er so ein großes Haus hat?«

»Er ist im Baugewerbe«, erwiderte mein Vater.

Ich erinnere mich, wie froh ich darüber war, dass mein Vater in derselben Branche tätig war wie Paul, weil wir dann eines Tages eine ähnliche Villa beziehen könnten. Papa sagte nichts davon, dass Paul sein Boss in einer der größten, blutrünstigsten und am meisten gefürchteten Familien New Yorks war – auch nicht, dass im »Baugewerbe« niemandem ein kleines Häuschen gebaut wurde, sondern dass damit organisiertes Verbrechen, Gaunerei und Erpressung gemeint waren. Er erwähnte nicht, dass ein Geschäftsmann wie Paul mit dem Leben anderer Menschen spielte. Es sollte noch eine Weile dauern, bis ich diesen Aspekt des Geschäfts kennen lernte.

Im Herbst desselben Jahres verkündete mein Vater, dass für mich ein Schulwechsel anstehe. Er wolle, dass ich eine bessere Bildung erhalte, daher habe er mich an der prestigeträchtigen Staten Island Academy angemeldet. Ich war wütend, weil ich mich von meinen Freunden trennen musste, und hatte Angst, dass mich die Kinder an der Privatschule vielleicht nicht akzeptieren würden. Ich war gerade ein paar Wochen dort, da lud mich eine Klassenkameradin zum Spielen zu sich nach Hause ein. Sie lebte so nah bei der Schule, dass wir von ihrem Hof aus den Spielplatz sehen konnten. Es war ein schöner Tag, und wir waren draußen auf dem Rasen vor dem Haus. Ihre Mutter war gerade hineingegangen, um uns Limonade zu machen, als meine neue Freundin etwas sehr Verblüffendes kundtat.

»Meine Mutter und mein Vater sagen, dass in dem Haus dort ein großer Gangster wohnt«, sagte sie und zeigte über die Straße auf das Castellano-Anwesen.

Ich wusste, dass Paul Papas Freund war. Ich zählte zwei und zwei zusammen. Wenn Paul Castellano ein Gangster war, dann war mein Vater auch einer. Er benahm sich nur nicht wie ein Gangster. Meine Vorstellung eines Gangsters war Vito Corleone, der fiktive Mafiaboss aus Der Pate. Der Film war sogar ein paar Blocks von meiner Schule entfernt gedreht worden.

An jenem Nachmittag wurde ich allerdings nicht zum ersten Mal mit der Möglichkeit konfrontiert, dass mein Vater »Verbindungen« haben könnte. Als ich sechs war, fand ich im Schlafzimmer meiner Eltern in unserer Wohnung an der 61. Straße in Bensonhurst eine Pistole. Mama war gerade in der Küche und ich amüsierte mich damit, einige meiner Lieblingsbücher unter ihrem Bett zu verstecken. Dabei entdeckte ich die Pistole, die Papa unter die Matratze gesteckt hatte. Ich wusste, dass Papa während des Vietnamkriegs in der Armee gedient hatte, weil ich seine Hundemarken gesehen hatte. Ich fragte mich also, ob dies ein Souvenir aus dem Krieg war. Ich rannte in die Küche und fragte meine Mutter, was es mit dieser erstaunlichen Entdeckung auf sich habe.

»Mami, hat Papa eine Pistole, weil er in der Armee war?«

»Ja«, war alles, was ihr darauf einfiel.

Am nächsten Tag gab ich vor meinen Schulfreunden an und erzählte ihnen, mein Vater habe eine Pistole unter dem Bett, weil er in der Armee gewesen sei. Meine Lehrerin hörte das zufällig und ging direkt zu meiner Mutter. Als Papa davon erfuhr, war er nicht böse. Er befahl mir lediglich, nie wieder mit jemandem darüber zu sprechen.

Mein Vater hatte diese gewisse »Coolness« an sich. Er war schicker als die Väter der anderen Kinder. Er trug Sweatshirts und Goldketten und hatte Tätowierungen: Jesus auf dem einen Arm und eine Rose auf dem anderen. Dazu trug er mitten auf der Brust noch einen kleinen Diamanten. Er besaß Nachtclubs und blieb immer sehr lange aus. Einige seiner Freunde waren Türsteher. Sie sprachen anders als die Väter der anderen Kinder an der Schule und kleideten sich auch anders. Sie hatten Geldbündel in ihren Taschen und brachten immer Geschenke mit – und wenn es auch nur eine Schachtel Gebäck am Sonntag war.

An den Wochenenden nahm mich mein Vater manchmal mit in »den Club« in Bensonhurst. Damals wusste ich es noch nicht, aber es war ein örtlicher Mafiatreff, auch bekannt als »Geselligkeitsverein« für Männer. Bevor wir dort vorbeischauten, ließ Papa zuerst das Auto waschen. Die Männer im Club spielten Karten und tranken Kaffee. Es sah aus wie in einer großen Küche. Im Raum verteilt standen Tische und Stühle, und an den Wänden hingen ein paar Bilder, meist Ansichten aus Italien. Frauen traf man dort niemals an. Ein älterer Herr namens »Toddo« saß meistens an einem der hinteren Tische. Er war stets adrett gekleidet, trug Tuchhosen, eine Strickjacke, eine große, auffällige Uhr und einen Ring am kleinen Finger.

»He Bo, was geht?«, sagte mein Vater immer. So sprach er alle an, sogar mich. Ich wusste nicht, warum er die Leute mit »Bo« ansprach und nicht mit »Bro« wie »Brother«.

»Geh und sag hallo zu Onkel Toddo«, wies er mich an und schob mich in Richtung des alten Mannes.

Ich musste zu ihm gehen, ihn umarmen und küssen. »Wie geht’s dir, Kindchen?«, fragte er dann. Der alte Mann tätschelte mir den Kopf und steckte mir einen Zwanzig-Dollar-Schein in die Tasche.

Ich fand es etwas seltsam, dass die Männer sich erst auf eine Wange küssten und dann einen festen Händedruck austauschten. Niemand betrat einfach den Raum und sagte hallo; es wurden stets die Hände geschüttelt, und es schien eine feste Ordnung zu geben, wessen Hand man als erste zu schütteln hatte. Freilich wusste ich nicht, dass Toddo eigentlich Salvatore »Toddo« Aurello war, ein Capo in der Familie Gambino und der Boss und Mentor meines Vaters bei der Mafia. Ich dachte einfach, mein Vater respektiere ihn deshalb, weil er älter war. Erst als ich zwölf Jahre alt war, wusste ich mit Sicherheit, dass mein Vater ein Gangster war. Selbst da stellte ich aber lieber keine Fragen.

Als ich in der Mittelschule war, hörte ich einmal, wie meine Eltern über einen Typen sprachen, der einen der Nachtclubs meines Vaters kaufen wollte. Es war am späten Sonntagnachmittag und wir waren zum Abendessen bei meiner Tante Fran. Sie war eine von Papas älteren Schwestern. Fran und ihr Ehemann Eddie lebten in einem Zweifamilienhaus auf der anderen Straßenseite. Auch Papas Mutter wohnte dort, in einem Apartment im Souterrain.

Tante Fran stand meinem Vater näher als seine Schwester Jean. Papa und Fran waren altersmäßig näher beieinander und schienen auch mehr gemeinsam zu haben. Fran war immer freundlich und liebevoll. Sie spielte Klavier und brachte es auch Gerard und mir bei. Sie setzte sich zu uns und erzählte uns Geschichten von meinen Großeltern und wie sie aus Italien gekommen waren. Die Mutter meines Vaters, Kay, schrieb Kindergeschichten, die in den Vereinigten Staaten erschienen.

Tante Fran las uns diese Geschichten immer vor und schmückte sie mit ihren eigenen bunten Phantasien aus. Eine von Oma Kays Geschichten handelte von einem Mädchen namens Karen und einem Kaninchen. In einer anderen ging es um meine Kusinen, die auf den Schwingen eines Adlers durch die Stadt flogen. Meine Tante Jean, oder Jeannie, Papas älteste Schwester, bewahrte die Bücher in ihrem Haus auf, doch sie fielen nach dem Tod von Oma Gravano einem Brand zum Opfer. Jeannie war mit meinem Onkel Angelo verheiratet. Er hatte mit »dem Leben« nichts zu tun. Er war Ingenieur.

 

Jeannie war wesentlich älter als Papa. Wir besuchten sie oft zu Hause. Onkel Angelo spielte gern Golf und Tennis und hatte ein Aquarium im Keller. Wir durften nichts von seinen Sachen anfassen. Papa mochte Angelo sehr. Er war für Sammy mehr wie eine Vaterfigur. Onkel Angelo war ein strenger Mann, aber auch sehr großzügig. Er hatte feste Vorsätze, die er konsequent vertrat. Als zwei seiner Kinder in Schwierigkeiten gerieten, weil sie Marihuana geraucht hatten, warf er sie aus dem Haus. Papa konnte mit dieser Art von Disziplin nichts anfangen; ganz egal, was ich auch angestellt hätte, er hätte mich nie verstoßen.

An den Abenden, an denen Papa länger in Brooklyn zu tun hatte, gingen wir in der Regel zu Tante Fran zum Abendessen. Papa gesellte sich dann zu uns, wenn er nach Hause kam. Es war ihm wichtig, dass wir jeden Abend als Familie zusammen aßen, und er versuchte, stets pünktlich um fünf zu Hause zu sein.

Ich erinnere mich, dass wir einmal um den langen weißen Tisch in Tante Frans Esszimmer saßen und Papa begann, allen von diesem tschecho­slowakischen Kerl namens Frank Fiala zu erzählen. Er sagte, der Typ sei »wahnsinnig«. Ich wusste nicht, was dieser Typ tat, dass Papa dachte, er sei nicht ganz richtig im Kopf, aber was es auch war, es begann meinen Vater zu ärgern. Ich wusste, dass Frank Fiala die Plaza Suite an der 68. Straße in Gravesend in Brooklyn kaufen wollte. Es war der erfolgreichste Nachclub meines Vaters. Papa gehörte das gesamte Gebäude. Er leitete die Plaza Suite vom ersten Stock aus. Die Büros seiner Bauunternehmung und die Ausstellungsräume seiner Teppich- und Bodenbelagsfirma befanden sich im Erdgeschoss. Die Diskothek war riesig. Sie nahm eine Fläche von vierhundertundfünfzig Quadratmetern in dem Gebäude ein und verfügte über eine Bar, eine Tanzfläche und eine private VIP-Lounge. Die Leute standen stundenlang draußen Schlange, um hineinzukommen. Eine Zeitlang war Papa praktisch jeden Abend dort, doch als das Bauunternehmen mehr Zeit in Anspruch nahm, wollte er den Laden abstoßen.

Frank bot meinem Vater eine Million Dollar für den Club. Papa hatte das Angebot angenommen, aber ich glaube, er hatte dabei Hintergedanken. Ein paar Tage, nachdem wir zum ersten Mal etwas von Frank Fiala gehört hatten, erschien mein Vater nicht zum Abendessen. Ich hatte auf ihn gewartet, weil ich ihn fragen wollte, ob meine beste Freundin Toniann bei uns übernachten dürfe. Mama sagte, ich bräuchte Papas Erlaubnis. Er sagte fast immer ja.

Die Uhr schlug sechs, und er war immer noch nicht zu Hause.

»Wo bleibt Papa denn?«, fragte ich meine Mutter.

Sie blickte von ihrem Topf mit Tomatensauce auf. »Dein Vater hat zu tun. Er isst heute nicht mit uns zu Abend.«

»Kann Toniann denn bei uns übernachten?«

»Warten wir, bis dein Vater nach Hause kommt, und hören, was er dazu sagt.«

»Aber du hast doch gerade gesagt, dass er nicht zum Abendessen kommt. Wann ist er denn wieder da?«

»Weiß ich nicht. Und, ehrlich gesagt, ist es vielleicht ohnehin nicht gut, wenn Toniann heute Abend bei uns bleibt. Vielleicht sollte sie jetzt besser heimgehen.« Sie füllte die Sauce in Plastikbehälter. »Wir gehen über die Straße und essen bei deiner Großmutter, Tante Fran und den Kindern. Hol deinen Bruder, zieh ein paar saubere Kleider an und beeil dich ein bisschen.«

An jenem Abend herrschte in Tante Frans Haus eine seltsame Stimmung. Onkel Eddie war nicht da, was ebenfalls ungewöhnlich war. Keiner der Erwachsenen sagte etwas, während das Essen aufgetragen wurde – ein sicheres Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmte, denn ansonsten unterhielten sich die Mitglieder meiner Familie sehr gerne. Obwohl ich sehr neugierig war, stellte ich Mama keine weiteren Fragen.

Nach dem Abendessen fragte ich sie, ob ich zu Toniann zum Spielen gehen könne, bis mein Vater nach Hause kam. Meine Freundin wohnte gleich gegenüber. »Du kannst spielen gehen, aber nur eine halbe Stunde.«

»Was ist mit dem Übernachten«, drängelte ich.

Sie seufzte. »Frag deinen Vater, wenn er heimkommt. Wenn er nicht heimkommt, müssen wir es eben verschieben.«

Wir spielten gerade in Tonianns Vorhof, als Onkel Eddies Wagen um die Ecke gebraust kam und mit quietschenden Reifen in unsere Auffahrt einbog. Papa sprang heraus und rannte ins Haus, ich hinterher. Als ich ihn im Wohnzimmer und in der Küche nicht fand, ging ich nach oben. Die Schlafzimmertür war geschlossen. Ich öffnete sie einen Spaltbreit. Im selben Augenblick drehte sich Papa um und sah mich mit ernster Miene an.

»Kannst du nicht anklopfen?« Hastig kehrte er mir wieder den Rücken zu, aber ich konnte noch sehen, wie er sich einen Revolver in den Bund seiner Jeans steckte. Ich fragte mich, ob etwas nicht in Ordnung sei, doch seine Körpersprache verriet nichts. Er war ganz ruhig und gefasst. Ich starrte ihn an und versuchte mir einzureden, dass ich die Pistole nicht gesehen hätte. Nach einer langen Pause sagte ich schließlich: »Ich wollte dich gerade fragen, ob eine Freundin bei mir übernachten…«

»Nein, das geht nicht!«, unterbrach er mich. Dann zog er sein T-Shirt aus dem Hosenbund, drehte sich um und sah mich an.

»Warum denn nicht?«, quengelte ich. »Was ist denn daran so besonderes?«

»Nicht heute Abend. Wie wäre es denn am Wochenende? Ich kann jetzt nicht weiter darüber reden, ich muss gehen.« Seine Augen waren kalt; ich hatte das Gefühl, als blickte er durch mich hindurch. Er sprach ziemlich schnell und war ganz offensichtlich mit seinen Gedanken woanders. Er nahm ein Paar schwarze Lederhandschuhe von seiner Kommode und verließ das Zimmer.

Ich folgte ihm auf den Flur, sah zu, wie er die Treppe hinab polterte, und rief ihm nach: »Wozu brauchst du denn die Handschuhe? Es ist doch Hochsommer.« In meinem Herzen spürte ich, dass etwas Schreckliches geschehen würde, und ich fürchtete mich.

Er hielt inne, starrte mich an und sagte: »Warum stellst du so viele Fragen?«

»Weiß nicht. Ich habe ja nur gefragt.«

»Eines Tages wird noch eine gute Rechtsanwältin aus dir werden.« Er ging langsam die Treppe wieder herauf, bückte sich und küsste mich auf die Stirn. »Ich verspreche dir, dass jemand bei uns zum Übernachten kommen darf, bevor wir nächste Woche zur Farm fahren.« Die Farm war Papas ganzer Stolz, ein zehn Hektar großer bewirtschafteter Pferdehof im ländlichen Teil von New Jersey. Seit Papa das Anwesen gekauft hatte, verbrachten wir jeden Sommer dort.

»Glaub mir, heute ist kein guter Abend«, sagte mein Vater zu mir. »Ich will, dass du jetzt ein braves Mädchen bist. Du bist die Älteste. Du hast die Verantwortung und musst dich um deinen Bruder kümmern. Und treib’ Mama nicht zum Wahnsinn.« Er küsste mich noch einmal, dann ging er nach draußen.

Mein Vater verstand es ausgezeichnet, mir ungeachtet der tatsächlichen Umstände stets das Gefühl zu geben, alles wäre in schönster Ordnung. Wenn er also an jenem Abend mit einem Revolver im Hosenbund das Haus verließ, würde das schon seine Richtigkeit haben.

Meine Mutter war in der Küche und hatte von unserem Gespräch nichts mitbekommen. Ich hatte nicht vor, ihr zu erzählen, was ich gesehen hatte.

Am nächsten Morgen lautete die Schlagzeile in der Zeitung auf unserem Küchentisch: »Mord vor der Plaza Suite«. Papa war in der Küche und verhielt sich ganz normal. Ich wusste nicht einmal, ob er bemerkte, dass ich den Artikel las. Ich hatte keine, Zeit, ihn ganz zu lesen, aber ich erfuhr, dass das Opfer Frank Fiala war.

Ich wusste, dass der Typ ein paar Sachen gemacht hatte, über die sich mein Vater geärgert hatte. Aber Mord? Als sich mein Vater an den Frühstückstisch setzte, hörte ich sofort auf zu lesen. Keiner von uns sagte ein Wort.

Später in derselben Woche wies mein Vater meine Mutter an, meinen Bruder und mich ins Auto zu packen und zu der Farm in Cream Ridge zu fahren. Als Papa das Anwesen gekauft hatte, war es ziemlich heruntergekommen gewesen. Doch er sagte, es habe Potential und verfüge zudem über ein großes Grundstück. Mein Vater verliebte sich sofort in die Farm. Sobald wir den Besitz übernommen hatten, riss er wieder Wände ein und machte sich gekonnt an die Renovierung.

Bald wurde aus dem abgewirtschafteten Bauernhaus mit ein paar Scheunen und verrosteten Gerätschaften ein spektakuläres Anwesen mit eingelassenem Swimmingpool. Es verfügte über topmoderne Einrichtungen für die Pflege und Ausbildung von Pferden sowie eine professionelle Rennbahn im Vorhof, eine exakte Nachbildung des Freehold Raceway in New Jersey. Mein Vater stellte einen Trainer aus dem Stall in Staten Island an, wo mein Bruder und ich Reitunterricht hatten, und baute ihm ein kleines Haus auf dem Gelände. Die meisten Pferde, mit denen der Trainer arbeitete, waren Traber, die auf dem Meadowlands Racetrack Rennen liefen. Mein Vater restaurierte sogar die alte Pferdekutsche, die ein früherer Besitzer zurückgelassen hatte.

Es beunruhigte mich, dass wir so plötzlich und ohne Papa zur Farm aufbrachen. Eigentlich wollten wir erst ein paar Tage später fahren. Die Farm war ein Ort, an dem meine Familie stets viel Spaß hatte. Es gab dort immer etwas zu tun. Sie lag etwa eine Stunde und fünfundvierzig Minuten von Staten Island entfernt im historischen Cream Ridge. Verglichen mit Staten Island war die Gegend sehr ländlich. Es gab mit Bäumen bestandene Hügel, schmale zweispurige Straßen und viele große Pferdehöfe. Allein für die nicht asphaltierte Ruckelpiste, die zu unserem Haus führte, brauchte man mit dem Auto fünf Minuten.

Das Haupthaus war riesig und bot atemberaubende Blicke über unsere zehn Hektar Grasland. Als wir es kauften, war die Fassade weiß; mittlerweile war sie grau. Es war umgeben von einer schönen, steinernen Veranda mit einem großen Tisch und vielen Gartenstühlen. Ich fand das Haus klasse. Mein Zimmer war oben, mit Blick auf die Rennbahn, was mir sehr gut gefiel. Ich ritt gerne und verbrachte viele Stunden mit meinem wunderschönen weißen Pony Snowflake. Auf Staten Island ritt ich mit einem englischen Sattel, auf der Farm hingegen im Westernstil.

Wir verbrachten den Großteil des Sommers in Cream Ridge. Mama werkelte gerne im Garten herum, und mein Bruder Gerard fuhr mit dem Fahrrad querfeldein über das riesige Anwesen. Während des Sommers pendelte Papa hin und her. Meist verließ er dienstags die Farm und kehrte donnerstags wieder zurück. Mein Vater war ein ganz anderer Mensch, wenn er auf der Farm war. Dann saß er morgens auf der vorderen Veranda, schlürfte seinen Kaffe und sah den Trainern auf der Rennbahn zu. Er wirkte stets entspannt, als könnte ihn nichts auf der Welt aus der Ruhe bringen.

Oft lud er Freunde und ihre Familien aus New York ein. Ich wusste es damals noch nicht, aber all diese Freunde waren Mitglieder der Mafia. Mein Vater hatte eine feste Regel: Auf der Farm wurde nicht übers Geschäft gesprochen. »Wenn ihr kommt, bringt eure Overalls mit, weil jeder mit anpacken muss«, pflegte er zu sagen. Wir hatten viel zu lachen. Es waren immer Leute zu Besuch, und ständig wurde irgendwo gebaut.

Doch an jenem Tag, als uns Papa zur Farm vorausschickte, verlief nicht alles nach den Regeln. Es begann damit, dass er unerwartet eintraf. Kurz vor dem Abendessen hörte ich, wie der Kies in der Einfahrt knirschte. Ich rannte zum Fenster und sah, wie Papas brauner Lincoln vor dem Haus hielt, gefolgt von mehreren anderen Wagen. Mein Vater hatte uns gesagt, er würde erst in einigen Tagen nachkommen.

Doch nun war er da. Und damit nicht genug: Er hatte »Stymie« bei sich im Auto. Stymie war Joe d’Angelo, der beste Freund meines Vaters. Papa sagte, er habe ihn »auf der Straße« getroffen. Die beiden Männer waren sich so sympathisch, dass sie sich mit ihrem braunen Haar und ihrer untersetzten Statur sogar ähnelten, wenngleich Stymie mit seinen über ein Meter siebzig gute sieben Zentimeter größer war als mein Vater. Sie kleideten sich auch gleich, trugen ähnliche Trainingsanzüge und Turnschuhe. Stymie besaß eine Bar in Brooklyn namens Docks. Papa hatte ihn einmal als seine rechte Hand bezeichnet.

Als mein Vater aus dem Wagen stieg, trug er sein weißes T-Shirt und eine Sporthose. Stymie trug ein Sweatshirt über seinem Hemd. Seine Frau war nicht mitgekommen, was sehr ungewöhnlich war. Wenn Papas Freunde zu Besuch kamen, brachten sie immer ihre Familien mit. Onkel Eddie und einige andere von Papas Leuten stiegen aus den anderen Fahrzeugen. Keiner hatte Frau und Kinder dabei.

 

Ich rannte hinüber in die Küche, um meinen Vater zu begrüßen. Er redete in gedämpftem Ton mit meiner Mutter. Ich sah, wie sie den Kopf schüttelte. »Okay«, flüsterte sie, bevor sie meinem Papa ins Freie folgte.

An jenem Abend servierte Mama das Dinner draußen auf der hinteren Veranda, die komplett mit Mückengittern verkleidet war. Entlang des Fundaments verlief eine niedrige Mauer, auf der die Gitter und Rahmen ruhten. Wenn ich die Gespräche meiner Eltern belauschen wollte, konnte ich mich dahinter verstecken und war nicht zu sehen. Ich nutzte diese Möglichkeit recht häufig, um Diskussionen über meine Wünsche zu verfolgen, etwa, wenn ich meine Eltern gefragt hatte, ob wir den Great Adventure Amusement Park besuchten. Wenn ich sie gefragt hatte, verschwand ich aus dem Zimmer und schlich mich dann von der Rückseite des Hauses wieder an, um zuzuhören, wie sie ihre Entscheidung fällten.

An jenem Abend aber hatte ich das Gefühl, dass Papa nicht er selbst war. Seine Stimmung ängstigte mich. Ich merkte immer sofort, wenn er etwas auf dem Herzen hatte. Dann wurde er still und starrte ins Leere. Ich war mir sicher, dass etwas passiert war, und überzeugt, dass es mit der Pistole und dem Mord vor seinem Nachtclub zu tun hatte. Ich wollte gar nicht daran denken, dass er darin verwickelt sein könnte.

»Hilf deiner Mama beim Aufräumen«, sagte mein Vater zu mir nach dem Abendessen. Ich räumte den Tisch ab, dann fragte ich ihn, ob er mir zusehen wolle, wie ich auf Snowflake ritt.

»Nein, ich komme später raus«, sagte er. »Ich rede gerade mit den Jungs.«

Mama war noch in der Küche, als ich mich außen um die Veranda herum schlich und zu meinem Versteck kroch. Ich lehnte mit dem Rücken an der Wand, saß im Indianersitz und lauschte. Das hatte ich noch nie zuvor getan, ein Gespräch meines Vaters mit seinen Freunden belauscht. Aber ich wollte wissen, was vorgefallen war.

»Paul ist außer sich deshalb«, hörte ich einen der Männer sagen. Ich wusste, dass sie wahrscheinlich Paul Castellano meinten. Ich dachte, er wäre Papas Chef im Baugewerbe oder so etwas.

»Ich musste jedenfalls tun, was zu tun war«, hörte ich meinen Vater sagen. »Scheiß’ auf Paul. Wenn wir in den Krieg ziehen müssen, dann tun wir das eben.«

Krieg? Wovon sprach mein Vater da?

Ich hörte, wie Onkel Eddie ihn unterbrach: »Ich habe dir gesagt, wir hätten die Finger davon lassen sollen.«

»Schon gut Eddie, hör auf zu jammern«, fauchte Papa.

Ganz offensichtlich stimmte etwas nicht. Vielleicht steckte mein Vater in Schwierigkeiten. Ich war mir sicher, dass es mit den Geschehnissen jenes Abends zu tun hatte, als mein Vater mit dem Revolver das Haus verließ. Ich begann, die Puzzleteile zusammenzufügen. Erst hatte ich ihn mit der Waffe gesehen, dann hatte ich erfahren, dass der Typ, der seinen Nachtclub kaufen wollte, ermordet worden war. Und jetzt sagte mein Vater, er habe »getan, was zu tun gewesen sei«.

Ich begann über all das nachzudenken, was ich in den vergangenen Jahren gesehen und nicht begriffen hatte; ich dachte daran, wie ich mit sechs die Pistole unter seiner Matratze entdeckt hatte, an die vielen Abende, an denen er sich mit Leuten getroffen hatte, die anders aussahen als die Väter meiner Freunde, und dass er erst spät nach Hause gekommen war.

Ich wollte noch ein wenig bleiben und weiter zuhören, fürchtete jedoch, entdeckt zu werden. Außerdem hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass ich Dinge belauschte, die eindeutig nicht für meine Ohren bestimmt waren. ich krabbelte davon und ging durch die Vordertür zurück ins Haus.

In diesem Augenblick kam mein Vater zurück in die Küche.

»Ich dachte, du wärst reiten?«, sagte er.

»Ich habe keine Lust.« Ich spürte, dass mich mein Vater ansah, als wüsste er, dass ich gelauscht hatte.

»Alles klar mit dir?« Er sah mich seltsam an.

»Ja, warum?«

Er lächelte. »Komm, wir machen etwas Obst zurecht und bringen es den Jungs raus.«

Ich sah zu, wie er an der Küchentheke stand und sorgfältig die Schale von einer Wassermelone entfernte. Als ich ihm auf die Veranda folgte, beobachtete ich genau, wie er sich den Jungs gegenüber verhielt. Mein Vater war gelöst, unterhielt sich und genoss seinen Nachtisch. Er schien wieder ganz er selbst zu sein. Ich war verwirrt. Vielleicht hatte ich alles nur missverstanden.

Später an jenem Abend gingen Papa und ich zur Scheune, um das Licht auszuschalten. Snowflake scharrte in ihrer Box, glücklich, uns zu sehen. »Ihr geht für ein paar Tage zurück nach Staten Island«, sagte mein Vater.

»Warum das denn? Ich dachte, wir würden hier den ganzen Sommer bleiben?«

»So ist es auch«, lächelte er. »Trotzdem fahrt ihr für ein paar Tage zurück nach Staten Island.«

Da dachte ich wieder, dass doch etwas nicht stimmte – was ich eben gehört hatte, die Pistole, der Mann, der vor Papas Nachtclub ermordet worden war. Ich bekam es langsam mit der Angst.

»Papa, wenn du einmal sterben solltest, würden wir dann hier auf der Farm leben?«

Mein Vater blieb stehen. Er wandte sich zu mir und fragte: »Warum fragst du mich so etwas?«

»Ich weiß auch nicht. Ich möchte einfach wissen, ob wir auf Staten Island bleiben oder hierher auf die Farm ziehen würden.«

»Nun, ich glaube, darum musst du dir keine Sorgen machen, weil ich dir noch eine ganze Weile erhalten bleiben werde.«

Ich wusste nicht, dass man einen Killer auf ihn angesetzt hatte.

Am nächsten Morgen kamen Gerard und ich nach unten. Wir gingen hinaus zum Hühnergehege, um nach Eiern fürs Frühstück zu suchen. Die Hennen legten braune Eier, an die ich mich erst hatte gewöhnen müssen, aber inzwischen mochte ich sie gern. Wir fanden zwei Eier, doch eines zerbrach bei dem Streit darüber, wer sie tragen sollte. Mama sagte, wir müssten eins aus dem Kühlschrank nehmen; sie werde uns aber nicht sagen, wer welches Ei bekam. Gerard und ich mochten unsere Eier am liebsten kurz beidseitig gebraten. Wir nannten sie »Tunk-Eier«, weil wir unseren Toast immer in den Dotter tunkten.

Als wir das Thema Eier hinter uns gebracht hatten, kam Papa an den Frühstückstisch und benahm sich wie immer. Ich schaute ihn an und wusste nicht recht, was ich denken sollte. Am Abend zuvor hatte irgendetwas nicht gestimmt, aber er ließ es so aussehen, als wäre alles in Ordnung. Ich hatte zu große Angst, um Fragen zu stellen. Meine Mama wirkte ein wenig zerstreut. Als wir nach Staten Island aufbrachen, sagte sie zu meinem Vater, »ich liebe dich«, dann umarmte sie ihn, wie sie es sonst nicht tat. Da er jedoch völlig ruhig war, wurde ich nicht so nervös, wie ich es ansonsten vielleicht geworden wäre. Wir gingen zur Scheune, um mein Pferd zu füttern und uns zu verabschieden. Papa saß immer noch in der Küche. Ich gab ihm zum Abschied einen Kuss. »Wir sehen uns bald wieder«, sagte er. Mama hatte eine große, weiße Espressokanne aufgesetzt, und Papas Freunde saßen hinten auf der Veranda und tranken Kaffee.

Als wir zurück auf Staten Island waren, spielten gerade ein paar unserer Freunde draußen. Gerard und ich hüpften aus dem Wagen und rannten zu ihnen. Die beunruhigende Situation auf der Farm hatten wir vergessen. Ich war so aufgeregt, meine Freunde zu sehen. Es war, als wäre nichts geschehen. Papa kam ein paar Tage später aus Cream Ridge zurück. Ich war überglücklich, ihn zu sehen, und umarmte ihn extra lange. Ich blickte zu ihm auf, als könnte uns nichts geschehen, solange er uns beschützte. Er schien wieder ganz er selbst zu sein, nannte Gerard und mich sogar »Kiddies«. Nach dem Abendessen sagte er, ich solle ihm den Kopf massieren. Wenn ich länger aufbleiben wollte, spielten wir gern Kopf-, Gesichts- und Schultermassieren. Normalerweise tat er so, als müsste er mich dazu bestechen, mich bezahlen. Diesmal jedoch willigte ich sofort ein, weil ich mich so freute, ihn wieder zu sehen. Ich war einfach nur erleichtert.