30 Jahre Deutsche Einheit – eine Bilanz

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„MEIN ZIEL BLEIBT – WENN DIE GESCHICHTLICHE STUNDE ES ZULÄSST – DIE EINHEIT UNSERER NATION“

Einige Fragen sind bereits überholt, als das Institut für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften der DDR, das Bielefelder Emnid-Institut und die Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen in der ersten Dezemberwoche 1989 im Auftrag von „Spiegel“ und ZDF 1.032 wahlberechtigte Männer und Frauen in allen 15 Bezirken der DDR nach ihrer Meinung befragen – Fragen zu Staats- und Parteichef Egon Krenz erübrigen sich, er ist nach nur 50 Tagen schon wieder weg, der neue SED-Parteichef Gregor Gysi dagegen ist in den Fragebögen noch gar nicht erfasst. Während 48 Prozent der Befragten auf die Frage, welche Partei sie wählen würden, mit „Weiß ich noch nicht“ antworten, haben sie zur wirtschaftlichen Lage der DDR eine glasklare Meinung: 82 Prozent der Befragten halten sie für „schlecht“ oder „sehr schlecht“. Ebenso deutlich äußern sie sich auch zur Zukunft der DDR: Lediglich 27 Prozent sprechen sich dafür aus, dass die DDR „mit der BRD einen gemeinsamen Staat bildet“, 71 Prozent meinen, die DDR solle „ein souveräner Staat bleiben“.149

Nur einen Tag nachdem der „Spiegel“ diese Ergebnisse am 18. Dezember publiziert hat, fliegt Bundeskanzler Helmut Kohl erstmals nach der Maueröffnung in die DDR, um in Dresden mit Ministerpräsident Hans Modrow über die Zukunft der beiden Staaten in Deutschland zu sprechen. Von einer Begegnung mit dem SED-Generalsekretär in Ost-Berlin hatte der sowjetische Botschafter in Bonn Juli Kwizinski dem Vizekanzleramtschef Horst Teltschik im Vorfeld abgeraten: „Der Bundeskanzler möge sich nicht mehr mit Krenz treffen, denn der werde den nächsten Parteitag der SED nicht überleben.“150 So kommt es auch: Krenz tritt am 3. Dezember als Parteichef, am 6. Dezember als Staatsratsvorsitzender zurück. Modrow ist seit dem 13. November letzter Vorsitzender des Ministerrates und Regierungschef. „Es war sehr still im Flugzeug“, erinnert sich Dorothee Wilms, Ministerin für innerdeutsche Angelegenheiten, an den Hinflug.151 „Kohl hat nochmal alle ermahnt, dass wir alle das Unsrige tun sollten, damit es nicht zu einer explosiven Stimmung in Dresden kommen würde.“

Die Erwartungen an die Begegnung mit Modrow sind gering, denn am 3. Oktober hatte er als Dresdner SED-Chef unter dem Code „Filter II“ 1.320 bei Durchfahrt der Flüchtlingszüge aus Prag demonstrierende Dresdner festnehmen und zehn Tage darauf den detaillierten Geheimplan „Badeofen“ zur Unterdrückung der Bürgerunruhen vorbereiten lassen. „Modrow hatte einen Entwurf für eine gemeinsame Pressemitteilung übermittelt“, erinnert sich Teltschik.152 „Sie enthielt keinen einzigen neuen Gesichtspunkt und war völlig unbefriedigend.“ Auch die Begegnung bleibt ergebnislos: „Das Gespräch war tief enttäuschend, weil wir – ich war bei diesem Gespräch dabei – nicht den Eindruck hatten, dass Modrow den Ernst der Situation in der DDR erkannt hatte. Er war nicht in der Lage, dem Bundeskanzler zu erläutern, ob und welche Reformen er durchführen wolle, weder auf der wirtschaftlichen Basis noch auf der politischen.“153

Kohls Ansprache vor der Ruine der Frauenkirche wird dagegen zu einem Schlüsselereignis auf dem Weg zur Deutschen Einheit: „Als ich mit meinen Begleitern auf der holprigen Betonpiste des Flughafens Dresden-Klotzsche landete, wurde mir schlagartig bewusst: Dieses Regime ist am Ende. Die Einheit kommt!“, schreibt Kohl in seinen „Erinnerungen“.154 „Tausende von Menschen erwarteten uns auf dem Flughafen, ein Meer von schwarzrotgoldenen Fahnen wehte in der kalten Dezemberluft.“ Im Schritttempo fahren Modrow und Kohl die zehn Kilometer zum Hotel Bellevue, Tausende säumen die Straßen: „Mit Kohl zur Einheit Deutschlands“ und „Bundesland Sachsen grüßt den Bundeskanzler“ steht auf ihren Transparenten, „SED – das tut weh, Helmut Kohl – das tut wohl“ skandieren sie. „Belegschaften von Betrieben in blauen Drillichanzügen, Frauen, Kinder, ganze Schulklassen, auffallend viele junge Menschen“ beobachtet Teltschik.155 „Sie klatschen, winken mit großen weißen Tüchern, lachen, freuen sich; viele stehen aber auch einfach nur am Straßenrand und weinen. Freude, Hoffnung, Erwartung drücken sich in ihren Gesichtern aus, aber auch Bangigkeit, Unsicherheit, Zweifel.“

Der anschließende Gang zu den von Scheinwerfern angestrahlten Mauerresten der Frauenkirche führt durch Zehntausende von Menschen, die sich zur Kundgebung des Bundeskanzlers eingefunden haben. Kohl ist bewusst, dass diese Rede in der ganzen Welt gehört wird, insbesondere aber in Moskau, London und Paris; seit seinem lediglich mit US-Präsident George Bush abgestimmten Zehn-Punkte-Programm achten drei der vier Siegermächte argwöhnisch auf jeden falschen Zungenschlag des Kanzlers. „Während der Rede Helmut Kohls stehe ich am Rande der Menge inmitten junger Leute“, blickt Teltschik zurück.156 „Während die Massen vor dem Rednerpult überschäumen und zahllose bundesdeutsche Fahnen schwenken, sind die Menschen hier sehr ruhig. Sie hören konzentriert zu, ihre Gefühle sind schwer auszumachen. Sie klatschen immer wieder Beifall, doch die Gesichter bleiben sehr ernst.“


19. Dezember 1989: Kanzler Kohl hält vor den Trümmern der Dresdner Frauenkirche seine historische Rede.

Der Bundeskanzler spricht frei, im Vorbereitungsgespräch mit Kanzleramtschef Rudolf Seiters und Teltschik am Abend zuvor hat er sich mit seinem dicken schwarzen Stift lediglich Notizen gemacht: „Meine sehr verehrten Damen und Herren, meine lieben jungen Freunde, liebe Landsleute!“157 Beifall brandet auf. „Das erste, was ich Ihnen allen zurufen will, ist ein herzlicher Gruß all Ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger aus der Bundesrepublik Deutschland. Das zweite, was ich sagen möchte, ist ein Wort der Anerkennung und der Bewunderung für diese friedliche Revolution in der DDR. Es ist eine Demonstration für Demokratie, für Frieden, für Freiheit und für die Selbstbestimmung unseres Volkes. Und, liebe Freunde, Selbstbestimmung heißt für uns – auch in der Bundesrepublik –, dass wir Ihre Meinung respektieren. Wir wollen und wir werden niemanden bevormunden. Wir respektieren das, was Sie entscheiden für die Zukunft des Landes. Ich bin heute hierhergekommen zu den Gesprächen mit Ihrem Ministerpräsidenten, Hans Modrow, um der DDR in dieser schwierigen Lage zu helfen. Wir lassen unsere Landsleute in der DDR nicht im Stich. Wir wissen, wie schwierig dieser Weg in die Zukunft ist. Wir wollen vor allem auf dem Felde der Wirtschaft eine möglichst enge Zusammenarbeit mit dem klaren Ziel, dass die Lebensverhältnisse hier in der DDR so schnell wie möglich verbessert werden. Und auch das lassen Sie mich hier auf diesem traditionsreichen Platz sagen: Mein Ziel bleibt – wenn die geschichtliche Stunde es zulässt – die Einheit unserer Nation. Es ist ein schwieriger Weg. Das ‚Haus Deutschland‘ – unser gemeinsames Haus – muss unter einem europäischen Dach gebaut werden. Das muss das Ziel unserer Politik sein. Ich wünsche Ihnen und uns allen ein friedvolles Weihnachtsfest, ein glückliches Jahr 1990. Gott segne unser deutsches Vaterland!“ Eine ältere Frau steigt zum Bundeskanzler aufs Podium, umarmt ihn und beginnt zu weinen. „Wir alle danken Ihnen!“, sagt sie mit leiser Stimme, doch da die Mikrofone noch eingeschaltet sind, kann jeder auf dem Platz es hören.

Kohl trifft mit seiner Dresdner Rede den richtigen Ton. Selbst der konstant Kohl-kritische „Spiegel“ würdigt den Kanzlerauftritt: „Bei seinem ersten offiziellen DDR-Besuch brach Kohl mit einer als historisch geltenden Rede die Herzen der Ostdeutschen. Zwar förderte er ihre Hoffnung, dass die Wiedervereinigung eines Tages kommen werde, aber er machte, und das war wichtig und richtig, dem DDR-Volk keine falschen Hoffnungen. Er sagte, dass der Weg zur Einheit lang und schwierig sein werde.“158

Mit lauten „Helmut, Helmut“-Rufen wird Kohl auch begrüßt, als er sich drei Tage darauf bei eisigen Temperaturen und strömendem Regen den Weg durch die Menschenmassen zum Brandenburger Tor bahnt. Begleitet vom Regierenden Bürgermeister Walter Momper, Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, FDP-Chef Otto Graf Lambsdorff und Kanzleramtsminister Rudolf Seiters, trifft er am Tor Hans Modrow und den Ost-Berliner Bürgermeister Erhard Krack, die dort bereits auf ihn warten. Drei Tage zuvor hatten Kohl und Modrow in Dresden vereinbart, dieses geschichtsträchtige deutsche Nationalsymbol nach 28 Jahren für Fußgänger zu öffnen. Um 0.39 Uhr in der Nacht vom 21. auf den 22. Dezember hatte daraufhin ein Kranwagen des Grenzkommandos Mitte der DDR-Grenztruppen das erste Betonsegment aus der Mauer gehoben. „Nachdem Modrow und ich uns für die unzähligen Fotoreporter die Hand gereicht hatten, ließen wir zwei weiße Tauben fliegen, die uns junge Ost-Berliner Künstler zuvor gereicht hatten“, erinnert sich Kohl.159 Den Satz „Die Deutsche Frage ist offen, solange das Brandenburger Tor geschlossen ist“ hatte Richard von Weizsäcker, von 1981 bis 1984 Regierender Bürgermeister und von 1984 bis 1994 Bundespräsident, einst geprägt – nun ist das Tor offen.

DER STURM AUF DIE TRUTZBURG DER STASI

Anfang Dezember 1989 hatten sich in der gesamten DDR sogenannte Bürgerkomitees gebildet, um die Bezirksverwaltungen und Kreisdienststellen des MfS zu besetzen, gemeinsam mit den Staatsanwaltschaften Räume und Stahlschränke zu versiegeln, in „Sicherheitspartnerschaften“ mit der Volkspolizei die Gebäude zu schützen und auf diese Weise die Aktenvernichtung zu verhindern. Am 4. Dezember wird in Erfurt in einer spontanen Aktion die erste Bezirksverwaltung des MfS besetzt, und immer weitere Bezirksverwaltungen folgen. In der Berliner Zentrale des Amtes für nationale Sicherheit (AfNS), wie das MfS seit dem 17. November heißt, hat sich strukturell dagegen wenig verändert; zwar steht Erich Mielke seit dem 5. Dezember in der Waldsiedlung Wandlitz unter Hausarrest, doch sein Stellvertreter Generalleutnant Wolfgang Schwanitz, seit dem 18. November Leiter des AfNS, lässt ungestört die Akten seines Bereiches schreddern und hofft, einen Teil des Apparates in die Nachfolgeorganisationen Verfassungsschutz und Nachrichtendienst hinüberretten zu können. Von den ursprünglich 85.000 hauptamtlichen Mitarbeitern sind bereits 30.000 entlassen und 20.500 in andere Erwerbstätigkeiten vermittelt worden. Von den verbliebenen 34.500 MfS-Angestellten sollen 20.000 alsbald freigesetzt werden, 14.500 Mitarbeiter brauche man zur beschleunigten Auflösung des Amtes, heißt es seitens der Regierung Modrow.

 

Auch nach Öffnung der Mauer versteht sich Schwanitz als Schild und Schwert der Partei; Ende November erklärt er in einer geheimen Besprechung, er betrachte es als Aufgabe des AfNS, Regierung und Parteiführung wirksam dabei zu unterstützen, gefährliche Entwicklungen in der Gesellschaft zu stoppen. Also ordnet er an, die Bürgerrechtsbewegung mit Informellen Mitarbeitern zu infiltrieren; viele der dort handelnden Personen kennt Schwanitz bereits aus seiner früheren Zuständigkeit für operative Sicherstellung und Technik des MfS: So hatte er Bärbel Bohley, Vera Lengsfeld und Rainer Eppelmann im Oktober 1983 der Polizei zuführen lassen, um deren Protestaktion gegen Atomrüstung zu unterbinden. Als der für die Auflösung des AfNS zuständige Regierungsbeauftragte Peter Koch dem Zentralen Runden Tisch in seinem ersten Bericht am 8. Januar 1990 wesentliche Informationen schuldig bleibt, fordern die Vertreter der oppositionellen Gruppen die Regierung Modrow auf, bis zum 15. Januar einen Stufenplan zur vollständigen Auflösung des AfNS vorzulegen. Doch Modrow zögert, erklärt am 11. Januar in einer Regierungserklärung, der Geheimdienst sei unverzichtbar, und löst damit eine Regierungskrise aus: Erst als die sich nun emanzipierenden Blockparteien CDU und Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD) die Aufkündigung der Koalition androhen, lenkt Modrow ein. Noch am selben Tage trifft er sich mit der Spitze des AfNS, Schwanitz wird noch am 11. Januar entlassen. Wie aus den Aufzeichnungen eines Teilnehmers hervorgeht, kommt die Runde überein, sich gegenüber dem Runden Tisch von der „verfehlten Sicherheitspolitik“ des MfS zu distanzieren und die Arbeit der Inoffiziellen Mitarbeiter auf dem Territorium der DDR einzustellen.

Am 15. Januar erstattet die Regierung dem Runden Tisch im Beisein des Ministerpräsidenten Bericht über den Stand der Auflösung, als sich die Information verbreitet, vor der AfNS-Zentrale in der Normannenstraße werde demonstriert. Fünf Tage zuvor hatte das Neue Forum dazu aufgerufen, um 17 Uhr Kalk und Mauersteine mitzubringen, um die Eingänge der AfNS-Zentrale symbolisch zuzumauern, so wie dies im Dezember 1989 unter anderem in Erfurt geschehen war. Unabhängig davon hatte das „Bürgerkomitee Berlin“ beschlossen, am selben Tage bis 15 Uhr in der AfNS-Zentrale in der Normannenstraße in Berlin-Lichtenberg Räume und Stahlschränke gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft zu versiegeln und die Gebäude in einer „Sicherheitspartnerschaft“ mit der Volkspolizei zu schützen.


15. Januar 1990: Demonstranten stürmen die Stasi-Zentrale.

Das AfNS ist gut vorbereitet, als das Bürgerkomitee an der Haustür klingelt. Generalleutnant Günter Möller, Leiter der Hauptabteilung Kader und Schulung und früher Mielkes wichtigster Mann, hat bereits einige Räume „aus Gründen des Quellenschutzes“ versiegeln lassen und mittags die gesamte Truppe bis auf einige wenige „befähigte Angehörige, die im Falle von Objektbegehungen sachkundig Auskunft geben können“, nach Hause geschickt. Militärstaatsanwaltschaft und Volkspolizei sind auch schon vor Ort, als die Vertreter des Bürgerkomitees anstandslos eingelassen werden.

In Leipzig hatte die Abstimmung zwischen dem dortigen Bürgerkomitee und den Montagsdemonstranten am 4. Dezember 1989 gut funktioniert, dort war die Übergabe der einstigen MfS-Bezirksverwaltung „Runde Ecke“ ans Bürgerkomitee bereits erfolgt, als der Demonstrationszug vor dem AfNS-Gebäude aufzog. In Berlin haben sich Bürgerkomitee und Neues Forum dagegen nicht abgestimmt. Während drinnen das Bürgerkomitee eine geordnete Übergabe verhandelt, treffen draußen 100.000 Demonstranten zur „Aktionskundgebung“ des Neuen Forums ein. Von den Aktivitäten des Bürgerkomitees wissen die Demonstranten nichts, sie drängen auf Einlass in die vermeintlich immer noch unzugängliche Trutzburg. Schließlich wird der Druck auf das Eingangstor in der Ruschestraße so groß, dass der katholische Pfarrer Martin Montag vom Bürgerkomitee der Bezirke den Objektkommandanten Volkspolizei-Major Rögner auffordert, das Tor zu öffnen. Doch ein über das Tor gekletterter Demonstrant kommt Rögner zuvor. Tausende stürmen daraufhin in den riesigen Komplex mit seinen Dutzenden von Gebäuden, ins Innere dieser „verbotenen Stadt“. Doch die Stasi-Mitarbeiter haben eine falsche Spur gelegt und Versorgungstrakt und Poststelle hell beleuchtet, während weitaus wichtigere Räume unbeachtet im Dunkeln liegen. Und so verwüsten die aufgebrachten Demonstranten in ihrer Wut auf den Stasi-Repressionsapparat die falschen Räume.

Drei Tage darauf beauftragt Modrow Generalmajor Heinz Engelhardt, seit Dezember 1989 Leiter des neu gegründeten Verfassungsschutzes der DDR, das AfNS ersatzlos „in allen seinen Gliederungen aufzulösen“. Auf Initiative seiner Arbeitsgruppen „Sicherheit“ und „Recht“ fasst der Zentrale Runde Tisch den folgenschweren Beschluss, die Auflösung der am 15. Januar unversehrt gebliebenen Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) vertrauensvoll in die Hände der Mitarbeiter zu legen, was diese naheliegenderweise nutzen, um ihre „Politik der Reißwölfe“ mit Feuereifer fortzuführen. Von November 1989 bis Mitte Januar 1990 schaffen die Mitarbeiter des DDR-Auslandsnachrichtendienstes über 100 mit Akten beladene Lastwagen in eine Papiermühle. Nach der Besetzung der MfS-Zentrale am 15. Januar ändern sich jedoch auch in der Hauptverwaltung Aufklärung die Arbeitsbedingungen: Fortan tragen die Mitarbeiter das verbliebene Material in wenigen Räumen zusammen und schreddern es Tag und Nacht; besonders brisante Unterlagen werden zunächst zerschnipselt und in Säcken eingelagert. Im Februar wird mit Zustimmung des Bürgerkomitees vor Ort sogar die Verkollerungsmaschine wieder in Gang gesetzt. „Trotz dieses Vernichtungsfeldzuges blieben zentrale Findhilfsmittel erhalten – ca. 13.000 der ehemals 63.000 geführten Vorgänge“, heißt es in einer Dokumentation der Bundesbehörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU).160 „Kopien bzw. Abschriften dieser Karteien haben den Namen ‚Rosenholz‘ erhalten. Ein Name, den ein Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz aus drei Bezeichnungen, die jeweils mit dem Buchstaben ‚R‘ begannen, auswählte.“

Generaloberst Werner Großmann, von 1986 bis 1990 stellvertretender Minister für Staatssicherheit und als Nachfolger von Markus Wolf Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung, äußert sich im September 2015 ausführlich zu den Akten: „Die Amerikaner kamen in den Besitz von Unterlagen, die sie ‚Rosenholz‘ nannten. Dadurch konnten viele – nicht alle – Quellen enttarnt werden. Es gibt nicht wenige Kundschafter und IM, die bis heute unerkannt blieben und wohl auch für immer unentdeckt bleiben werden. Allerdings gab es in der Endphase auch Verräter, die wichtige Quellen an bundesdeutsche Dienste verrieten und somit zu deren Verhaftung und Verurteilung beitrugen. Diesen Verrätern gilt unverändert meine tiefe Verachtung. Bei den ‚Rosenholzunterlagen‘ sollte man beachten, dass dies eine Registratur bis Ende 1988 ist, also keine Endregistratur. Daraus kann geschlossen werden, dass die Entwendung dieses Materials mindestens ein Jahr vor Ende des Dienstes erfolgt sein muss. Mit dem sogenannten Sturm auf das MfS im Januar 1990 hat das also nichts zu tun, wie oft spekuliert wird. Zudem war damals das Gebäude der HV A davon überhaupt nicht betroffen.“161

Als der im Januar 1990 vom Zentralen Runden Tisch zur AfNS-Auflösung eingesetzte Regierungsbevollmächtigte Werner Fischer, Mitbegründer der Initiative für Frieden und Menschenrechte, in der letzten Sitzung des Runden Tisches am 12. März 1990 seinen Abschlussbericht über den aktuellen Stand der Auflösung vorträgt, weiß er noch nicht, dass seine Mutter jahrelang detaillierte Berichte über ihn ans MfS geliefert hat; dies erfährt er erst 2001 aus neu aufgefundenen, erhalten gebliebenen Akten.

„KOMMT DIE DM, BLEIBEN WIR …“

Um die „Stabilität der inneren Entwicklung zu fördern“, wählt die SED-dominierte Volkskammer am 5. Februar 1990 acht neue Minister aus den Oppositionsgruppen in die von Hans Modrow geführte Regierung. Einen Geschäftsbereich haben Tatjana Böhm (Unabhängiger Frauenverband), Rainer Eppelmann (Demokratischer Aufbruch), Sebastian Pflugbeil (Neues Forum), Matthias Platzeck (Grüne Partei), Gerd Poppe (Initiative für Frieden und Menschenrechte), Walter Romberg (SPD), Klaus Schlüter (Grüne Liga) und Wolfgang Ullmann („Demokratie Jetzt“) in dieser „Regierung der nationalen Verantwortung“ nicht. Kurz zuvor hatten die drei CDU-Politiker Lothar de Maizière, Minister für Kirchenfragen, Gerhard Baumgärtel, Minister für Bauwesen und Wohnungswirtschaft, und Klaus Wolf, Minister für Post und Fernmeldewesen, ihren Rücktritt erklärt. Bundeskanzler Helmut Kohl hatte keinen Hehl daraus gemacht, was er von der Regierungsbeteiligung der Ost-CDU hält: „Ich hielt den Eintritt der ‚Blockparteien‘ in die Regierung für falsch, zumal de Maizière die Wirtschaftslage als völlig hoffnungslos charakterisierte.“162

Von einer „Stabilisierung der inneren Entwicklung“ kann ohnehin keine Rede sein, im Gegenteil: Der Erosionsprozess der DDR beschleunigt sich. Hatten 1989 insgesamt 344.000 Übersiedler der DDR den Rücken gekehrt, 200.000 von ihnen jünger als 30 Jahre, so sind es allein im Januar 1990 über 58.000; die Abwanderung führt zu irreparabler Auszehrung. „Die Sorge über die sprunghaft steigenden Zahlen wächst“, notiert Kanzlerberater Horst Teltschik.163 „Der Kanzler weist darauf hin, dass angesichts der unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen beider deutscher Staaten, die um ‚ein Lichtjahr‘ auseinanderlägen, Opfer von einer Größenordnung erforderlich seien, die man nur mit dem Lastenausgleich nach dem Krieg vergleichen könne.“ Die Regierung Modrow beziffert das Haushaltsdefizit auf fünf bis sechs Milliarden Mark und ruft die Bevölkerung in ihrer Ratlosigkeit auf, mehr und effektiver zu arbeiten – doch Anfang 1990 sind 47 Prozent der industriellen Produktionsanlagen in der DDR verschlissen, in der Bauwirtschaft sogar 70 Prozent des Maschinenparks schrottreif. Regionale Verwaltungen lösen sich auf, Betriebe werden bestreikt, die Volkspolizei weicht als Autorität zurück. Ohne externe Hilfe, das wird der Regierung Modrow klar, ist die DDR am Ende. Am 22. Januar gehen erneut 100.000 Leipziger auf die Straße, und deren Forderungen sind eindeutig: „Nieder mit der SED!“, „Deutschland einig Vaterland“ und „Kommt die DM, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr!“164

Der politische Preis für eine getrennte Zukunft ist der Bundesregierung zu hoch: „Ein Nebeneinander zweier Wirtschaftssysteme und zweier Währungen hätten wir nur stabilisieren können, indem wir von bundesdeutscher Seite eine Zollgrenze eingeführt und den Status der Ostdeutschen als vollwertige Bundesbürger mit allen Rechten abgeschafft hätten“, sagt Thilo Sarrazin, damals Referatsleiter „Nationale Währungsfragen“ im Bundesfinanzministerium.165 Mitte Dezember 1989 hat er in Ost-Berlin mit seinem Vorgesetzten, Finanzstaatssekretär Horst Köhler, einer von DDR-Finanzminister Walter Romberg angeführten ostdeutschen Delegation gegenübergesessen. Köhler fragt nach dem Finanzstatus der DDR, woraufhin ihm Herta König, Leiterin der Abteilung 1 im Finanzministerium der DDR, zwei Bögen Papier überreicht, die Aufstellung über die interne Verschuldung in der DDR und die Aufstellung über deren Auslandsschulden. „Horst Köhler gab die beiden Seiten an mich weiter“, erinnert sich Thilo Sarrazin an jene Szene.166 „Es war ein kurzes Schweigen im Raum. Ich weiß nicht, ob alle auf der westdeutschen Seite es in diesem Augenblick begriffen: Die Übergabe dieser höchst geheimen Daten war wie die Übergabe des Festungsschlüssels bei einer mittelalterlichen Kapitulation. Die DDR-Seite hatte damit die finanzielle Verantwortung an uns abgegeben.“

 

In Abstimmung mit Horst Köhler macht sich Sarrazin daran, ein Konzept für eine Währungsunion zu entwerfen. „Am letzten Januar-Wochenende setzte ich mich, ‚bewaffnet‘ mit zwei Taschen voller Akten, an meinen häuslichen PC, und am Sonntag gegen 17 Uhr kam ein 16-seitiger Vermerk aus meinem Drucker, der gleichsam zur Blaupause für die Währungsunion werden sollte“, erinnert sich Sarrazin.167 „Wir übernehmen die DDR in den westdeutschen Währungsraum, damit haben die Bürger der DDR eine kaufkräftige Währung. Umgekehrt entwickelt sich die DDR zur Marktwirtschaft weiter und gibt dafür ihre wirtschaftliche Souveränität auf.“ Sarrazin geht in seinen „Gedanken zu einer unverzüglichen Einbeziehung der DDR in den DM-Währungsraum“ von vorneherein von einer 1 : 1-Umstellung aus: „Das durchschnittliche Bruttoeinkommen eines Arbeitnehmers betrug damals in Westdeutschland 2.800 DM, während in der DDR der durchschnittliche Monatslohn bei etwa 1.300 DDR-Mark lag. Das Verhältnis der Bruttoeinkommen entsprach damit recht genau dem der Produktivität, die damals in der DDR etwa 40 Prozent der unsrigen ausmachte. Außerdem zeigten die Warenkorb-Berechnungen, dass dies auch von der Binnenkaufkraft her stimmte. Zwar kostete ein Wartburg 30.000 DDR-Mark und ein Farbfernseher 5.000 DDR-Mark, aber dafür waren Mieten, Energie und Brot billig. Letztlich konnte man mit 1.300 DDR-Mark seine Familie in der DDR etwa so gut über die Runden bringen wie im Westen mit 1.300 DM. Ein schlechterer Kurs als 1 : 1 hätte den Lebensstandard der ostdeutschen Arbeitnehmer deutlich sinken lassen.“

Mit diesem Konzept ist er der Entwicklung um Monate voraus: „Deshalb war mir strikt untersagt, mit anderen über dieses brisante Thema zu reden“, sagt Sarrazin.168 Alternativ entwickelt das Bundesfinanzministerium zwar auch Stufenpläne über zwei, vier, sechs und acht Jahre, doch für die entscheidende Herausforderung stellen diese keine Lösung dar: „Solche Stufenpläne wären nicht realistisch gewesen“, betont der damalige Bundesfinanzminister Theo Waigel.169 „Wir hätten damit die Abwanderung der Menschen von Ost nach West nicht stoppen können.“ Anfang Februar macht die Bundesregierung das Sarrazin-Papier zum Masterplan.

Es ist der zweite Alleingang des Bundeskanzlers; am 28. November 1989 hatte er seinen liberalen Koalitionspartner Hans-Dietrich Genscher und drei der vier Siegermächte mit seinem unabgestimmten Zehn-Punkte-Programm düpiert, am 6. Februar 1990 stößt er mit seiner öffentlichen Ankündigung, am 1. Juli komme die DM zum Kurs 1 : 1 in die DDR, sämtliche Wirtschaftsexperten, allen voran den Bundesbankpräsidenten, vor den Kopf. „Politisch und ökonomisch, meine Damen und Herren, bedeutet dieses Angebot der Bundesregierung, dass wir bereit sind, auf ungewöhnliche, ja revolutionäre Ereignisse unsererseits eine ungewöhnliche, und wenn Sie es ökonomisch betrachten, auch revolutionäre Antwort zu geben“, betont Kohl an jenem 6. Februar vor der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.170 „Wenn es gelingt, einen geringen Teil unseres Handelsüberschusses in Höhe von gut 130 Milliarden DM in die DDR umzulenken, wenn es gelingt, einen kleinen Teil unseres jährlichen Kapitalexports in Höhe von 100 Milliarden DM für die DDR nutzbar zu machen – dann wird dies bereits ausreichen, um dort einen starken wirtschaftlichen Anschub zu bewirken.“171

Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl, seit 1980 Wächter über die DM, hatte am 5. Februar, einen Tag vor Kohls öffentlicher Ankündigung, von Finanzminister Theo Waigel über die Pläne der Bundesregierung informiert werden sollen. „Waigel behauptete damals, er habe Pöhl sehr wohl informiert, Pöhl dagegen behauptete, er sei nicht informiert worden“, berichtet Thilo Sarrazin 20 Jahre später.172 „Waigel erzählte mir, er habe es Pöhl vorsichtig beibringen wollen: ‚Herr Pöhl, es kann eine politische Situation kommen, wo die Bundesregierung sagen muss: Kobra, übernehmen Sie.‘ Diese Umschreibung mit dem Titel einer seinerzeit populären Krimiserie hat Pöhl offenbar nicht verstanden.“ Entsprechend fällt die Antwort des Bundesbankpräsidenten aus, als er tags darauf am Rande seines Besuches bei der DDR-Staatsbank von einem ARD-Team gefragt wird, ob er sich eine Währungsunion mit der DDR vorstellen könne: „Diese Idee halte ich für sehr fantastisch, und ich glaube, dass es eine Illusion ist, wenn man sich vorstellt, dass durch die Einführung der DM in der DDR auch nur eines der Probleme, die die DDR hat, gelöst würde.“173


Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl: „sehr fantastische Idee“