Die magische Schwelle

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DER SCHRITT ÜBER DIE SCHWELLE

Im Deutschunterricht nahmen sie gerade Gullivers Reisen durch und mussten als Hausaufgabe das erste Kapitel daraus lesen. Flo las gerne. Er lag auf seinem Bett und war tief in das Buch versunken. Gedankenverloren kraulte er seinen verschlissenen Teddy, alte Angewohnheit. Coole Jungs taten so was natürlich längst nicht mehr, aber wer sollte es schon erfahren?

Spielten coole Jungs in seinem Alter eigentlich noch Auto-Verfolgungsjagden? Oder mit Modelleisenbahnen? War das noch normal?

Immerhin gab es eine Menge Erwachsener, die sich für Modelleisenbahnen begeisterten. Dann hieß es halt nicht mehr spielen, sondern einem Hobby nachgehen. Sein Vater war auch kein Kind mehr gewesen, als er die Eisenbahnanlage ausgebaut hatte. Aber das war lange vor Flos Geburt gewesen. Wann hatte Flo zum letzten Mal gesehen, dass sich Johann mit seinem Hobby beschäftigt hatte? Er interessierte sich eigentlich schon lange nicht mehr für die Anlage. Das war natürlich keine Freigabe dafür, sie so zu verwüsten.

Flo klappte das Buch zu. Er musste die kleine Welt wieder in Ordnung bringen, alles wieder so herrichten, wie es vor dem großen Zugunglück gewesen war.

›Dann merkt Papa natürlich erst recht, dass jemand in der Kleinen Freiheit war‹, überlegte Flo. ›Aber andererseits freut er sich vielleicht auch, wenn alles wieder heile ist. Und ich kann ihm beweisen, dass ich alt genug für die Modelleisenbahn bin.‹

Als Erstes setzte er die verunglückten Züge zurück auf die Schienen und stellte die umgefallenen Bäume in Reih und Glied an den Straßenrand. Die kleinen Plastikfiguren positionierte er an ihrem angestammten Platz und dem bedauernswerten Herrn Müller setzte er mit einem Tröpfchen Kleber den Arm wieder an. Im Handumdrehen sah die Anlage wie vorher aus, als habe es nie ein großes Zugunglück gegeben.

Flo betrachtete sein Werk und war ein bisschen stolz auf sich. Jetzt, da alles wieder in Ordnung war, konnte er doch noch ein bisschen mit der Anlage spielen?

»Ich bin auch vorsichtig«, murmelte sein Spieltrieb.

»Das gibt nur wieder Ärger. Letztes Mal wollte ich doch auch vorsichtig sein«, mahnte ihn sein schlechtes Gewissen.

»Ach, krieg dich wieder ein, ich schalte auch keinen Strom ein.«

Um auf der Eisenbahnanlage nichts unnötig anzurühren, womöglich gar kaputt zu machen, nahm Flo das kleine Chevrolet-Modellauto aus dem Regal. Es war ein genaues Abbild ihres Oldtimers, der draußen unter dem Carport stand. Sein Vater hatte ihn irgendwann mal in dessen Kofferraum gefunden. Vom Maßstab her war das Modell zwar etwas zu groß für die Eisenbahnanlage, aber das störte Flo nicht weiter. Er schob den Wagen über die dicht bevölkerte Straße zwischen Konzertbühne und Fußballstadion und achtete darauf, kein Figürchen zu überfahren. Auf der breiten Landstraße gab er dem Chevi einen etwas zu kräftigen Schwung, sodass er in der nächsten Kurve auf der Wiese mit dem Bauern landete, der gerade seine Kühe melkte.

»Nichts passiert, alles in Ordnung!«, rief Flo, als säße er selbst im Wagen.

»Es ist doch immer das Gleiche mit dir, du Rowdy. Kannst du dich denn nicht einmal beherrschen?«, schimpfte der Bauer.

»Tut mir leid. Aber ich werde von einem Riesen verfolgt …«, entschuldigte sich Flo.

Das war eigentlich eine gute Idee, sich von einem Menschenberg, so groß wie Gulliver in Liliput, verfolgen zu lassen. »Aber lieber nicht auf der empfindlichen Modelleisenbahn«, mahnte das schlechte Gewissen.

»Hast recht. Ich spiele besser im echten Chevrolet weiter«, sagte der Spieltrieb.

In der Küche versorgte Flo sich mit ein paar Keksen und sah durchs Wohnzimmerfenster Heidi und Gianna in ihre Handys vertieft auf der Terrasse sitzen. Die Verfolgungsjagd musste kurz warten. Erst musste er sie mit einer kleinen Erfrischung in die Wirklichkeit zurückbefördern. Und so füllte er seine Wasserpistole, die er schnell aus seinem Zimmer holte.

Vorfreudig kichernd schlich er zur Haustür hinaus und öffnete sicherheitshalber schon mal die Fahrertür des Chevrolets. Vorsichtig blickte er um die Hausecke auf die Terrasse. Die beiden glotzten immer noch auf ihre Handys und bemerkten ihn nicht. Selbst schuld, wenn sie nichts mitbekamen. Als sie der harte Wasserstrahl traf, war es mit der Ruhe vorbei.

»Flo! Spinnst du jetzt total?«, schrie Heidi und sprang auf.

»Ey, mein Handy. Wenn das nass wird …!« Auch Gianna schoss vom Stuhl hoch und stürzte auf Flo zu.

Flo hatte natürlich mit dieser Reaktion gerechnet, rettete sich blitzschnell in den Chevrolet und verriegelte die Türen von innen.

»Komm da sofort raus und hol dir eine ab!«, brüllte Heidi und hämmerte gegen die Tür.

»Nö, keine Lust«, sagte Flo und zeigte ihnen ein hämisches Grinsen.

»Na warte. Wir haben Zeit. Lassen wir dich halt ein bisschen da drin schmoren! Du bist ja gut versorgt. Wenn du Durst hast, trink einfach deine Wasserpistole leer.«

Flo kicherte über seinen gelungenen Streich. Und als die beiden um die Ecke auf die Terrasse verschwunden waren, fiel ihm der Riese wieder ein, der ihm immer noch auf den Fersen war.

Mit quietschenden Reifen raste er davon. Wie bei einem Erdbeben erschütterten die Schritte seines Verfolgers den Boden. Die Tachonadel kletterte über die 100-Meilen-Marke. Doch der Gigant kam immer näher. Es gab nur noch eine Chance. Flo raste direkt auf den Kanal zu. Kurz hinter dem Strommast riss er entschlossen das Lenkrad herum, der Wagen schleuderte mit qualmenden Reifen bis fast zur Uferböschung. Der Riese aber stolperte in seiner blinden Wut über die Stromkabel. Es zischte und blitzte und vom Stromschlag betäubt, flog er in hohem Bogen in den Kanal. Flo brachte den Wagen sicher zum Stehen und genoss den Applaus der Leute, die aus ihren Verstecken heraus das Geschehen beobachtet hatten.

»Tja, mein lieber Gernegroß«, sagte Flo lässig, »wurde mal Zeit für so ein Bad, du müffelst ein wenig.«

Ein paar Seeleute schnappten sich dicke Schiffstaue und fesselten den bewusstlosen Riesen, bevor er auf ein Containerschiff verladen wurde.

Jetzt, da der Riese besiegt war, tauchte Flo wieder aus seiner Fantasiegeschichte auf. Ob er es wagen konnte, ganz leise die Tür zu öffnen und sich in sein Zimmer zu schleichen? Heidi und Gianna wurden doch bestimmt wieder von ihren Handys hypnotisiert.

Er zog den Türhebel, doch die Tür klemmte und ließ sich nicht öffnen. Normal für so ein altes Auto. Er drückte fester. Nichts. Sie bewegte sich keinen Spalt weit. Er versuchte es mit der Beifahrertür. Das Gleiche. Wie zugeschweißt. Ebenso die hinteren Türen. Aber wie konnte das sein? Unmöglich, dass sie alle gleichzeitig klemmten.

Dumpf drang von draußen ein leises Kichern zu ihm herein und im nächsten Moment erhoben sich Heidi und Gianna und grinsten durch das Seitenfenster. Gianna ließ eine Rolle Klebeband vor seinem Gesicht schaukeln.

»Zentralverriegelung«, kicherte sie.

»Das ist Freiheitsberaubung, lasst mich auf der Stelle raus«, schrie Flo.

»Würden wir ja, aber das Klebeband geht nicht mehr ab, ohne den Lack zu zerstören«, sagte Heidi mit gespieltem Bedauern.

»Wir müssen erst im Internet recherchieren, wie wir dich aus deinem Gefängnis befreien könnten!«, rief Gianna.

»Aber ich weiß nicht, ob du das überhaupt willst. Denn dann gibts ’ne hübsche Abreibung«, sagte Heidi. »Komm, Gianna, lass uns ein Eis essen gehen.« Die beiden verschwanden lachend um die Ecke des Hauses.

Flo saß da und platzte fast vor Wut. Die konnten was erleben, wenn er erst wieder raus war. Aber das Klebeband wirkte wie ein Stahlkorsett. Wenn sein Vater das sehen würde, wie sie seinen Oldtimer verschandelten! Er krabbelte zum Heckfenster und hielt Ausschau nach den beiden. Nichts. Die wollten ihn hier wirklich verhungern lassen. Wütend boxte er gegen die Rückenlehne. Die Rückenlehne, natürlich! Die war doch schon seit Ewigkeiten nicht fest montiert. Ein paarmal hin und her gerüttelt und tatsächlich, sie ließ sich auf die Rückbank klappen. Vor ihm tat sich der riesige Kofferraum des Chevrolets auf, wie eine geheimnisvolle Höhle. Wenn er jetzt von innen die Kofferraumhaube aufdrücken konnte, war er frei. Er krabbelte in den dunklen Hohlraum, drückte gegen die Kofferraumhaube und …

»Ha! Damit habt ihr blöden Gänse nicht gerechnet«, jubelte Flo, als sich die schwere Klappe quietschend einen kleinen Spalt weit öffnete. Um seinen geheimen Notausgang nicht zu verraten, wuchtete er die schwere Rückenlehne von innen wieder hoch. Dann holte er Schwung, um die Kofferraumklappe ganz zu öffnen. Doch als er ins Freie blickte, traute er seinen Augen nicht. Was war das für eine merkwürdige Welt um ihn herum? Auf jeden Fall nicht die Auffahrt zum Carport.

»Wir sollten ihn langsam wieder freilassen«, sagte Heidi.

»Wieso? Er ist doch gerade mal fünf Minuten da drin. Ich finde, er kann ruhig noch ein bisschen schmoren«, meinte Gianna.

»Na gut, aber nur noch ein paar Minuten«, sagte Heidi.

Kurz darauf trieb sie das schlechte Gewissen zurück zum Chevrolet. Leise schlichen sie sich an, um das Klebeband unbemerkt wieder abzuziehen. Dann wollten sie so tun, als wüssten sie von nichts und Flo für verrückt erklären. Sie hatten damit gerechnet, Flo vor Wut toben zu hören. Doch von drinnen kam kein Mucks.

»Mein Brüderchen ist doch nicht etwa eingeschlafen?« Heidi warf einen kurzen Blick ins Innere.

 

»Und? Was macht er?«, fragte Gianna.

»Ich seh ihn nicht. Er hat sich bestimmt versteckt.« Doch auch bei genauerem Hinsehen war keine Spur von Flo zu entdecken. »Er muss aber da drin sein. Wie sollte er denn rausgekommen sein?«, fragte Heidi.

»Vielleicht durch ein Fenster?«

»Kann nicht sein, die gehen nur elektrisch«, antwortete Heidi. »Flo, genug Verstecken gespielt. Das ist jetzt nicht mehr lustig. Kannst rauskommen, wir tun dir auch nichts!«

»Es ist doch alles noch original zugeklebt«, überlegte Gianna laut. »Steckt er vielleicht im Kofferraum?«

»Wie soll er denn da reingekommen sein?«

»Keine Ahnung, aber Nachschauen kostet ja nichts«, meinte Gianna und ging hinter den Wagen.

»Geht ganz schön schwer auf«, stöhnte sie und stemmte die quietschende Haube hoch. Doch bis auf ein paar Werkzeuge und eine Packung Schrauben entdeckten sie nichts.

Wie versteinert kauerte Flo im Kofferraum. Träumte er? Sein Elternhaus, der Carport und die Einfahrt, einfach alles in der Umgebung war verschwunden. Heidi und Gianna konnten den schweren Wagen unmöglich woanders hingeschoben haben, während er kurz im Dunkeln des Kofferraums verschwunden war. Irgendwie sah die Welt da draußen ein bisschen zu bunt und künstlich aus und dennoch war ihm die Umgebung vertraut.

Zumindest erblickte er die Hochbrücke, nur dass sie um Hunderte Meter weggerückt war. Und wieso ragten in der Ferne Berge auf? Die gab es in Norddeutschland doch gar nicht! Das passte alles nicht richtig zusammen. Ein Hubschrauber landete auf dem Dach eines Krankenhauses. Ein Feuerwehrauto brauste mit Blaulicht seinem Einsatzort entgegen, eine Blaskapelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite spielte unbeirrt weiter. Und direkt vor ihm glotzten ihn ein paar Kühe ausdruckslos an.

All das verwirrte ihn so sehr, dass er erst jetzt den Mann bemerkte, der wild mit den Armen fuchtelte und direkt auf ihn zukam.

»Hey, du da! Ja, du, im Kofferraum. Was machst du hier auf meiner Wiese? Das ist doch kein Parkplatz. Ich stell meinen Trecker ja wohl auch nicht einfach in eurem Vorgarten ab.«

Mit seinem seltsam groben Gesicht sah der Mann, anscheinend ein Bauer, alles andere als freundlich aus. Wie eine Muschel bei Gefahr ihre Schalen zuklappt, zog Flo schnell die Kofferraumklappe zu. Dann stemmte er sich mit aller Kraft gegen die Rückenlehne und plumpste direkt zurück in den Fußraum des Chevrolets.

Heidi und Gianna waren ratlos und mittlerweile auch ziemlich besorgt. Sie hatten sich auf die Terrasse in den Schatten verzogen und rätselten über Flos plötzliches Verschwinden.

»Ich kapier das nicht! Der kann sich doch nicht einfach so in Luft auflösen«, rätselte Heidi.

»Und wenn ein wildes Tier im Wagen war, das ihn einfach aufgefressen hat?«, überlegte Gianna laut.

»Kann nicht sein. Dann wär doch alles voller Blut gewesen.«

»Oder hat dein Bruder vielleicht magische Kräfte?«

»Eher nicht. Einmal hat er einen Zauberkasten zum Geburtstag bekommen. War aber nichts von Zauberkräften zu spüren.«

»Und wenn ihn jemand entführt hat?«

»Dann wäre doch wohl das Klebeband aufgerissen.«

»Von Außerirdischen mit einem Energiestrahl herausgebeamt …?«

»Ich glaube, jetzt geht dir ein bisschen die Fantasie durch. Warum sollten sich Außerirdische ausgerechnet Flo aussuchen?«

In Flos Kopf schwirrten Tausende Fragezeichen. Durch die Fenster des Chevrolets erblickte er zum Glück den vertrauten Carport. Doch was hatte es mit diesem unheimlichen Wagen auf sich, in dem er jahrelang arglos gespielt hatte? Er musste raus, sofort! Was, wenn plötzlich die Rückbank umkippte und der Bauer aus dem Kofferraum stürzte?

Oder war er vielleicht nur eingeschlafen und in einem absurden Traum gelandet? Sicherheitshalber kniff er sich in den Arm. ›Eigentlich blödsinnig‹, dachte er. ›Kann man sich nicht auch im Traum in den Arm kneifen?‹

Von Heidi und Gianna war nichts zu sehen. Die waren also wirklich Eis essen gegangen und ließen ihn allein im Wagen schmoren. Dann musste er sich irgendwie selbst befreien. So stabil konnte dieses verflixte Klebeband doch nicht sein. Also zog er die Türverriegelung, warf sich so fest er konnte gegen die Tür und landete kopfüber in der Einfahrt.

Heidi und Gianna schreckten auf, als sie das laute Scheppern und Quietschen der Autotür hörten.

»Flo, da bist du ja wieder!«, rief Heidi. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. »Wo warst du denn? Du kannst dich doch nicht einfach so in Luft auflösen! Wir haben uns total Sorgen gemacht.«

Flo war erleichtert, seine Schwester und Gianna wiederzusehen. Und er fühlte Genugtuung, ihnen so einen Schrecken eingejagt zu haben. Das hatten sie jetzt davon, das war ihre gerechte Strafe! Aber wo er gewesen war, konnte er weder sich noch den beiden erklären.

»Habt ihr mich etwa nicht gesehen?«, fragte er und versuchte, so normal wie möglich zu wirken. »Wie blind seid ihr denn?«

»Jetzt sag schon«, schnaubte Heidi, »wo hast du dich versteckt?«

»Ich war die ganze Zeit da drin. Wo soll ich denn sonst gewesen sein?«, antwortete Flo und ging ins Haus, als wäre nichts geschehen.

Doch sobald er außer Sichtweite war, rannte er geradewegs hoch in die Kleine Freiheit. Obwohl er so gut wie jedes Detail auf der Anlage kannte, musste er sich noch mal vergewissern. Es passte alles zusammen. Es war genau das, was er durch die Kofferraumklappe gesehen hatte. Da war die Hochbrücke, der Hubschrauber auf dem Dach des Krankenhauses, die Feuerwehr, die Blaskapelle. Die sanft hügelige Eisenbahnlandschaft, die stark an die Landschaft um Rendsburg herum erinnerte. Bis auf die Berge im Hintergrund, bei denen sein Vater immer sagte, dass so eine Modellanlage ein Abbild der Wirklichkeit sei, halt nur etwas schöner.

Dann fiel sein Blick auf den kleinen Chevi, mit dem er vorhin auf der Modellanlage gespielt hatte. Immer noch stand er mitten auf einer Kuhweide. Und davon völlig unbeeindruckt, melkte ein Bauer neben dem Auto seine Kühe.

Flo schüttelte mit dem Kopf. Entweder hatte er geträumt oder er war auf bestem Wege, komplett verrückt zu werden!


ZU VIEL FANTASIE

»Flohooo, Schnurzelchen. Aufwachen.«

Flo war noch hundemüde. Er hatte wirr geträumt und schlecht geschlafen.

»Mama, nenn mich nicht so«, knurrte er.

»Wenn du jetzt nicht aufstehst, kommst du zu spät in die Schule, mein Schnurzelchen.«

Tanjas Taktik funktionierte. Nach dem zweiten »Schnurzelchen« war Flo wach. Er hasste es, wenn sie ihn so nannte. Verschlafen sackte er am Küchentresen auf seinen Stuhl und trank ein Glas Milch in einem Zug aus.

»So schnell trinken ist ungesund, lass dir das von einer erfahrenen Ärztin gesagt sein«, erklärte ihm seine Mutter.

»Ich hab totalen Durst«, erklärte Flo.

»Milch ist aber nicht zum Durstlöschen. Milch ist ein Nahrungsmittel. Ursprünglich mal für Kälber gedacht, damit die groß und stark werden«, dozierte Tanja.

»Eines Tages wirst du anfangen zu muhen, bei so viel Milch, wie du in dich hineinschüttest«, bemerkte Heidi.

»Dann sprechen wir endlich die gleiche Sprache«, murmelte er und starrte gedankenversunken in sein leeres Glas.

»Träumst du schon wieder? Schmier dein Pausenbrot, du musst gleich los!«, ermahnte ihn seine Mutter.

»Stellt euch mal vor, wir wären alle miniklein. Wie viele Menschen von so einem Glas trinken könnten. Eine Kuh würde für ganz Rendsburg ausreichen.«

»Dann möchte ich aber mal wissen, wie deine Minimenschen so eine Kuh melken wollten. Die kämen ja nicht mal an das Euter ran«, bemerkte Heidi.

»Man könnte bestimmt eine Maschine bauen, die das erledigt. Mit einer Herde Kühe könnte man dann die ganze Menschheit versorgen.«

»Bevor du jetzt Melkmaschinen für gigantische Kühe erfindest, mach dir lieber dein Pausenbrot.«

Lustlos strich Flo Butter auf eine Scheibe. »Und damit könnte man alle Schüler der Welt durchfüttern«, überlegte er laut und versank wieder in seinen Gedanken.

»Nicht einschlafen, schmieren«, drängelte Tanja.

»Kannst du das nicht machen?«

»Flo, du bist kein kleines Kind mehr.«

»Sag ich doch! Wenn das so ist, will ich auch ein Handy haben, wie Heidi.«

»Und wovon träumst du nachts? Ich habe meins auch erst mit 13 gekriegt«, belehrte ihn seine Schwester.

»Misch du dich da nicht ein«, zischte Flo.

»Du bist erst zwölf!«

»Zwölfeinhalb!«

»Streitet euch nicht schon am frühen Morgen. Ich muss los in die Praxis«, sagte ihre Mutter. »Habt ihr eure Hausaufgaben fertig?«

»Klar, Mama«, stöhnten Heidi und Flo im Chor.

»Also dann, bis heute Abend. Und Flo, mach was Gesundes auf dein Pausenbrot.«

»Geht klar, Mama«, stöhnte Flo erneut und tauchte sein Messer in das Glas mit Schokocreme.

»Wow, wahnsinnig gesund«, kommentierte Heidi.

»Ein Meer aus brauner Schokolade, auf dessen Wogen auch die stolzesten Schiffe wie kleine Nussschalen schaukeln …«, sagte Flo und meinte die Schokocreme auf seinem Brot.

»Geht das schon wieder los mit deinen komischen Fantasien? Eines Tages wirst du noch darin hängen bleiben.«

Womöglich hatte sie damit sogar recht! War er nicht gestern in seine eigenen Fantasien geraten? Hatte er nicht das zu sehen geglaubt, was er zuvor auf der Eisenbahnanlage gespielt hatte?

Bevor er zur Schule fuhr, rannte er in die Kleine Freiheit, da er nicht mehr genau wusste, ob er den Chevi zurück ins Regal gestellt hatte.

Unverändert stand der auf der Viehweide neben dem Bauern. Immer noch melkte der seine Kühe. Nichts hatte sich seit gestern verändert. Wie auch? Es waren schließlich alles unbelebte Plastikfiguren. Vielleicht wäre es besser, erst einmal einen großen Bogen um die Anlage zu machen, bis Flo wieder etwas Abstand zu seinen Fantasiewelten gewonnen hätte. Er stellte den kleinen Chevi zurück ins Regal und machte sich auf den Weg zur Schule.

Flo war kein besonders guter Schüler. Im Unterricht träumte er oft, krickelte herum und beteiligte sich kaum. Außerdem war es ihm unangenehm, vor vielen Leuten zu sprechen, und meist wurde er dabei sofort rot im Gesicht. Was die Sache noch unangenehmer machte und seinen Kopf sogar noch röter …

Deutsch war sein Lieblingsfach, am wenigsten mochte er Sport. Er fühlte sich klein und schmächtig neben seinen athletischen Klassenkameraden, die ihn höchstens müde belächelten oder die Augen verdrehten, wenn er beim Fußball mal wieder ins Leere trat. Er war erleichtert, diesen wöchentlichen Termin in den ersten beiden Schulstunden hinter sich gebracht zu haben, zumal Fußball so gar nicht sein Ding war. Abgesehen von Tischfußball, doch den gab es leider nicht im Sportunterricht.

»Gullivers Reisen! Ich hoffe, ihr habt alle die ersten Seiten gelesen«, begann Frau Denkhaus, Flos Deutschlehrerin, mit ihrer etwas zu schrillen Stimme den Unterricht. »Worum geht es in dieser Geschichte? Boris, was meinst du?«

Boris war eine der Sportskanonen und gehörte zur Gruppe der coolen Jungs in der Klasse. Flo hingegen war Vorsitzender im Club der Außenseiter, der nur ein einziges festes Mitglied hatte, nämlich ihn selbst.

»Also? Worum geht es?«, wiederholte Frau Denkhaus.

Boris legte ein charmantes Lächeln auf und sagte voller Überzeugung: »Um einen bösen Riesen, der eine Insel überfällt und dort gegen die Menschen kämpft.«

Die Klasse kicherte über diese etwas eigenwillige Zusammenfassung. Offensichtlich hatte Boris den Text nicht besonders aufmerksam gelesen, wenn überhaupt.

Frau Denkhaus seufzte. Dann blickte sie auf Flo, der gerade kleine Männchen in sein Heft malte. »Florian, was denkst du? Ist Gulliver ein Riese?«

Flo schreckte von seinem Heft auf und sofort schoss ihm das Blut in den Kopf. »Ja … ähm … also, nein. Dieser Gulliver ist überhaupt kein Riese. Der ist ein Seemann, dessen Segelschiff bei einem Sturm untergeht. Er rettet sich auf eine unbekannte Insel, auf der nur kleine Menschen leben. Vielleicht gerade mal um die 15 Zentimeter groß.« Flo warf einen schnellen Blick hinüber zu Boris, der ihn grimmig ansah. »Der ist ein ganz normal großer Mensch und nur für diese kleinen Leute wirkt er so riesig. Ist ja auch eigentlich nur eine Frage des Standpunkts, was groß oder klein ist.«

 

»Genau die richtige Insel für Flo. Dann wäre er endlich einmal der Größte«, raunte jemand aus Boris’ Richtung. Laut genug, dass alle es hören konnten.

»Sehr witzig«, krächzte Frau Denkhaus. »Wahre Größe lässt sich nicht in Zentimetern messen.« Immerhin war sie selbst eine sehr kleine Person und hatte in ihrer Schulzeit sicher viele Bemerkungen darüber ertragen müssen. »Sehr gut, Flo. Und was glaubt ihr, ist das eine realistische Geschichte?«

»Nee, bestimmt nicht. So kleine Menschen gibt es in Wirklichkeit gar nicht«, meinte Melanie.

›Oder wir haben sie einfach noch nicht entdeckt und es gibt sie doch‹, dachte Flo. ›Oder vielleicht bildet sich Gulliver das alles nur ein und am Ende stellt sich heraus, dass er verrückt geworden ist.‹ Seit seinem Erlebnis im Kofferraum des Chevrolets war sich Flo überhaupt nicht mehr sicher, was die Wirklichkeit anbetraf.

In der Pause hatten Flo und Jakob mit Glück einen Platz an einem der Kicker ergattert. Boris lauerte mit seinen Freunden etwas abseits darauf, dass ein Tisch frei wurde. Und um das zu beschleunigen, lästerten sie über Flo.

»Spielt gar nicht so schlecht, der kleine Klugscheißer«, bemerkte Boris. »Ach was, der große Klugscheißer. Ist schließlich alles nur eine Frage des Standpunkts, stimmts? Eigentlich ist er ein Riese.«

Die drei anderen Jungs um Boris feixten gehässig. Boris ging etwas in die Knie und starrte Flo von der Seite an. Flo tat so, als bemerke er ihn nicht. Doch vergeigte er jetzt fast jeden Ball.

»Von Nahem betrachtet, wird jeder zum Riesen. Sieh an, du hast ja Sommersprossen.« Boris sog die Luft ein und hielt sich dann mit gespieltem Ekel die Nase zu. »Aber vielleicht sind das ja überhaupt keine Sommersprossen. Ich hatte ganz vergessen, dass du unter der Eisenbahnbrücke wohnst. Habt ihr da nicht alle braune Flecken im Gesicht? Woher kommen die noch mal?«

Auch die anderen Jungs machten jetzt ein gespielt angewidertes Gesicht.

»Ach ja, jetzt fällts mir wieder ein. Die Zugtoiletten, da war doch was …«

Flo war hundeelend zumute über diese Demütigungen und wäre am liebsten fortgerannt. Aber die Blöße wollte er sich nicht geben.

»Ich hab irgendwie keine Lust mehr«, sagte Jakob schließlich, um Flo aus der Situation zu befreien, und zog ihn mit sich fort. »Ich spiele nicht vor Publikum, das unter meinem Niveau ist«, fügte er etwas lauter hinzu.

Boris ließ ihm diese Bemerkung durchgehen. Lag es an Jakobs Fußballfähigkeiten, dass er ihn einigermaßen respektierte? Oder an Jakobs älterem Bruder, der noch ein bisschen größer war als Boris.

»So, genug gespielt. Schluss jetzt!«, rief Christian. Jakobs älterer Bruder war glücklicher Besitzer eines superschnellen Computers. Hin und wieder ließ er auch Flo und Jakob für eine Weile ran und die nutzten jede Gelegenheit, sich in virtuelle Spielwelten zu versenken.

»Nur noch dieses Rennen zu Ende fahren«, protestierte Jakob.

»Nix da. Ich muss was für die Schule machen.«

»Als ob. Das sagst du immer und dann spielst du doch nur heimlich selbst«, beschwerte sich Jakob.

»Das ist mein Zimmer und mein PC. Da bestimme ich.«

»Und wenn ich Mama erzähle, dass du hier in Wirklichkeit dauernd nur rumdaddelst?«

»Dann wirst du wohl niemals mehr an meinen Computer dürfen.« Christian verschränkte die Arme und sah die beiden mit der Gewissheit an, am längeren Hebel zu sitzen.

Widerwillig legten Flo und Jakob ihre Controller nieder und warfen einen wehmütigen, letzten Blick auf den Bildschirm. Sie schnappten sich eine Schale mit Kirschen aus dem Kühlschrank und gingen auf den Balkon.

Jakob wohnte ganz oben in einem der fünf Hochhäuser am anderen Ende der »Schleife«. Flo war gerne dort, denn man hatte eine wunderbare Aussicht. Von hier oben verstand man sofort, warum der Stadtteil so genannt wurde, denn die Gleise gingen, wie bei einer Modelleisenbahn, einmal in einer riesigen Schleife um ihn herum. Tagsüber war es still auf den Straßen und man sah nur wenige Menschen. Aber jetzt, am frühen Abend, kamen viele Bewohner von der Arbeit nach Hause und es herrschte reger Autoverkehr. Drum herum ratterten die Züge über die Gleise. Unterhalb des Bahndamms reihten sich die schnuckeligen Wohnhäuser. Viele Anwohner waren um diese Uhrzeit mit Gartenarbeit beschäftigt. Andere gingen mit ihren Hunden Gassi. Ein paar Jogger machten Dehnübungen. Es waren Szenen wie auf der Eisenbahnanlage seines Vaters.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Flo. Aus lauter Langeweile spuckten sie Kirschkerne vom Balkon.

»Keine Ahnung. Wir können ein Hörbuch hören«, schlug Jakob vor.

»Keine Lust«, sagte Flo und steckte sich eine Kirsche in den Mund. »Ich versuch mal, den Briefkasten zu treffen.«

»Wir könnten zu dir gehen und ein bisschen in eurem Chevrolet rumsitzen«, schlug Jakob vor, nachdem auch das Kirschkernspucken an Reiz verloren hatte.

Im Wagen spielen, mit diesem unheimlichen Kofferraum? Flo hatte sich doch vorgenommen, nicht wieder zu tief in seine Fantasiewelten zu versinken.

»Nö, keine Lust. Ich muss jetzt sowieso nach Hause, Klavier üben, sonst motzt mein Vater wieder.«

Klavier spielen war eine Möglichkeit, etwas Realistisches zu machen. Verfolgungsjagden in einem alten Auto zu spielen, gehörte eindeutig nicht dazu.

Ein Zug ratterte über die Hochbrücke in Richtung Hamburg, als Flo kurz darauf zu Hause ankam. Auf Klavierspielen hatte er eigentlich gar keine Lust und so setzte er sich erst mal auf die Vorgartenmauer und beobachtete die Ameisen. Eine krabbelte gerade seinen Arm entlang. Es kitzelte, also pustete er sie weg. Was für ein Orkan das für so ein Tierchen sein musste. Doch gleich kamen Dutzende Ameisen hinterhergekrabbelt. Vermutlich saß er mitten auf einer Ameisenstraße und blockierte sie wie ein riesiger Felsbrocken, den es nun zu überwinden galt. Er ging nach hinten in den Garten. Anscheinend war niemand zu Hause. Seine Mutter arbeitete um diese Uhrzeit noch in ihrer Praxis, sein Vater im Laden und seine Schwester hing bestimmt an der Kletterwand. Der Chevrolet stand lauernd unter dem Carport und schien ihn mit seinen Doppelscheinwerfern höhnisch anzugrinsen. Noch nie war es ihm in den Sinn gekommen, dass dieser Wagen eine Art Monster sein könnte, das geduldig auf seine Beute lauerte, bis es plötzlich ein ahnungsloses Opfer verschlang und in einer anderen Welt wieder ausschied.

Seit Ewigkeiten hatte sich sein Vater vorgenommen, den Wagen wieder fahrtüchtig zu kriegen. Doch irgendwie schien er es nicht auf die Reihe zu bekommen, die unzähligen Ersatzteile einzubauen, die in der Garage und im Keller lagerten.

Flo klopfte gegen das schwere Blech der Karosserie. »Es ist ein Auto, nichts weiter«, sagte er immer wieder, wie um sich selbst zu beruhigen. Es war völlig unmöglich, durch den Kofferraum in eine andere Dimension zu gelangen. Was war nur mit ihm los, dass er sich so wirre Sachen ausdachte? Und dass die ihm dann auch noch wie Wirklichkeit vorkamen. So wie Robbi, der ständig mit jemand Unsichtbarem redete. Würde er auch mal so enden? Gefangen in seiner eigenen Welt? Wenn doch alles vom Kofferraum aus so echt ausgesehen hatte, war das dann nicht ein eindeutiges Zeichen dafür, dass er verrückt war?

Pubertät, würde seine Mutter wahrscheinlich sagen, da können schon mal merkwürdige Dinge vorkommen. Flo betrachtete den Wagen und rang mit dem Gedanken, es noch einmal zu versuchen. Er brauchte die Gewissheit, dass er nur geträumt hatte, sonst würde er ewig an seinem Verstand zweifeln. Vorsichtig öffnete er den Kofferraum. Er sah ganz normal aus, riesengroß und bis auf ein paar Werkzeuge und Schrauben vollkommen leer. Verstohlen blickte er sich um, ob ihn auch niemand beobachtete. Dann öffnete er die hintere Tür und stieg in den Wagen. Die Luft war stickig und roch wie immer etwas moderig, nach einer Mischung aus Leder, Motoröl und Kunststoff. Vorsichtig legte er die Rückenlehne um und spähte in den dunklen Kofferraum. Er konnte nichts Verdächtiges feststellen. Der gleiche Kofferraum wie von außen, mit ein paar Werkzeugen und einer Schachtel Schrauben. Sein Puls schlug wie eine Trommel, als er hineinkrabbelte. Wie beim ersten Mal zog er die Rückenlehne wieder in die aufrechte Position und saß einen Augenblick im Dunkeln. Dann hob er langsam die Haube an, nur einen Spaltbreit. Womöglich wartete der Bauer ja noch auf die Gelegenheit, ihn aus dem Auto zu zerren. Doch er konnte keinen Bauern entdecken. Auch keine Kühe. Er hob den Deckel weiter an, wagte es kaum, genauer hinzuschauen. Er blinzelte und erblickte die Einfahrt, ein Stück vom Vorgarten, die Haustür unter dem Vordach. Sein Zuhause!